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Zürich: LA VERITÀ IN CIMENTO, 25.05.2015

Erstellt von Kaspar Sannemann | | La Verità in Cimento

copyright: Judith Schlosser, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Oper | Musik: Antonio Vivaldi | Libretto: Giovanni Palazzi | Uraufführung: zur Karnevalssaison 1720 in Venedig | Aufführungen in Zürich: 25.5. | 27.5. | 29.5. | 31.5. | 3.6. | 7.6. | 10.6. |13.6. | 16.6.2015

Kritik:

Ach, was ist das doch für eine verflixte Situation, in welcher der wohlhabende Unternehmer Mamud vom Zürichberg steckt: Über Jahrzehnte hat er vor einem Teil seiner Familie ein düsteres Geheimnis verborgen und plant nun - noch vor der Hochzeit seines Sohnes Melindo mit der lebenslustigen und einem regen Männerverzehr huldigenden Rosane – reinen Tisch zu machen. Doch jedes Kind weiss es: Hat man sich erst mal in einem Netz von Lügen verstrickt, ist es nicht ganz einfach, da wieder heile herauszukommen. Der Regisseur dieser Vivaldi Ausgrabung im Opernhaus Zürich, Jan Philipp Gloger, jedenfalls traut dem (zur Barockzeit üblichen und oft am Ende ganz hastig hinzugefügten) lieto fine, dem Happyend, nicht, sondern lässt die Geschichte im fatalen Desaster enden. Das Liebespaar stirbt durch Schüsse (einem versehentlichen und einem Suizid), dem reichen Unternehmer misslingt der Selbstmord in den Abgasen seines Porsches, er wird gefesselt und unter dem Joch der Folgen seiner Lebenslüge weiter darben müssen. Die Ehefrau, welche sich schon seit geraumer Zeit esoterischem Gedankengut angenähert hatte, ist nun vollends der realen Welt abhanden gekommen und hat sich in eine imaginäre heile Welt abgesetzt. Die Mätresse (das Dienstmädchen) windet sich in hysterischen Krämpfen am Boden. Der zweite Sohn aber, der wahre Erbe, schlägt die Kapuze seines Gothic-Outfits hoch und verlässt das Lügen-Haus, schwarz und unheimlich, wie er es zu Beginn des Abends betreten hatte.

Ben Bauer hat ein stupendes Bühnenbild für diese Produktion geschaffen, Räume der Villa, welche sich horizontal über die Bühne verschieben lassen und uns Einblicke in die Befindlichkeiten der Bewohner verschaffen, auch wenn die eigentliche Aktion gerade an einem andern Ort stattfindet. Das ist ganz grossartig gemacht und wird mit lautloser Präzision ausgeführt. Karin Jud hat die sechs Personen der Patchworkfamilie mit überaus treffenden Bekleidungen ausstaffiert, welche die Charaktere sehr genau beschreiben, vom luxuriös-strengen Deuxpièces von Madame Rustena bis zu den schwarzen Dessous der Damira. Ein grosses Kompliment gebührt auch der Maskenabteilung des Opernhauses, welche zum Beispiel die junge Sängerin Wiebke Lehmkuhl (Rustena) in eine reife Ehefrau in den Wechseljahren verwandelt, oder aus Anna Goryachova (Zelim) einen Anhänger der Gothic-Bewegung macht. Regisseur Gloger gelingt das Kunststück, dass diese Barockoper, trotz der Dacapo Arien, nie statisch wirkt. Ihm sind zu den Zweizeilern, welche in den Arien unendlich wiederholt werden, die Ideen wahrlich nie ausgegangen: Vom liebevollen Streicheln und Hätscheln des nagelneuen Porsche 991, den sich Mamud geleistet hat, über die esoterischen Séancen der Rustena und die Gefühlskonflikte der Mütter und Söhne, bis zu den handgreiflichen Eskalationen, welche das Aufdecken der Wahrheit provoziert. Und das Erfreuliche ist, dass diese Ideen immer ganz aus dem Text und dem psychologischen Kontext heraus geboren erscheinen, nicht künstlich aufgesetzt wirken. Seine Personenführung verdient allerhöchstes Lob: Da stimmt einfach jede Geste, jeder Blick. Das Agieren ist von einer unverstellten Natürlichkeit und Genauigkeit geprägt, welche man oft auf der Musiktheaterbühne vermisst. Selbstverständlich lebt die Inszenierung von ihren Interpreten, und die sind darstellerisch und musikalisch ganz grosse Klasse. Richard Croft zeichnet den Mamud nicht als potenten Familientyrannen. Bei ihm ist er ein kunstsinniger Womanizer, welcher endlich mit seiner Lebenslüge aufräumen will, aber die emotionalen Befindlichkeiten seiner Familie nicht in seine Überlegungen miteinbezogen hat. Sein weicher und biegsamer Tenor kommt diesem Interpretationsansatz gut entgegen. Mit warmem Mezzosopran (und treffsicher charakterisierendem Spiel) gibt Wiebke Lehmkuhl die Rustena, hebt sich mit ihrer weichen und runden Tongebung deutlich vom herberen, erotisch fordernden Timbre ihrer Nebenbuhlerin, dem Dienstmädchen Damira, ab. Delphine Galou gelingt es auf umwerfende Art und Weise, die berechnende Hinterhältigkeit und Falschheit, aber auch den Konflikt darzustellen, in welchen Damira durch das Aufdecken der Wahrheit gerät. Mit wendigen Koloraturen und Furor rast sie durch die Register, verführt, beschwört, intrigiert. Anna Goryachova singt den unglücklichen Zelim (um Braut und Erbe betrogen) mit überaus einnehmend gefärbter Mezzosopranstimme, wunderschön phrasierend und mit weichem, sauberem Tonansatz gestaltet sie diese Hosenrolle, stellt den Underdog dar, welcher als Einziger wahre Grösse und echte Gefühle zeigt. Ganz im Gegensatz zu der oberflächlichen, mannstollen Rosane von Julie Fuchs, welche ihr Fähnchen sehr berechnend nach dem gerade herrschenden Wind zu drehen weiss. Julie Fuchs singt die dankbare Partie mit leuchtend perlendem Sopran. In ihrer grossen Arie Amato ben am Ende des ersten Aktes versteht sie es meisterhaft, die falschen (und auch die echten) Gefühle zu exponieren, welch in ihrer Brust kämpfen. Melindo, der Sohn des Dienstmädchens, welcher sich aber durch den Babytausch des Vaters als rechtmässiger Erbe betrachtet, wird vom Countertenor Christophe Dumaux mit geläufiger Gurgel gesungen, die Koloraturen schiessen wie Blitze aus seiner Kehle, sein bewundernswert langer Atem lässt uns, die Zuhörer, den Atem stocken. Grandios verkörpert er den privilegierten Sonnyboy, welcher jedoch seine (minderwertigen?, da vom Dienstmädchen abstammenden ...) Gene nicht restlos verstecken kann und in der Krise äusserst hitzköpfig, ja geradezu unkontrolliert und mit Brutalität reagiert.

Ottavio Dantone agiert als überaus umsichtiger Spiritus rector am Pult (und am Cembalo) des einmal mehr mit fantastischer Frische und Lebendigkeit musizierenden ORCHESTRA LA SCINTILLA. Besonders schön herausgearbeitet sind die Forte/Piano Kontraste und die wunderschön und virtuos gespielten Passagen der Blockflöten.

Ja, Vivaldis LA VERITÀ IN CIMENTO in dieser Zürcher Fassung (anstelle des Schlusschores wird für Zelim eine Arie aus L' INCORONAZIONE DI DARIO eingefügt) ist über weite Strecken lustig, quirlig, amüsant, aber auch hintergründig und erhellend. Dass einem am Ende dann das Lachen vergeht, angesichts der fatalen Gefühlsverwirrungen, welche diese „Wahrheit auf dem Prüfstand“ hervorgerufen hat, ist ein weiterer Pluspunkt für Glogers feinsinnige Arbeit.

Fazit:

Genial - Musik und THEATER vom Allerfeinsten. Über weite Strecken amüsant, voller Subtilität und Feinfühligkeit, die Charaktere stimmig und genau beobachtet porträtierend und am Ende doch sehr nachdenklich stimmend! Nicht verpassen.

 

Inhalt:

Mamud, der Sultan von Cambaja, hat zwei Söhne: Melindo und Selim. Melindo hat er mit seiner Frau Rustena gezeugt, Selim hingegen mit seiner Geliebten Damira. Melindo wäre demnach der Erbe des Sultanats. Nun steht die Hochzeit Melindos mit Rosane, der Tochter des Sultans von Joghe, bevor. Die Hochzeit soll den Frieden zwischen den verfeindeten Sultanaten beschliessen. Mamud will jedoch, noch bevor diese Hochzeit stattfindet, mit einer Lebenslüge aufräumen: Mamud hatte bei der Geburt nämlich die beiden gleichaltrigen Knaben vertauscht, um der Geliebten die Genugtuung zu verschaffen, dass ihr Sohn einst sein Erbe sein werde. Diese Offenbarung löst natürlich bei allen Beteiligten Verwirrung, Hysterie und Verzweiflung aus. Die beiden Mütter kämpfen für die Rechte ihrer Söhne, die Halbbrüder, die sich gegenseitig mögen, geraten in Interessen- und Gewissenskonflikte und Rosane, die Melindo liebt, wird todunglücklich sein, wenn sie Selim heiraten müsste. Selim bringt am Ende eine Lösung des Konflikts zustande: Die Macht über das Sultanat wird zwischen den beiden Halbbrüdern aufgeteilt, Melindo darf Rosane heiraten.

Werk:

Dass Antonio Vivaldi (1678-1741) auch Opern geschrieben hat, ist noch immer viel zu wenig bekannt, ja, in gewissen gängigen Opernführern werden sie nicht einmal erwähnt. Hier gilt es also unter seinen mindestens 49 Kompositionen für die Opernbühne noch Schätze zu heben.

Der Komponist der VIER JAHRESZEITEN war eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der musikalischen Welt des Spätbarocks. Sein Einfluss auf andere Komponisten (z.B. auch auf Johann Sebastian Bach oder Johann Joachim Quantz) darf nicht unterschätzt werden, hat er doch mit seinem originellen Stil Entscheidendes zur Entwicklung der Instrumentalmusik beigetragen. Doch auch im Bereich der Vokalmusik war Vivaldi ein Wegbereiter: Seine Motetten wurden als „Konzerte für die Stimme“ bezeichnet. Der vokale Exhibitionismus in seinen Opern ist typisch für die Barockzeit und verfehlt die Wirkung (ähnlich wie bei Händel) nie.


Karten

 

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