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Zürich, Opernhaus: AGRIPPINA; 02.03.2025

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Agrippina

copyright aller Bilder: Monika Rittershaus, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Harry Bicket am Pult des Orchestra La Scintilla leitet diese Neuproduktion von Händels erster Erfolgsoper, mit Anna Bonitatibus als Agrippina, Jakub Józef Orliński als Ottone, Christophe Dumaux als Nerone und Lea Desandre als Poppea

Dramma per musica in drei Akten | Musik: Georg Friedrich Händel | Libretto: Kardinal Vincenzo Grimani | Uraufführung: 26. Dezember 1709 in Venedig | Aufführungen in Zürich: 2.3. | 5.3. | 7.3. | 9.3. | 11.3. | 14.3. | 18.3. | 27.3. | 30.3.2025

Kritik: 

VOR DEM WILLEN ZUR MACHT BEUGT SICH DAS RECHT – das sind die Worte, die aus Agrippinas Mund bereits im ersten Rezitativ von Händels gleichnamiger Oper strömen. Wie unfassbar aktuell solche Phrasen von Politikern (oder solchen, die sich dafür halten) auch 350 Jahre später immer noch sind, müssen wir mit Erschrecken konstatieren. Händel und sein vermutlicher Librettist Grimani hatten zwar die Handlung im antiken Rom verortet und mit entsprechenden Figuren bestückt, allein die Handlung war frei erfunden. Gerade deshalb haben auch zur Uraufführungszeit die Menschen in Venedig Händels Oper nicht als Historiendrama verstanden, sondern die Anspielungen und Bosheiten, die auf das mit Venedig rivalisierende Rom gewürzt waren, durchaus als Aktualität wahrgenommen. Und deshalb war die Entscheidung des Regieteams dieser Neuinszenierung richtig, die Oper in der Jetztzeit spielen zu lassen. Der Bühnenbildner Ben Baur hat dazu eine ganz noble Wohnung entworfen, die in einem Wolkenkratzer einer Metropole der Macht liegt. In diesem luxuriösen Apartment haust die dysfunktionale Familie des Magnaten Claudio, der über ein „Empire“ herrscht. Da ist die Ehefrau Agrippina, herrschsüchtig, durchtrieben, hat im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen an (sie tritt denn auch in Hosenanzügen auf, trägt erst am Ende der Oper ein elegantes Abendkleid). Da ist das Muttersöhnchen Nerone, der die Weingläser in einem Zug leert, sich die Krawatte nicht selbst binden kann – und spürt, dass er sich von der manipulativen Mutter lösen sollte (er setzt sich am liebsten die Kopfhörer auf), dies aber nicht schafft. Nachdem Claudio bereits während der Ouvertüre anlässlich eines Diners im Kreis der Familie mit Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden war (angeblich soll die historische Agrippina dem Kaiser ein Gericht mit Giftpilzen serviert haben), der Dow Jones Index - aus Angst davor, dass der Chief des Empire stirbt - gefährlich fällt, kommt jedoch die Nachricht, dass er überlebt hat. Er bringt auch seine Pflegerin Poppea mit zurück. Diese Poppea, die erst so schüchtern und bescheiden auftritt, wird in der Folge allen Männern im Haushalt den Kopf verdrehen, das Zusammenleben gehörig aufmischen und zur gewieften Gegenspielerin Agrippinas aufsteigen. Und da ist noch Ottone, der selbstverliebte Günstling Claudios und als dessen Nachfolger bestimmt, was Agrippina, die Nerone, ihren Sohn aus erster Ehe, an die Spitze des Imperiums zu setzen gedenkt, mit allen Mitteln verhindern will. Des weiteren leben im Haushalt die Agrippina hörigen Männer Pallante und Narciso, die mit ihren schwarzen Hornbrillen aussehen wie Buchhalter. Schliesslich ist da noch Lesbo, der Claudio treu ergebene Diener und unzimperliche Majordomus. Alle Herren tragen eng geschnittene, elegante Designeranzüge; nach der Pause, wo die Handlung in die Küche verlegt ist, treten alle in Pyjamas oder seidenen Morgenröcken auf. (Die träfen Kostüme hat Hannah Clark entworfen.) Wunderbar ästhetisch gemachte Videoclips von Kevin Graber, die zur Ouvertüre und zu instrumentalen Intermezzi auf den Zwischenvorhang projiziert werden, stimmen auf das Geschehen ein. In diesem Setting inszeniert die Regisseurin Jetske Mijnssen (in Zürich inszenierte sie bereits IDOMENEO, DIALOGUES DES CARMÉLITES, HYPPOLITE ET ARICIE und PLATÉE) das intrigante Geschehen mit leichter Hand, ein witziges Kammerspiel, das uns des öfteren zum Schmunzeln bringt. Die Zeichnung der Charaktere, die Personenführung, die Komik innerhalb des „Dramma“ sind meisterhaft gemacht. Gerade die schwankartige Szene in der Küche, wo Poppea ihre drei Liebhaber voreinander versteckt, würde jedem Lustspiel von Jörg Schneider oder Erich Vock das Wasser reichen können. Herrlich!

Dazu konnte das Opernhaus Zürich auch das notwendige, spielfreudige Ensemble zusammenstellen, allesamt Sängerdarsteller*innen von allererster Güte. Anna Bonitatibus in der Titelrolle ist eine sängerische und darstellerische Wucht! Sie gestaltet die Rolle der Intrigantin mit fantastischer stimmlicher Agilität und Tiefgang. Gerade in der für die damalige Zeit revolutionären Arie Pensieri lässt sie uns mit gebrochener Stimme Anteil nehmen an ihrer gequälten Seele (natürlich trägt sie wegen ihrer Ambitionen und der famos gespielten Durchtriebenheit selbst Schuld an ihren Qualen!). Bei ihrem Auftritt im Seidenkimono mit dem Küchenmesser in der Hand denkt man einem Moment lang an Cio-Cio-San. Ihre übrigen zahlreichen Arien (darunter die famose Arie Ogni vento, ein Fest für die Ohren, auch wegen der Begleitung durch das Orchester) und Ariosi singt Anna Bonitatibus mit grossartiger virtuoser Kraft und Spritzigkeit. Was für eine grandiose Leistung! (Übrigens gestaltete Anna Bonitatibus in der letzten Inszenierung der AGRIPPINA im Jahr 2009 die Rolle des Nerone, sie ist also vom Sohn zur Mutter gereift!) Nahuel Di Pierro gestaltet den Magnaten Claudio mit seinem balsamischen Bass, das ist wunderschön einschmeichelnd gesungen, kein Wunder, dass auch Poppea davon (und nicht nur von seinem Reichtum) angetan ist, denn das mit so viel Wärme gestaltete Vieni, o cara Nahuel Di Pierros erweicht jedes Herz! Christophe Dumaux singt mit seinem herausragend geführten Countertenor einen herrlichen Nerone, das verwöhnte, gut aussehende, aber etwas tumbe Muttersöhnchen, Seine fantastische Stimme strömt mit überwältigender Souveränität in den Saal, hoch virtuos und überaus präsent. Das gilt auch für Jakub Józef Orliński als eitler Geck Ottone. Der polnische Countertenor, der nebenbei auch als Model und Breakdancer arbeitet, ist eine Idealbesetzung für die Rolle in der Lesart Jetske Mijnssens. Seine Arien Lusinghiera mai speranza und die anrührende Klagearie Voi che udite il mio lamento geraten zu fulminanten Lehrstücken des Barockgesangs, voller Einfühlungskraft in diesen Charakter, der als Günstling Aufstieg und Fall durchleben muss. Seine körperliche Agilität kann er als Breakdancer voll ausleben, erst als narzisstischer Superstar vor Mikrofonen, umgeben von lebensgrossen Abbildern von sich selbst, die aussehen wie die BRAVO-Starschnitte mit denen wir in der Jugend unsere Zimmerwände schmückten. Irre komisch war dann die Küchenszene, in welcher er sich im Schrank der Einbauküche verstecken muss, erst im oberen Regal zusammengekrümmt und dann hart herausfallend. Nerone wird in dieser Szene von Poppea in die Töpfeschublade unter der Kochinsel gesteckt. Diese Szene lebt von einer umwerfend witzigen Genauigkeit der Personenführung, da ist alles genau auf den Punkt inszeniert und Lea Desandre als Poppea im Shorty-Pyjama legt einen hinreissend-verführerischen Tanz auf der Kochinsel hin. Klasse! Auch stimmlich ist diese Poppea eine Wucht. Da sind brillante Koloraturketten zu hören, eine energiegeladene Rachearie, warm timbrierter, lockender Gesang, echte und falsche Liebesschwüre. Was für ein fulminantes Rollendebüt! 

Nicht nur die fünf Protagonist*innen triumphieren an diesem ereignisreichen Abend, auch die Interpreten der drei mittleren Rollen lassen aufhorchen: José Coca Loza als Pallante und Alois Mühlbacher als Narciso sind wie Schuljungen Agrippinas gereifter Weiblichkeit verfallen, lassen sich von ihr manipulieren und ausnutzen, werden von ihr auch gegeneinander ausgespielt. José Coca Loza lässt dabei seinen Bass wunderbar strömen und Alois Mühlbacher glänzt mit seinem interessant gefärbten Countertenor, ein Timbre voller Erotik. Yannick Debus gestaltet einen durch und durch imposanten Lesbo, dem man nicht gern auf die Füsse treten würde, auch wenn er seinen herrlichen Bariton noch so weich fliessen lassen kann ... .

Und last but not least macht das Orchestra La Scintilla unter der Leitung von Harry Bicket den Abend vollkommen. Das ist ein Musizieren voller Lebendigkeit und mit brillantem Feinschliff.

So klug inszeniert und mitreissend musiziert macht eine Barockoper, in der sich eine Da-Capo-Arie an die nächste reiht, einfach unglaublich grossen Spass! Die knapp dreieinhalb Stunden (inklusive einer Pause) werden dank augenzwinkernder Ironie im Wechsel mit grossen Gefühlen nie zu lang. Und der herrliche (feministische) Twist am Ende ist der Hammer - ein Geniestreich! Mehr werde ich nicht verraten - Hingehen!

Inhalt und Werk:
Der Kaisergattin Agrippina wird mitgeteilt, ihr ungeliebter Gatte Claudius sei ertrunken. Mit allen Mitteln versucht sie, ihren Sohn Nero auf den Kaiserthron zu hieven. Doch die Freude währt nur kurz. Claudio wurde gerettet und hat überdies seinem Retter Ottone die Thronfolge versprochen. Agrippina ist jedoch nicht gewillt, die Entscheidung des Kaisers zu akzeptieren. Sie spinnt ein Geflecht aus Intrigen, falschen Anschuldigungen und Anstiftungen zum Mord. Der Strudel der Ereignisse ist kaum mehr aufzuhalten, zmal Kaiser Claudio, sein Stiefsohn Nero und sein Günstling alle drei die schöne Poppea umwerben ... .

Das feinsinnige Libretto des Kardinals Grimaldi inspirierte den jungen Georg Friedrich Händel (1685-1759) zu kontrastreichen, witzigen und ironischen Arien (allerdings wurden nur fünf Arien von ihm neu für diese Oper komponiert, die restlichen entnahm er  – wie es damals üblich war – eigenen Werken oder derer anderer Komponisten wie Keiser, Mattheson oder Scarlatti), welche von den Interpretinnen und Interpreten neben geläufigen Kehlen auch ein grosses Mass an Spielfreude und Witz, aber auch grosses Einfühlungsvermögen abverlangen.

Für einmal werden in dieser Oper die Bösewichte nicht bestraft, irgendwie handelt jede und jeder unmoralisch und doch bekommen alle am Ende, was sie schon immer gewollt hatten. Dieses egoistische Streben nach Macht und Glück entbehrt nicht einer gewissen Ironie, es schimmert durchaus eine Gesellschaftskritik durch, die nichts an Aktualität verloren hat. 

Die Oper AGRIPPINA war dermassen erfolgreich, dass sie gleich 26mal en suite gespielt wurde. Händel wurde stürmisch gefeiert (nach jeder Arie erschallten Rufe wie “Viva il caro Sassone”, es soll Menschen gegeben haben, die keine der 26 Aufführungen verpasst haben. In späteren Jahren entnahm Händel daraus erneut Arien für neue Werke. 

Karten

Von mir besuchte Aufführungen von Händels AGRIPPINA am Opernhaus Zürich

September 1970: Dirigent: Alberto Erede, Inszenierung: Rudolf Hartmann (Ausstattung Jean-Pierre Ponnelle), Agrippina: Lisa della Casa, Poppea: Costanza Cuccaro, Narciso: Marga Schiml, Nero: Frans van Daalen, Ottone: Roland Hermann, Claudius: Jozsef Dene

10. Mai 2009: Dirigent: Marc Minkowski, Inszenierung: David Pountney, Agrippina: Vesselina Kasarova, Poppea: Eva Liebau, Nero: Anna Bonitatibus, Ottone: Marijana Mijanovic, Claudius: László Polgár, Giunone: Wiebke Lehmkuhl, Narciso: José Lemos

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