Zürich: NACHTTRÄUME, ein Stück, 09.10.2022
Choreografie: Marcos Morau | Musik: Clara Aguilar, Franz Schubert, Sergej Rachmaninov u.a. | Uraufführung: 30. September 2022 durch das Ballett Zürich, am Opernhaus Zürich | Weitere Vorstellungen in Zürich: 9.10. | 14.10. | 16.10. | 20.10. | 21.10. | 28.10. | 10.11. | 15.11. 2022
Kritik:
Am 31. Mai 1978 erlebte ich im Opernhaus Zürich eine Aufführung von Kurt Jooss revolutionärem Totentanz in acht Bildern DER GRÜNE TISCH und war verstört und aufgewühlt. Das war völlig anders als alles, was ich bislang gesehen hatte, eine bitterböse, nachdenklich stimmende Gesellschaftskritik, ein Ballett, das so gar nicht in den Rahmen "Ballett" passte, auch an jenem Abend nicht, wo es als drittes Stück (nach Balanchines LA VALSE, Musik von Ravel, und Jürg Burths DE L'AMOUR, Musik von Debussy) aufgeführt wurde. Aber immerhin trug es - zu Recht - noch das Wort "Tanz" im Untertitel. Das war nun bei NACHTTRÄUME von Marcos Morau nicht mehr der Fall, er bezeichnet seine neueste Schöpfung (inspiriert eben von DER GRÜNE TISCH) nur noch als "Stück". Und nein, aufgewühlt und verstört war ich nach der Vorstellung nicht, eher streckenweise genervt und - nach all den so positiven Kritiken - leicht enttäuscht. Bei Morau finden rund um den und auf dem runden Tisch keine oder kaum noch Interaktionen zwischen Tänzer*innen statt, alle sind sie eine anonyme und - heutzutage wohl selbstverständlich - androgyne Masse, es gibt weder Männlein noch Weiblein, alle tragen eine identische Frisur, sind mit Sockenhaltern, kurzen schwarzen Hosen und weissen Hemden ausstaffiert. Über dem Tisch schwebt ein riesiger Art-Déco-Leuchter, dessen Kugellampen kalt-weiss leuchten. Ein Conférencier - im Stil von Fosses CABARET - im schwarzen, mal kurzen (da sind dann auch seine Sockenhalter sichtbar), mal langen Paillettenkleid und mit funkelnder Tiara auf dem Kopf, führt durch diese Nacht, rezitiert eindringliche, tiefgründige Texte und erfüllt mit seinem diabolischen Lachen (auch das nützt sich nervtötend ab) den Saal. Der Bariton Ruben Drole ist dieser Advocatus diaboli, hält der Masse den Spiegel vor, lässt sie in babylonische Sprachverwirrung und die Anarchie laufen (das sind zugegebenermassen die stärksten Momente des Stücks). Einmal durfte der verdiente Bariton, der hier darstellungsmässig eine imposante Leistung abliefert, gar "singen", nämlich Schuberts Nacht und Träume. Allerdings musste er dieses Lied im Stile einer divenhaften Diseuse darbieten, was er sehr gekonnt tat. Die niedlichen Schäfchen, die sich am Ende des Lieds um ihn herumkuschelten, erreichten den beabsichtigten "Jö"- Effekt. Viel wurde mit Stühlen hantiert (auch nicht gerade neu), am Ende wurden die hölzernen Bistro-Stühle zu einem Thron aufgeschichtet, auf dem diese "Königin der Nacht" Platz nahm - oder war es doch eher ein Scheiterhaufen? Denn zu ihren Schreien und verzweifelten Aufforderungen, sie doch zu lieben, begab sich die anonyme Masse auf den überdeckten Orchestergraben, nur ein einziger schritt unter dem fallenden Vorhang hindurch auf die Königin zu. Auch dies ein starkes Bild, wie es auch die kopflosen Anzugsträger darstellten, die sich kindlich freuen durften, als sie durch das Aufsetzen der Kugellampen des Leuchters endlich eine hohle Birne und Erleuchtung bekamen. Die spätere Szene mit den kopflosen Anzugsträgern, die dann Überwachungskameras auf den Hälsen anstelle des Kopfes trugen, war hingegen nicht (wie wahrscheinlich beabsichtigt) furchteinflössend. Einzelne Tänzer*innen kann man leider nicht rühmen, da das gesamte Corps des Balletts Zürich wie erwähnt als anonyme Masse und zudem oft in dämmrigem Licht auftreten musste, wie Marionetten rumzuzucken und durch eckige Bewegungen mit nicht immer lupenreiner Synchronizität sehr komplexe und vertrackte Veschlingungen und Körperbilder auszuführen hatte. Die klassisch geschulte Compagnie des Balletts Zürich machte das zwar bewundernswert (man kann nur erahnen, wieviel Probenarbeit und Mühe hinter dieser Leistung gesteckt haben muss), doch mit der Zeit ermüdete dieses beziehungslose Gehampel auch. Hätte man das Stück auf 30 Minuten (statt der beinahe 100 Minuten Dauer) komprimiert, wäre es bestimmt eindringlicher gewesen.
Die elektronische Musik, die von Clara Aguilar aus Schnipseln in der Art von Purcell bis Vangelis gesampelt worden war und mit stampfenden, kräftigen und basslastigen Rhythmen angereichert wurde, war gekonnt gemacht, hatte an vielen Stellen durchaus atmosphärische Dichte. Heinz Della Torre kam mit einem stupenden Trompetensolo als Live-Musiker auf die Bühne, ebenso wie der Pianist Luigi Largo, der sich bei seiner Interpretation von Rachmaninovs Prélude in cis-Moll auch durch das Herumschieben seines Flügels auf der Bühne nicht aus der Ruhe bringen liess. Das Publikum war am Ende ganz aus dem Häuschen, tobte und schrie vor Begeisterung, ganz im Gegensatz zu dem alten, weissen Mann, der diesen Bericht verfasste ... . Ich gönne dem Haus und dem Ballett Zürich die ausverkauften und umjubelten Vorstellungen aus vollem Herzen.
P.S.: Die Tänzer*innen einer Ballettcompagnie durchlaufen eine lange, teure und entbehrungsreiche Ausbildung als klassische Tänzer*innen. Was hier gezeigt wurde, war ein streckenweise schon spannendes Stück, aber doch eher eine Installation von Körpern als eckig und konform agierende Automaten, ohne Individualität. Solche Stücke sind meines Erachtens besser in der freien Szene - oder in speziellen Gruppierungen, wie sie Moraus eigene Truppe LA VERONAL darstellen - als in klassischen Ballettcompagnien aufgehoben, denen nun aufoktroyiert wird, alles, was sie an fliessender, ausdrucksstarker Harmonie des körperlichen Ausdrucks gelernt haben zu vergessen.
Werk:
Marcos Morau ist ein knapp 40 jähriger spanischer Choreograf, hat selber keine abgeschlossene Ausbildung als Tänzer durchlaufen (er studierte Choreografie am Conservatorio Superior de Danza in Valencia), gilt aber als genialer Shooting-Star unter den jungen Choreografen, der zurzeit nur so mit Angeboten überhäuft wird. In der katalanischen Metropole Barcelona, die er als Stadt der Zukunft bezeichnet, verwirklicht er seine Ideen des Umsetzens von Gedanken, Bildern, Impressionen in Bewegung und Formen des Körpers. Diese Bewegung kennt für Morau keine Grenzen, die Tänzer sollen nicht Opfer einer tradierten Technik sein. Inspirieren lässt sich Morau zwar durchaus von Künstlerschicksalen und Filmvorlagen (Rothko, Munch, Picasso, Pasolini, Buñuel u.a.m.) und politischen Konstellationen, doch sind seine Tanzstücke nie ein Nachbuchstabieren einer vorgegebenen Handlung, sondern lassen aus Bewegung Bilder voller Kraft und Eindrücklichkeit entstehen . Mit seiner eigenen Comagnie LA VERONAL zusammen entwickelt er seine oft spartenübergreifenden Tanzstücke. Als Bezugspunkt für seine neueste Kreation NACHTTRÄUME nennt Morau das 1932 entstandene und unterdessen bestimmt schon 5000 mal aufgeführte Ballett DER GRÜNE TISCH von Kurt Jooss, das 1978 auch in Zürich (Ballettdirektorin damals: Patricia Neary) zu erleben gewesen war. Mit DER GRÜNE TISCH leistete Jooss vor 90 Jahren einen eindringlichen Beitrag zur Entwicklung des neuen Tanztheaters, mit einem gesellschaftskritischen Inhalt, der sich um Macht und deren Missbrauch, Provokation, Krieg und Totentanz drehte und am Ende wieder in grossem Pessimismus zum Ausgangspunkt der schwarzen Herren am grünen Tisch zurückkehrte, welche anonym und empathielos über das Schicksal der Individuen entscheiden.
Auch in NACHTTRÄÜME geht es Morau um Macht in all ihren Formen und der Art, wie Menschen der Macht begegnen.