Zürich: JULIETTE, 14.02.& 4.3.2015
„Traumbuch“ in drei Akten | Musik: Bohuslav Martinů | Libretto: vom Komponisten, nach LA CLÉ DES SONGES von Georges Neveux | Uraufführung: 16. März 1938 in Prag | Aufführungen in Zürich: 14.2. | 17.2. | 19.2. | 22.2. | 24.2. | 27.2. | 1.3. | 4.3.2015
Kritik:
Mit einer rundum gelungenen Premiere eines zu Unrecht selten gespielten Werks beglückte das Opernhaus Zürich gestern Abend sein Publikum. Der Hausherr Andreas Homoki und der GMD Fabio Luisi liessen es sich nicht nehmen, diese Kostbarkeit selbst zu inszenieren, respektive zu dirigieren und begeisterten mit einer überaus präzisen szenischen und musikalischen Aufführung.
Martinůs surrealistische Oper JULIETTE ist von grossartiger Qualität, witzig (aber nicht derb), subtil, feinfühlig, mit leichten Wendungen ins Melancholische (aber nie kitschig) und auf intelligente Art unterhaltsam. Und genau so ist auch die musikalische Sprache des Komponisten, welcher hier mit aparter Orchestrierung aufwartet, mit feinem Pinselstrich arbeitet, das Kleingliedrige mit interessanter instrumentaler Farbenpracht ausstattet. Die Philharmonia Zürich unter Fabio Luisi ist ein hervorragender und beredter Anwalt dieser Partitur: Da blitzen Kantilenen der Oboe, des Fagotts, der Streicher auf, dass es eine wahre Freude ist. Die witzig vertrackten Rhythmen des Schlagwerks und vor allem des Klaviers lassen immer wieder aufhorchen, es macht einfach Spass zuzuhören – und zuzusehen! Denn das spritzige Feuerwerk setzt sich auf der Bühne fort: Der Ausstatter Christian Schmidt (Bühne und Kostüme) hat für die schnell wechselnde Szenenfolge eine fantastische Lösung gefunden, unterstützt von der wie stets grossartigen Lichtgestaltung von Franck Evin. Ausgehend von Michels Buchhandlung (Land der Geschichten und Träume) wird die Drehbühne zum charmanten Mikrokosmos der imaginären Hafenstadt, mit herein fahrendem Ozeandampfer (der Versuchung Juliette und Michel als Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in TITANIC am Bug auftreten zu lassen, hat das Inszenierungsteam widerstanden), dem running gag der Lokomotive, welche trotz fehlenden Bahnhofs durch die Hafenstadt fährt und einem Zauberwald aus silbern glänzenden Tannen. Andreas Homoki erweckt diese Hafenstadt durch eine überaus sorgfältige Personenregie und komödiantische Leichtfüssigkeit zum Leben, verleiht den Menschen ohne Erinnerung liebenswerte und schrullige Charakterzüge. Dazu stehen ihm aus dem bewährten Ensemble des Opernhauses Zürich und dem IOS spielfreudige Sängerpersönlichkeiten zur Verfügung, welche (alle mit Rollendebüts) mehrere Rollen verkörpern: So brilliert zum Beispiel Airam Hernandez als Kommissar, Briefträger, Waldhüter, Lokomotivführer und Nachtwächter, Lin Shi als Kleiner Araber und Junger Matrose, der stimmgewaltige Pavel Daniluk als Alter Araber und Alter Matrose, Rebeca Olvera und Judit Kutasi glänzen als Vogel- bzw. als Fischverkäuferin und Alex Lawrence ist ebenso grossartig als Mann mit Helm, Verkäufer von Erinnerungen und Blinder Bettler wie Martin Zysset als Beamter und Reinhard Mayr als Sträfling und Alter Mann. In weiteren Rollen sind Irène Friedli, Alexei Botnarciuc und Dara Savinova zu erleben. Für die beiden Hauptpartien wurden Gäste verpflichtet, welche sich alle beide mit ihren Haus- und Rollendebüts in die Herzen des Publikums sangen und spielten. Annette Dasch singt eine bezaubernde, warmstimmige Juliette. Sie vermag ihrem klangschön ansprechenden Sopran genau das notwendige Quäntchen an geheimnisvollem Timbre und einen Hauch zarter Erotik beizumischen, welche diese Traumfigur benötigt. Wunderbar! Vor der Leistung des kanadischen Tenors Joseph Kaiser kann man sich nur tief verneigen. Wie er da leicht unbeholfen in Knickerbockern in die Hafenstadt stolpert, seine Entchen-Erinnerung zum besten gibt (von Homoki umwerfend komisch choreografierte Szene!), unversehens zum Capitaine de la Ville ernannt wird, irrwitzige Begegnungen mit den Bewohnern erlebt, seine Juliette findet, vermeintlich umbringt und sich schliesslich durchringt, seinem Traum zu folgen, das alles spielt Joseph Kaiser wunderbar. Er ist praktisch den ganzen Abend (der im zweiten Teil auch ein paar Längen aufweist) auf der Bühne, schafft es perfekt, seinen sehr schön gefärbten, ebenmässigen Tenor zwischen dialogorientierten Passagen, zarten Melismen und kurzen Ariosi oszillieren zu lassen.
Fazit: Der einhellige, ungetrübte Applaus des Premierenpublikums galt einer hoch interessanten, über weite Strecken äusserst kurzweiligen Oper der Zwischenkriegszeit (da harren noch mehrere Werke der Wiederentdeckung ...) und einer äusserst präzisen und amüsanten Aufführung am Opernhaus Zürich.
Nachtrag: Vorstellung vom 4.3.2015
Ein zweiter Besuch der selten gespielten Oper JULIETTE erwies sich als durchaus Gewinn bringend. Monierte ich anlässlich der Premiere noch einige Längen im zweiten Teil, kam mir dieser nun viel kurzweiliger vor. Mit immer noch bewundernswerter Präzision folgten sich die schnellen Szenenwechsel; die Darsteller auf der Bühne waren perfekt auf einander eingespielt und prägten die Aufführung mit feinsinniger Musikalität. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass sich diese Oper (bei all der ihr inhärenten Qualitäten) weder im breiten Repertoire noch beim Publikum wird durchsetzen können. Denn was ihr entscheidend fehlt, ist ein individueller Charakter in der Behandlung und Ausarbeitung der Singstimmen und Kantilenen. Zu kurzatmig und kleingliedrig sind die Motivfetzen, zu auswechselbar der gesamte Duktus der Oper.
Inhalt:
Der Buchhändler Michel kehrt aus Paris in eine Kleinstadt am Meer zurück. Er kann die Erscheinung eines Mädchens in einem Fenster und ihr Liebeslied nicht vergessen. Zuerst frage er einen jungen Araber nach dem Hotel, in dem er damals gewohnt hatte. Doch das Hotel gab es angeblich nie. Auch die anderen Figuren, denen Michel nun begegnet, wissen von nichts. Michel begreift, dass all diese Menschen kein Erinnerungsvermögen haben. Weil Michel unter all den Unwissenden so heraussticht, soll er Bürgermeister werden. Ein Revolver wird zur Insignie seiner Macht. Nun trifft er endlich auf Juliette, die wiederum ihr Liebeslied singt. Doch Michel wird trotz des Liebesbekenntnisses bewusst, dass Juliette keine Identität besitzt. Als Juliette mit fotografisch festgehaltenen Erinnerungen konfrontiert wird, läuft sie weg. Michel schiesst auf sie. Die Handlung wird zunehmend surrealistischer: Michel will auf einem Schiff die Kleinstadt verlassen, findet sich aber in einem Büro wieder, wo Träume vermietet werden. Der Verkäufer der Träume warnt Michel vor dem Verweilen, weil er sonst aus seinen Träumen nicht mehr herausfinde. Doch Michel vermeint Juliettes Stimme zu hören und bleibt. Das Anfangsbild mit dem jungen Araber schiebt sich wieder in die Szene – könnte das Stück von vorne beginnen?
Werk:
Bohuslav Martinů (1890-1959) wurde in Böhmen geboren. Er studierte in Prag, diplomierte als Geiger und spielte in der Tschechischen Philharmonie. Als Komponist von Ballettmusiken erreichte er ein zusätzliches Einkommen. Ein Stipendium verhalf ihm zu einem Aufenthalt in Paris, wo er mit Unterbrechungen bis 1940 blieb. Nach dem deutschen Einmarsch floh er in die USA. Nach dem Krieg war er den neuen kommunistischen Machthabern verdächtig und eine Wiedereinreise in die Tschechoslowakei wurde ihm verwehrt. Er starb als amerikanischer Staatsbürger in Liestal, im Kanton Baselland.
Insgesamt schrieb Martinů 14 Bühnenwerke. Sie alle bleiben im Bereich einer erweiterten Tonalität, so auch JULIETTE. Die Partitur dieses durchkomponierten Werks ist klanglich hoch interessant: Das Orchester wird ergänzt durch ein Klavier. Die Gesangspartien wechseln schnell zwischen reinem Singen und Sprechen. Musikalische Echowirkungen lösen einen spannenden Reiz aus.
Neuveux' Schauspiel geht auf eine Geschichte des Marquis de Sade zurück (JULIETTE OU LES PROSPÉRITÉ DU VICE), in dem Juliette für die auf Lustmaximierung ausgerichtete Frau steht. In Martinů/Neveux' absurdem Theater führt die Erinnerungslosigkeit der Menschen zum Nichts.