Zürich, Opernhaus: LEBEN MIT EINEM IDIOTEN; 03.11.2024 & 01.12.2024
Kirill Serebrennikov inszeniert Schnittkes beste Oper, mit Bo Skovhus, Susanne Elmark und Matthew Newlin. Musikalische Leitung: Jonathan Stockhammer
Oper in zwei Akten | Musik: Alfred Schnittke | Libretto: Viktor Jerofejew, nach seiner gleichnahmigen Erzälung | Uraufführung: 13. April 1992 in Amsterdam, unter der musikalischen Leitung von Mstislaw Rostropowitsch | Aufführungen in Zürich: 3.11. | 8.11. | 10.11. | 14.11. | 16.11. | 22.11. | 29.11. und 1.12.2024
Kritik:
DER ALLTÄGLICHE, ABSURDE WAHNSINN (die Oper) - DER TOTALE WAHNSINN (die Inszenierung) - DER ERREGENDE WAHNSINN (die musikalische Umsetzung): Was für einen hoch spannenden, aufregenden Opernabend durfte man gestern Abend anlässlich der Premiere von Alfred Schnittkes/Viktor Jerofejews genialer Oper LEBEN MIT EINEM IDIOTEN am Opernhaus Zürich erleben! Ein Triumph des (relativ) zeitgenössischen Musiktheaters, in einer virtuosen Inszenierung und musikalisch vom Allerfeinsten. Für Regie, Bühnenbild und Kostüme waren Kirill Serebrennikov und sein Team verantwortlich. Man erinnert sich: Vor einigen Jahren hätte er in Zürich COSÍ FAN TUTTE inszenieren sollen, stand jedoch in Moskau (unter falschen Anschuldigungen) unter Hausarrest, erarbeitete die Inszenierung trotzdem und mittels komplizierter Kommunikationsverfahren wurde die Zürcher COSÍ von Evgeny Kulagin in Szene gesetzt. Kulagin war nun beim IDIOTEN wiederum von der Partie und zeichnete für die Choreografie verantwortlich. Serebrennikov setzte zu Recht nicht auf eine konkrete Verortung dieser zynischen Parodie (auf den Wahnsinn des sowjetischen Alltags) von Viktor Jerofejew, sondern liess das absurde Geschehen in einem klinisch weissen Raum ablaufen, in welchem Blut und andere Körperflüssigkeiten effektvoll für Kontraste sorgten. Viktor Jerofejew (der 77jährige Autor, der in privilegierten sowjetischen Diplomatenkreisen aufgewachsen war, sich aber bald mit seinen Schriften beim Politbüro unbeliebt gemacht hatte und dessen Texte erst unter Gorbatschow wieder veröffentlicht wurden) war persönlich gestern Abend anwesend und nahm den Jubel des Publikums verschmitzt entgegen. Für Jerofejew ist (das sagt er in seinem lesenswerten Interview im Programmheft) die Geschichte nicht gebunden an das Leben in der Sowjetunion, die Menschen würden heute sowieso viele der textlichen Anspielungen nicht mehr verstehen. Vielmehr besitze der Text einen absurden Humor, es gehe um die Unvollständigkeit des Menschen, um existentielle Fragen mit politischen Elementen und vor allem mit Exzessen. Genau so hat Serebrennikov das auf der Bühne umgesetzt. Da kann viel gelacht werden, ab und an kriegt man auch Gänsehaut und empfindet vielleicht Ekel, und oft beschleicht einen ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Absurdität des (auch ehelichen) Alltags. Jedenfalls ist es keine moralisierende Parabel über Lenin, Stalin, Putin oder andere Diktatoren geworden, denn wie Serebrennikov richtig sagt: "Eine Oper hat Putin ganz bestimmt nicht verdient!" Serebrennikov spaltet die Figur des Idioten, den die Hauptperson ICH in seinem Haushalt als Strafe für ein nicht genanntes Verbrechen aufnehmen muss, in zwei Figuren auf: Den immerzu "äch" - über drei Oktaven - singenden Idioten und einen jungen, blonden Adonis mit perfektem Körper, meistens splitternackt, der im Haushalt nicht nur den Inhalt des Kühlschranks überall herumwirft, sondern auch seinen Kot - und sein Sperma freigiebig an ICH und sein FRAU verteilt. Das alles ist dermassen versiert und (man glaubt es kaum) geschmackvoll und lustig inszeniert, dass es einen in keinem Moment anwidert. Der Chor hat eine ganz wichtige Rolle: Er ist hinten auf drei hohen Stufen platziert, weiss gekleidet wie Pfleger*innen in einer psychiatrischen Klinik, nimmt sowohl eine erzählende, als auch eine kommentierende Rolle ein, wie in einer griechischen Tragödie, wird je nach Situation auf der Vorderbühne als Chor der Freunde, Chor der Idioten, Chor der Homosexuellen oder einfach nur als Chor bezeichnet. Die Chorpartien sind dermassen komplex, dass sie gleich von drei Chorleitern einstudiert und betreut werden mussten: Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger haben grossartige Arbeit geleistet, der Chor der Oper Zürich singt mit farbenreicher Intensität und packendem Klang! Die drei grossen Gesangspartien haben es in sich: Die Titelfigur des (bis auf das von ihm berührend intonierte Lied von der Birke) nur "äch" in allen Tonlagen singenden Idioten wird von Matthew Newlin mit geradezu unheimlicher (aber verführerischer) Bühnenpräsenz dargestellt. Ist dieser Idiot der innere Idiot im Kopf von ICH, eine Art Advokat des Teufels, der ICH "unreine" oder unterdrückte Gedanken und Bedürfnisse einflüstert? Der ICH von Bo Skovhus (der grosse dänische Bariton debütiert mit dieser Partie endlich in Zürich) ist absolute Spitze. Bo Skovhus wirft sich mit immenser darstellerischer Kunst in diese anspruchsvolle, während hundert Minuten auf der Bühne dauerpräsente Partie, gestaltet mit herausragender Diktion (es wird glücklicherweise deutsch gesungen) und meistert die gesanglichen Klippen der bis ins Falsett reichenden Tessitura mit überragender Souveränität. Was für eine bravouröse Leistung! Genauso virtuos singt Susanne Elmark als FRAU: Spitze, scharfe Töne in höchster Lage und übermässige Intervallsprünge, oftmals am Rande der Hysterie, werden von ihr mit stupender Selbstverständlichkeit intoniert. Doch in keinem Moment klingt ihre Stimme unangenehm schrill, da ist immer eine gewisse Rundung vorhanden. Auch sie wirft sich mit darstellerischer Verve in die Partie dieser komplexen Persönlichkeit, die gerne Proust liest. Marcel Proust tritt denn auch persönlich in der Handlung persönlich auf: Birger Radde gibt ihn wunderbar dandyhaft. Grossen Eindruck macht auch Magnus Piontek als mit wunderbarer musikalischer Agilität gestaltender Wärter. Die stumme Rolle des Idiotendoubles wird von Campbell Caspary geradezu akrobatisch ausgeführt. Ohne jegliche Scham, aber mit einer selbstbewussten Natürlichkeit, präsentiert er seinen nackten, wohl proportionierten, athletischen Körper, nimmt Posen berühmter antiker Skulpturen (z.B. den Dikuswerfer von Myron) ein, turnt auf dem Küchentisch, verheddert sich in die Skelette der Küchenstühle, missbraucht sie als Klo und duscht sich auf offener Bühne die auf seinem Körper verschmierten Flüssigkeiten ab.
Zum grandiosen Gesamterlebnis tragen die Philharmonia Zürich unter der wunderbar gestaltenden und Balance haltenden Leitung von Jonathan Stockhammer entscheidend bei. Stockhammer und die Musiker*innen im Graben (und teilweise in den Parkettlogen) evozieren einen sensationellen Sog in dieser Musik. Wenn man sich das "nur" auf YouTube anhört, ist man lange nicht so hingerissen wie live im Zuschauersaal des Opernhauses. So entwickeln die Philharmonia Zürich und Jonathan Stockhammer ein Klangbad, in das man gerne eintaucht. Gerade die Polystilistik von Schnittkes Kompositionsweise hält für alle etwas bereit. Manchmal schmeichelt die Musik dem Ohr, dann wieder wühlt sie auf, führt mit schmerzhaften klanglichen Reibungen zu Gänsehaut - und manchmal ist es einfach nur verführerisch schön, so im Tango, dessen Melodie ICH zu Beginn (noch vor dem an die Matthäuspassion angelehnten Eröffnungschor) am Piano klimpert. ICH als Kind kommt dann als Geige spielendes "Wunderkind" beim berühmten Tango auf die Bühne: Der Knabe Mykola Pososhko spielt die Violine mit einnehmendem, warmem Ton, schlicht grandios!
Am Ende sitzt ICH alleine auf einem Stuhl auf der Vorderbühne, singt falsettierend das Volkslied "Auf dem Feld stand eine Birke" während der Chor (in dieser Zürcher Fassung) den Summchor "Herbst" aus Schnittkes Filmmusik zu "Agonie" intoniert. Schauerlich schön!
Wie sang doch bereits Wolfgang Petry in den 80er Jahren? "So ein Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle? Eiskalt lässt du meine Seele erfrier'n. Das ist Wahnsinn, du spielst mit meinen Gefühlen."
Auf den "Wahnsinn" in dieser Produktion von Schnittkes Meisterwerk LEBEN MIT EINEM IDIOTEN lässt man sich gerne ein. Zeitgenössische Opern sind bekanntlich oftmals "Kassengift". Gestern Abend war die Premiere schon einmal sehr gut ausgelastet und das Ensemble inklusive Inszenierungsteam (!) wurde frenetisch gefeiert; es ist zu hoffen, dass LEBEN MIT EINEM IDIOTEN zu einem "Renner" wird, wie seinerzeit (2013) die ebenfalls überragende Produktion von Zimmermanns DIE SOLDATEN!
Nachtrag zur Vorstellung vom 1.12. :
Ein zweiter Besuch dieser selten gespielten, meisterhaften Oper Schnittkes hat sich mehr als gelohnt (leider war es bereits die Derniere, und so wie man den Opernbetrieb in Zürich kennt, werden Produktionen zeitgenössischer Opern in den folgenden Spielzeiten kaum je wieder aufgenommen). Das Publikum im ausverkauften Haus (ok, es war halt eine Volksvorstellung mit deutlich reduzierten Eintrittspreisen) jedenfalls zeigte seine Begeisterung mit enthusiastischem Beifall, zu Recht. Beim zweiten Besuch konnte ich mich stärker auf die Musik und die vokale Ausgestaltung konzentrieren - und war fasziniert von Schnittkes augenzwinkernder Polystilistik, welche Jonathan Stockhammer und die mit grossartiger Durchörbarkeit des Klangs aufspielende Philharmonia Zürich aus dem Graben und den Parkett-Logen ertönen liess. Die Protagonisten und der grandiose Chor der Oper Zürich waren allesamt bestens disponiert und hatten deutlich wahrnehmbar Spass an ihren diffizilen Partien. Das war logischerweise alles viel lockerer und noch souveräner ausgestaltet als an der Premiere, was dem Werk durchaus gut bekam. Die Besetzung der Partien war identisch (Susanne Elmark, Bo Skovhus und Matthew Newlin allesamt erneut herausragend). Nur die stumme Rolle des Idiotendoubles wurde diesmal vom Choreografen der Produktion, Evgeny Kulagin, höchstselbst interpretiert - selbstredend eindrücklich und mit der natürlichen Unbefangenheit des Nacktseins. Alvin Scheiwiller trat an diesem Abend in der Rolle von “Ich als Kind” auf. Der Knabe spielte den berühmten Tango auf seiner Violine mit einer Reinheit der Intonation und einer Wärme des Klangs, die bass in Erstaunen versetzte. Was für ein Talent!!!
Inhalt:
"DES LEBEN MIT EINEM IDIOTEN IST VOLLER ÜBERRASCHUNGEN" (Eröffnungschor)
Die Geschichte wird in Rückblenden erzählt, vom Schriftsteller "Ich", seiner Frau und vom Chor. Allerdings wird auf Chronologie und Logik im Erzählstrang verzichtet, was der Methodik des Wahnsinns entspricht.
Der Schriftsteller "Ich" wird von einem nicht näher definierten Gericht wegen fehlenden Mitleids dazu verurteilt, einen Idioten aus einer Irrenanstalt bei sich zu Hause aufzunehmen. Mit seinen Freunden feiert er dieses milde Urteil. "Ich" geht in die Irrenanstalt, besticht den Wärter mit Vodka und nimmt einen Irren mit, der ihm wie ein Gottesnarr vorkommt und relativ normal erscheint. Allerdings spricht der Idiot nicht, er äussert nur einen Laut: ÄCH. In einer Reminiszenz denkt "Ich" an seine an falscher Scharlach-Behandlung verstorbene erste Frau. Er weiss nicht mehr, ob seine erste, seine zweite oder beide Frauen Verehrerinnen von Marcel Proust waren. Proust geistert auch zweimal durch Szenen der Oper. Die zweite Frau schildert ihre Ermordung durch den Idioten (der - eventuell in Anlehnung an das Aussehen Leninis - Wowa genannt wird). Der Idiot schneidet ihr nämlich mit einer Gartenschere (angeblich aus der DDR) den Kopf ab. "Ich" schaut masturbierend dabei zu. Dazwischen sind wir wieder in der Irrenanstalt, wo ein junger Insasse das Volksliedied Auf dem Feld stand eine Birke anstimmt. In der Wohnung benimmt sich der Idiot erst ganz gesittet, aber nicht lange. Er uriniert in den Kühlschrank und scheisst auf den Teppich. Vor allem aber zerstört er die Bibliothek mit der Gesamtausgabe von Prousts Werken. "Ich" und die Frau wehren sich, der Idiot ist stärker. Er vergewaltigt die Frau. Ich kauft seiner Frau eine neue Ausgabe von Prousts Werken. Die Frau ist schwanger geworden, aber sie lässt das Kind abtreiben. Wowa wird darauf gewalttätig und beginnt eine sexuelle Beziehung mit "Ich". Unter den Augen des erneut auftauchenden Marcel Proust leben die beiden ihre Homosexualität und verprügeln zwischendurch die Frau, welche die beiden aushungern will, was jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist. "Ich" wird irre und zieht seinerseits ins Irrenhaus, wo er vom Wärter wie ein alter Bekannter empfangen wird. Aus der Ferne erklingen die "Äch" Rufe des Idioten, welche von "Ich" und seiner Frau aufgegriffen werden.
Werk:
Alfred Schnittke (1934-1998) war neben Schostakowitsch und Prokofjew einer der bedeutendsten Komponisten der Sowjetunion im 20 Jahrhundert. Als Sohn einer katholischen Wolgadeutschen Mutter und eines jüdischen Vaters mit russischer Abstammung aus Frankfurt am Main fühlte er sich eigentlich immer heimatlos. Bis 1948 lebte er in Wien, danach wechselte er ans Moskauer Konservatorium. Seinen Kompositionsstil bezeichnete er als "polystilistisch". Man hört u.a. Bach (Eröffnungschor - Matthäuspassion), einen bekannten Tango aus den 30er Jahren, das Trompetenmotiv aus Schotakowitschs 11. Sinfonie und auch dessen Musik zur Vergewaltigungsszene aus LADY MACBETH VON MZENSK und Selbstzitate Schnittkes. Das Lied vom Birkenbäumchen ist ein russisches Volkslied, das auch bei Tschaikowski vorkommt (Finale der vierten Sinfonie). Die Tessitura der Singstimmen der drei Protagonisten "Ich" (oft auch im Falsett), Frau und Idiot liegt extrem hoch und die Gesangspartien sind überaus anspruchsvoll. Ulrich Schreiber bemerkt in seinem OPERNFÜHRER FÜR FORTGESCHRITTENE, dass die in Jerofjews Erzählung implizite These, dass das Absurde Theater und nicht der Sozialistische Realismus der wahre Bühnenstil des real existierenden Sozialismus gewesen und von Schnittke schlagend auf das Musiktheater übertragen worden sei.