Zürich, Opernhaus: L'ORFEO; 17.05.2023
Quasi die Geburtsstunde der Oper: L'ORFEO, die erste Oper des "Divino Claudio", in einer Neuinszenierung durch Evgeny Titov
'Favola in musica' in einem Prolog und fünf Akten | Musik: Claudio Monteverdi | Libretto: Alessandro Striggio | Uraufführung: 24. Februar 1607 im herzoglichen Palast von Mantua | Aufführungen in Zürich: 17.5. | 22.5. | 25.5. | 31.5. | 2.6. | 6.6. | 8.6. | 11.6. | 16.6. | 29.6. | 3.7. | 6.7. | 8.7. | 11.7.2024
Kritik:
SPEKTAKULÄRE ENDZEITSTIMMUNG
Es sind keine von der Sonne bestrahlten Wälder und Wiesen, die wir hier zu Beginn von L'ORFEO sehen, keine Quellen und Bächlein - die Natur ist völlig tot, alles düster, schwarz. Die imposanten Felswände scheinen von Akt zu Akt höher, bedrohlicher zu werden. Chloe Lamford und Naomi Dabaczi haben diese Felsen für die Neuproduktion von Monteverdis Oper entworfen. Mich erinnern sie an die schwarzen Basaltsäulen des National Monuments THE DEVIL'S POSTPILE, das ich in der Nähe von Mammoth Lake in Kalifornien besucht habe. Diese unheimlichen und doch faszinierenden Felswände scheinen die innere Düsternis der Seele Orfeos zu spiegeln. Der weisse Sarg mit Euridices Leiche steht von Anfang an auf dieser schwarzen, verbrannten Bühne, Orfeo hebt die Grabstätte aus. Die Fröhlichkeit des ersten Aktes scheint wie eine ferne Erinnerung hereinzuschweben, fast pervers dringt die aufgesetzte Heiterkeit der Hochzeitspaare auf die Bühne, eine irgendwie entartete Gesellschaft, die sich verzweifelt fleischlichen und leiblichen Genüssen hingibt, wie wenn sie so das Ende abwehren könnte. Die sexuellen Handlungen der Paare haben etwas Triebhaftes, jenseits aller Sinnlichkeit. Der Regisseur Evgeny Titov hat das mit meisterhafter Hand inszeniert, zeigt klar die Aussenseiterrolle Orfeos, dessen Schwermut auch durch seine Freudengesänge im ersten und zu Beginn des zweiten Aktes dringt. Auf dem Sarg Euridices werden die Speisen aufgetischt, Champagner fliesst in Strömen, übergrosse Plastik-Früchte werden hereingetragen; doch auch wenn die Erdbeeren, Kirschen, Pfirsiche und Granatäpfel die einzigen Farbtupfer in der Düsternis sind, sie bringen das Paradies nicht zurück. Alles bleibt in Schwarz-Weiss gehalten, etwas Silber für die Messagera und La Musica. Die Kostümdramaturgie von Annemarie Woods korreliert eindringlich mit der Düsternis der Bühne. Imposant ist natürlich das Tor zur Unterwelt mit dem singenden und Augen rollenden Kopf Carontes, des Wächters an der Schwelle zum Totenreich, der von Orfeo in den Schlaf gesungen wird, so dass Orfeo den Totenfluss Styx überqueren kann. Eiseskälte (und kein Höllenfeuer) strahlt das Zentrum der Totenwelt aus, wo Proserpina und Pluto in metallisch glänzenden Kostümen herrschen. So ausstaffiert würden die beiden auch ein passendes Gibichungenpaar in Wagners GÖTTERDÄMMERUNG abgeben.
À CHACUN SON ENFER
Wie wir alle wissen, es kommt nicht gut für Orfeo und seine Euridice, da Orfeo zwar in die Hölle einzudringen vermag, seine innere Hölle - das mangelnde Vertrauen, das Nagen des Zweifels und die Kontrollsucht - jedoch nicht überwinden kann und durch den Blick zurück alles Glück zerstört.
Krystian Adam verleiht den Empfindungen Orfeos mit seiner imposanten Stimme eindringliche Wirkung. Es braucht für diese Gewaltspartie einen immensen Stimmumfang und ein sicheres Fundament in der Tiefe. Und die strömt bei Krystian Adam mit wohlklingender, unangestrengter Kraft. Wunderbar zarte Piani sind da zu erleben, ein Gesang von berührender Schönheit. L'ORFEO ist ja eigentlich eine "One Man Show", wie Intendant Homoki anlässlich der Premierenfeier zu Recht anmerkte. Und da hat man mit Krystian Adam wirklich einen Sängerdarsteller gefunden, der die Spannung aufrechterhalten kann, Interesse und Anteilnahme an seiner psychischen Hölle zu erwecken vermag.
LA MUSICA
Das Orchestra La Scintilla webt einen erstaunlich dichten, satten Klangteppich, auf welchem Orfeo seine Gesänge erblühen lassen kann. Der Dirigent Ottavio Dantone lässt uns in Monteverdis intensive Klangwelt eintauchen, die zugegebenermassen für an Wagner, Verdi, Puccini und Strauss gewöhnte Ohren manchmal auch etwas einlullend wirken kann. Doch das Pulsierende dieser Klänge, die zarten Melodien und Empfindungen, welche transportiert werden, der Klang historischer Instrumente wie Gambe, Theorbe, Laute und Barockgitarre, die filigranen Streicher, die exzellent gespielten Blechblasinstrumente Zink und Posaune entführen in eine faszinierende akustische Umgebung, in der man gerne verweilt.
Rund um die zentrale Figur des Orfeo bereichern im ersten Teil die wunderbaren Stimmen der vier Hirten das Geschehen: Die Tenöre Massimo Altieri und Luca Cervoni, der Countertenor Tobias Knaus und der Bassbariton Yves Brühwiler sind allesamt exzellente und stilsichere Sängerdarsteller. Als La Musica und Messagera (und im fünften Akt als Eco) begeistert Josè Maria La Monaco mit schöner, gerundeter Tongebung und vermag das Trauerumflorte der Messagera berührend zu intonieren. Euridice hat ja lediglich zwei Passagen zu singen: Bei der Hochzeit im ersten Akt, bevor sie von der Schlange gebissen wird, und im vierten Akt, nachdem sie endgültig in der Hölle bleiben muss, weil Orfeo sich entgegen der Vereinbarung mit Plutone umgedreht hatte. Miriam Kutrowatz verfügt über eine wunderschön weich und hell timbrierte Sopranstimme, der man gerne in einer grösseren Partie wiederbegegnen möchte. Als Höllenpaar Proserpina und Plutone machen Simone MacIntosh und Mirco Palazzi grossen Eindruck. Simone MacIntosh singt auch La Speranza, die Orfeo in gequälter, von Schmerz verzerrter Körperhaltung zur Pforte der Hölle geleitet. Ahnt sie bereits, dass alle Hoffnung vergebens ist? Dem Kopf an der Pforte (Caronte) verleiht Mirco Palazzi seine herrlich sonore Bassstimme.
KNALLEFFEKT
Im fünften Akt taucht dann noch Orfeos Vater, der Gott Apollo, auf, der seinen Sohn aus dem Tal der Tränen in den Götterhimmel zu Friede, Freude (und Ambrosia?) entführen will. Mark Milhofer gleicht im rot-goldenen Glitzeranzug einem Conférencier im Cabaret und reüssiert als Deus ex machina überhaupt nicht, denn Orfeo blickt erneut zurück auf den weissen Sarg. Der Regisseur Evgeny Titov glaubt dem Happy End für Orfeo nicht. Im Zuschauersaal gehen die Lichter an, die Hirten und Nymphen singen aus den zwölf Proszeniumslogen von schmerzfreier Zeit und himmlischen Ehren im Himmel (wer unter Schmerzen säet, erntet Frucht mit Gewinn). Es wird stockdunkel. Päng!
Nach dem Schockeffekt setzt der Applaus des Premiernpublikums leicht verzögert ein, steigert sich dann aber schnell zu warmer Dankbarkeit für eine gelungene Aufführung, mit der L'ORFEO nach beinahe 50 Jahren Abwesenheit ins Haus am Sechseläutenplatz zurückgekehrt ist.
Inhalt:
Das Libretto basiert auf der Sage von Orpheus und Eurydike aus der griechischen Mythologie
Prolog: Die Muse der Musik kündigt an, von Orfeo zu berichten, der mit seinem Gesang die Geister der Unterwelt und wilde Tiere bezwang.
1. Akt: Orfeo und Euridice feiern im Kreise von Hirten und Nymphen ihre Hochzeit und bitten Hymen, den Gott der Ehe um seinen Beistand.
2. Akt: Euridice geht mit ihren Freundinnen Blumen pflücken. Orfeo feiert mit seinen Freunden. eine Botin bringt die schreckliche Nachricht, dass Euridice von einer giftigen Schlange gebissen worden sei und mit dem Namen ihres geliebten Orfeo auf den Lippen verschied. Orfeo entschliesst sich, seine Gattin aus der Unterwelt zurückzuholen.
3. Akt: Mit der Begleitung der Hoffnung steigt Orfeo zum eingang der Unterwelt hinab, schläfert den Fährmann Charon durch seinen Gesang ein und setzt mit dem Kahn über den Todesfluss Styx. Die unterirdischen Schatten geben ihm den Weg frei.
4. Akt: Prosperina bittet ihren Gemahl Pluto, den Fürsten der Unterwelt, Euridice um ihrer eigenen Liebe Willen freizugeben. Pluto stellt eine Bedingung: Orfeo dürfe sich nie nach Euridice umdrehen, bis beide wieder in der Oberwelt angelangt seien. Orfeo schafft das nicht - sein mangelndes Vertrauen in den Fürsten der Unterwelt lässt ihn sich ängstlich nach Euridice umdrehen. Mit einem Wehlaut verschwindet Euridice für immer.
5. Akt: Das Echo beantwortet den Klagesang Orfeos. Apollo erbarmt sich und entrückt Orfeo zu den Sternen. In ihnen soll er Euridices Ebenbild erkennen, sein Selbstmitleid überwinden und eine würdiger Sohn Apollos werden. Die Zurückgebliebenen auf der Erde preisen die Liebe Orfeos.
Werk:
Nein, Monteverdis L'ORFEO ist NICHT die erste Oper überhaupt (Jacopo Peris DAFNE und EURIDICE entstanden knapp zehn Jahre früher), doch ist sie die populärste der ersten Opern geworden, zumindest seit dem 20. Jahrhundert, als die musiktheatralischen Werke Monteverdis wieder für die Bühne entdeckt wurden. Denn nach dem Tod Monteverdis 1643 verschwanden sie in den Archiven. Erst Komponisten wie Vincent d'Indy, Paul Hindemith, Carl Orff, Bruno Maderna und Gian-Francesco Malipiero retteten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Monteverdis L'ORFEO durch ihre Einrichtungen und Bearbeitungen dem allgemeinen Vergessen. Den wirklichen Durchbruch aber erlebte L'ORFEO 1976 am Opernhaus Zürich, als Intendant Claus-Helmut Drese dem Team Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle einen Monteverdi-Zyklus anvertraute, der (Opern-) Geschichte machte!
Die Titelpartie und eigentlich einzige Protagonistenrolle ist überaus anspruchsvoll: Gefordert ist eine klangschöne Stimme, mit ausdrucksstarker Höhe und Tiefe, ohne Spuren extremen Forcierens aufzuweisen. Die Agilität für artifiziellen Ziergesang muss genauso verhanden sein wie dramatische Kraft für die Klagegesänge und die Zornes- und Verzweiflungsausbrüche.
Von mir besuchte Vorstellungen von L'ORFEO am Opernhaus Zürich:
1.6.1976: ML: Nikolaus Harnoncourt, I: Jean Pierre Ponnelle, Orfeo: Philippe Huttenlocher, Eurydike: Trudeliese Schmidt, Speranza: Charlotte Berthold, Plutone: Hans Franzen