Zürich, Opernhaus: ROMÉO ET JULIETTE, 13.04.2023
Drame-lyrique in fünf Akten | Musik: Charles Gounod | Libretto: Jules Barbier und Michel Carré, nach Shakespears Tragödie | Uraufführung: 27. April 1867 in Paris | Aufführungen in Zürich: 10.4. | 13.4. | 16.4. | 22.4. | 25.4. | 28.4. | 4.5. | 7.5. | 13.5. | 18.5.2023
Kritik:
TAUBENBLAUE ÖDNIS ...
Nicht schon wieder, denkt man beim Betreten des Zuschauersaals mit dem Blick auf die offene Bühne. Nicht schon wieder leere, schmucklose Wände im Geviert, dazu die obligaten Stühle, hier in zwei symmetrischen Reihen aufgestellt, die ganze Bühnentiefe bis zur Rückwand ausnutzend. Es fehlt nur noch eine Uhr an der Wand und man hätte alle Grundingredienzen zeitgenössischer Musiktheaterbühnenästhetik auf der Bühne des Opernhauses vereint. Andrew Liebermanns Bühnenbild löst also erstmal leichte Verstimmung aus - doch mit dem ersten, so unfassbar tragisch aufgeladenen Tutti-Akkord aus dem Orchestergraben stellt sich beim Betrachter ein WOW - Effekt ein, die Aufführung gerät zum spannungsgeladenen Ereignis.
... MIT PACKENDER FÜLLUNG
Der Regisseur Ted Huffman und der Choreograf Pim Veulings lassen das kurze Vorspiel mit der dramatischen, langsamen Einleitung und dem anschliessenden Fugato des Orchesters mit einer atemberaubenden, fesselnden Exaktheit ablaufen, führen über zur an das griechische Tragödien-Vorbild angelehnten Introduktion durch den statisch kommentierenden Chor (inklusive aller Darsteller der Einzelrollen). Das ist dermassen packend gemacht, dass man sofort in Gounods kongeniale Vertonung des unsterblichen ROMEO-UND-JULIA-STOFFES hereingezogen wird - und darin beinahe atemlos verharrt. Huffman sieht das Ganze als eine Geschichte aus dem amerikanischen Umfeld (vielleicht der Südstaaten oder des Mittleren Westens) der 50er Jahre. Konservativ, patriarchal geprägt, der leere Raum mit den taubenblauen Wänden könnte durchaus das Versammlungslokal einer kirchlichen Gemeinschaft darstellen. Hier findet der die Oper eröffnende Debütantinnenball statt (Huffman spricht im Interview von der Tradition des amerikanischen Cotillions, bei welchem Debütant*innen in die Gesellschaft eingeführt wurden). Graf Capulet fungiert als Zeremonien- und Tanzmeister, lässt die Gäste seines Balles auf den Stuhlreihen Platz nehmen, die Damen rechts, die Herren links und führt die Paare für den eröffnenden Walzer zusammen. Mit wunderbar sattem Bass singt David Soar diese autoritär-patriarchale Vaterfigur. Huffmans phänomenale Personenführung lässt sich bereits in dieser Eröffnungsszene beobachten (noch intensiver erlebt man sie, wenn man sich die Aufzeichnung der Premiere auf ARTE mit ihren vielen Nahaufnahmen ansieht). Nach und nach führt Gounod die Protagonisten ein, den Grafen Paris (mit sonorem, vollem Bass-Bariton Andrew Moore), Tybalt, Juliette, die Amme (mit beeindruckender Bühnenpräsenz und warmem Mezzosopran: Katia Ledoux), Roméo, Mercutio, Stéphano, Gregorio (eine Entdeckung, der mit herrlich timbriertem Bariton ausgestattete Jungrae Noah Kim), Benvolio (leider wenig zu singen, aber mit schöner Tenorstimme verkörpert von Maximilian Lawrie) - und trotz der quasi identischen Kostüme, entworfen von Annemarie Woods (schwarze Hosen, weisse und schwarze Sakkos und vereinzelt Uniformen für die Männer, elegante 50er Jahre Roben und auftupierte Frisuren für die Frauen), werden die Charaktere wunderbar differenziert herausgearbeitet. Meisterhaft. Hervorragend integriert in den Reigen der Protagonisten sind die vier Tanzpaare, die dann auch im dritten Akt bei der Kampfszene eine wichtige Rolle spielen werden. Für die Akt-Überleitungen wendet Huffman oftmals das System des "Freezing" an, d.h. er lässt die Figuren auf der Bühne in den Stellungen des Aktschlusses verharren und löst die Positionen erst nach und nach zu den Einleitungstakten des nachfolgenden Aktes auf. Gekonnt! Dabei fungieren Chor und Solisten auch als Inneneinrichter, da sie überzählige Stühle wegtragen oder die verbleibenden neu arrangieren. Das ist auch notwendig, denn die Rückwand fährt im Verlauf der Aufführung beinahe unmerklich, aber unerbittlich nach vorne, engt den Spielraum mehr und mehr ein, symbolisiert eine Unentrinnbarkeit des Verlaufs des tragischen Geschehens und kippt das sterbende Liebespaar am Ende beinahe in die Gruft des Orchestergrabens. Faszinierend! Das Lichtdesign von Franck Evin wendet oftmals auch die Schattenwurftechnik auf die leeren Wände an, bedeutungschwanger gemeint, oftmals aber auch etwas manieriert und nicht gerade sinnfällig oder gar menetekelhaft wirkend.
BEGEISTERUNG FÜR DIE SÄNGER*INNEN DER MITTELGROSSEN PARTIEN
Einmal mehr begeistert Omer Kobiljak mit seinem hellen, höhensicheren und druchschlagskräftigen Tenor als die Ehre der Familie verteidigender, intriganter und provozierender Tybalt. Der Bariton Yuriy Hadzetskyy gestaltet mit Humor und wunderbar schmiegsamer Stimme als Mercutio die Ballade de la Reine Mab, ein präzises musikalisches Kleinod, neben Juliettes Walzer und Stéphanos die Capulets herausforderndem Chanson mit den maziziösen Parabeln aus der Vogelwelt die einzige Auflockerung im sich tragisch zuspitzenden Konflikt. Dieses Chanson von Stéphano wird von der Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova mit dermassen agiler Stimme, brillanter Technik und entwaffnendem Schalk vorgetragen, dass sie sich damit endgültig in die Herzen des Zürcher Publikums singt. BRAVA! Valeriy Murga verdammt als Herzog von Verona mit der gebotenen Autorität den armen Roméo ins Exil. Brent Michael Smith ist ein sehr junger (blendend aussehender) Frère Laurent, der mit balsamischem Bass viel Empathie für das junge Liebespaar erkennen lässt - und doch mit dem "Gift", das Juliettes Scheintod bewirkt, die Kulmination im tragischen Tod von Roméo und Juliette herbeiführt.
DAS LIEBESPAAR
Mit der Besetzung der beiden Hauptpartien wird die Aufführung im Opernhaus Zürich zum ganz grossen Ereignis: Benjamin Bernheim und Julie Fuchs hatten beide den Erfolg ihrer sie mittlerweile an alle bedeutenden Opernhäuser führenden Karrieren im Opernhaus Zürich begründet, er zuerst mit kleinsten Nebenrollen (ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich von Beginn weg seine strahlende Stimme lobte und immer fand, dass er in der Ära Pereira unter seinem Wert besetzt wurde), sie im Barockrepertoire, als Marzelline, dann mit grossen Partien in Buffa-Opern von Rossini und Donizetti.
Benjamin Bernheim ist wohl DER Roméo unserer Zeit (und überhaupt der führende Tenor im Repertoire der französischen Oper des 19. Jahrhunderts), ja wenn nicht gar der letzten 70 Jahre. Seine Stimme scheint keine Grenzen zu kennen, bleibt stets geschmeidig, verengt sich in der Höhe nie, ja breitet sich gar noch aus. Stets klingt das alles unforciert, mit grossem Atem gesungen, elegant, bruchlos - einfach ein Traum. Ich behaupte mal, dass er "schöner" und freier klingt als berühmte Rollenvertreter des letzten Jahrhunderts wie Alfredo Kraus oder Neil Shicoff, die beide bei aller unbestrittener Gesangskunst (mit Verlaub) in der Höhe zu Verengungen und leicht quetschigen Tönen neigten. Zudem ist Benjamin Bernheim ein ausgezeichneter, lebensechter Darsteller, zeigt die Unbeholfenheit und Verlegenheit des Grossmauls Roméo wenn es in Liebesdingen zur Sache gehen soll, ist Lausbub und unsterblich Verliebter in einem. Seine Arien sind von bezwingender Eindringlichkeit, seine Piani von atemberaubender Schönheit (wie er seine aus wenigen zarten Tönen bestehenden Kantilenen nach der Balkonszene - die es so in dieser Inszenierung selbtredend nicht gibt - auf das Fundament des Orchesters legt, welches eine Reminiszenz des Nocturnes intoniert, ist schlicht zum Dahinschmelzen berührend). In den Ensembles brilliert er mit Durschschlagskraft und die vier ausladenden und das musikdramaturgische Fundament der Oper bildenden Duette mit Julie Fuchs sind sowieso nicht von dieser Welt.
Julie Fuchs beginnt als Juliette den Abend mit einer bezaubernden, quirligen Ariette, steigt dann ein ein die grosse Walzerarie Je veux vivre, welche sie mit herrlichen, fein tarierten Glöckchenklängen ausstattet, bezaubernd gesungen und mit feinem, zartem Vibrato umflort. Julie Fuchs spielt das junge Mädchen an der Schwelle des Erwachsenseins mit freudiger Anmut, auch mit Witz und der Überlegenheit in Reife, die das weibliche Geschlecht in dem Alter (meistens) auszeichnet. Gerade das dritte Duett der beiden Nuit hymenée im vierten Akt ist eine vokale und darstellerische Offenbarung, dieser Wechsel zwischen Leidenschaft, Verzweiflung und Vorsicht (alouette -rossignol, jeder Partner nimmt mal die Position des Ängstlichen und des Optimisten ein). Juliettes grosse zweite Szene und Arie Dieu! Quel frisson court dans mes veines! ist weniger populär als das Je veux vivre doch bietet diese grosse Szene der Sängerin erheblich mehr Möglichkeiten, in die Seele der jungen Frau einzutauchen - und Julie Fuchs macht das mit bezwingender Kraft, das ist der helle Wahnsinn an Ausdruckstärke und gesanglicher Souplesse.
CHOR UND ORCHESTER
Der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich klingt in der Introduktion und im Ballakt mit aufrüttelnder, ausdrucksstarker Intensität und begleitet die Kampfszene des dritten Aktes und das tragisch aufwallende Finale dieses Aktes sowie den (vermeintlichen) Tod Julias mit durchdringenden Einwürfen. Roberto Forés Veses zeigt am Pult der herausragend spielenden Phiharmonia Zürich, dass Gounods geniale, einst so erfolgreiche Partitur unbedingt öfters mal auf die Spielpläne der Opernhäuser gehört. Das Orchester und der Dirigent gehen das Werk laut (aber in keinem Moment die Sänger*innen in Bedrängnis bringender Lautstärke), zügig und mit unter die Haut gehender Eindringlichkeit an. Die karge Bühne hat sich mit faszinierender, fesselnder Dramatik und ausruckstarker, in intensiven Farben malender Musik gefüllt.
HINGEHEN!
Inhalt:
Verona, 15. Jahrhundert
Die Familien der Capulets und der Montagues sind zerstritten und es kommt täglich zu Händeln, Streitereien und Kämpfen zwischen Clanmitgliedern in der Stadt. Romeo und seine Freunde haben sich an einen Maskenball im Hause der Capulets geschlichen. Es ist der Geburtstag von Julia Capulet, die den Grafen Paris heiraten soll. Romeo hat anscheinend Julia Capulet noch nie gesehen, er verliebt sich auf Anhieb in sie. Die berühmte Liebe auf den ersten Blick ... . Die Liebe ist gegenseitig. Kuss. Cousin Tybalt (ein Capulet) überrascht die beiden in flagranti. Er erkennt Romeo und fordert ihn zum Duell. Papa Capulet jedoch will das Fest in Frieden weiterfeiern. Romeo und seine Freunde ziehen Leine.
Balkonszene: Romeo schleicht sich in den Garten und ruft Julia, die auf dem Balkon erscheint. Liebesduett. Capulets Diener Gregorio stört die Idylle, weil er jemanden im Garten gesehen zu haben vermeint. Romeo versteckt sich und kommt zurück, nachdem Gregorio unverrichteter Dinge abgezogen ist. Die Liebenden schwören sich ewige Treue, die Amme Julias, Gertrud, warnt.
Romeo und Julia werden am nächsten Tag heimlich von Pater Lorenzo getraut. Lorenzo hofft mit der Trauung die beiden Familien zu versöhnen. Vor dem Haus der Capulets kommt es zu einem Kampf, da die Freunde Romeos die Capulets mit Spottliedern provozieren. Tybalt ersticht Romeos engsten Freund Mercutio. Romeo rächt sich, indem er Tybalt ersticht. Der Fürst von Verona verbannt Romeo daraufhin aus der Stadt.
Romeo missachtet den Bann und verbringt die Nacht mit Julia. Erneut schwören sich die Frischvermählten ewige Liebe und Treue. Gertrud meldet den beiden die Ankunft des Vaters Capulet. Romeo haut unbemerkt ab. Capulet befiehlt seiner Tochter, den Grafen Paris bereits am heutigen Tag zu heiraten. Von Pater Lorenzo erhält die verzweifelte Julia ein Fläschchen mit einem Gift, das sie scheintot machen werde. Als Paris ihr den Ehering überstreifen will, bricht Julia leblos zusammen. Sie wird in der Familiengruft aufgebahrt.
Romeo hat im Exil in Mantua die Nachricht von Julias Scheintod nicht erhalten. Er erfährt nur, dass sie gestorben sei und eilt nach Verona zur Gruft, um sie noch einmal zu sehen. Auch er nimmt Gift, allerdings ein tödliches. Julia erwacht, entdeckt Romeo an ihrer Seite. Romeo beginnt zu taumeln, Julia sieht das Giftfläschchen, aus dem er getrunken hat. Sie erdolcht sich. Eng umschlungen bitten die beiden Sterbenden Gott um Verzeihung.
Werk:
Charles Gounod (1819-1893) hat die Emotionalität von Frauen in seinen Opern oft thematisiert, sie eingebettet in eine musikalische "Couleur locale", was Erik Satie später als "sauerkrautlose" Musik bezeichnet hatte, also eine Musik die sich in ihrer direkt ansprechenden Emotionalität klar vom deutschen Wagnerismus distanzierte. Gounods religiöser Eifer äussert sich oft auch in Passagen seiner Opern, was ihm den Vorwurf des Kitsches und religiösen Rührstücks einbrachte. Wenn nicht Opium dann wenigstens Pudding fürs Volk. (Prunkvolle Orgelklänge zum Beispiel, wenn Marguerites Seele in Gounods berühmtester Oper FAUST zum Himmel fährt.)
Mit dem Romeo-und-Julia-Stoff kam Gounod schon früh in Berührung, so zum Beispiel 1839, als er einer Probe zu Berlioz' dramatischer Sinfonie Roméo et Juliette beiwohnte. 1840 beschäftigte er sich mit dem Libretto, welches Bellini für I CAPULETI E I MONTECCHI verwendet hatte. Konkret wurden die Pläne für eine eigene Oper nach Shakespears Drama aber erst 1864, als ihmCarré und Barbier ein eigenes Libretto präsentierten. Gounods Oper ist trotz der möglichen Versuchung eine Grand Opéra zu schreiben, ein intimes Werk geblieben. Kunstvoll werden vor allem die vier grossen Liebesduette durch motivische Zusammenhänge in einen grandiosen dramaturgischen Bogen geführt. Gerade hier zeigt sich die Meisterschaft Gounods, die Emotionalität mit einer direkt zu Herzen gehenden Innigkeit fühlbar zu machen. Die Werkgeschichte ist etwas komplex, verschiedene gedruckte Klavierauszüge und Einrichtungen für die Opéra Comique (die Uraufführung fand noch im - kuerzlebigen - Théatre Lyrique statt) und die Übernahme in die Opéra Palais Garnier, wobei Gounod die Einrichtung von Bizet für die Opéra Comique nochmals überarbeitete, machen die Entscheidung für eine Version schwierig. Heutzutage wird meistens die Fassung von 1888 (Palais Garnier) gespielt.