Zürich: GODS AND DOGS (Wiederaufnahme), 19.11.2017
Dreiteiliger Ballettabend | Forsythe: IN THE MIDDLE; SOMEWHAT ELEVATED | Uraufführung: 30. Mai 1987 in Paris | Kylián: GODS AND DOGS | Uraufführung: 13. November 2008 am Nederlands Dans Theater| Naharin: MINUS 16 |Uraufführung: 11. November 1999 am Nederlands Dans Theater | Aufführungen in Zürich: 19.11. | 23.11. | 25.11. | 1.12. | 2.12. | 7.12.2017
Kritik:
„Eine Zumutung ist das“, schimpfte meine Sitznachbarin erbost kurz nach Beginn des dritten Teils dieses dreiteiligen Ballettprogramms, hielt sich die Ohren demonstrativ zu und verliess darauf den Saal, wie ein gutes Dutzend weiterer Zuschauerinnen. Damit verpasste die gute Frau den fulminanten Schluss von Ohad Naharins Choreografie MINUS 16, wo die 26 Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Zürich in den Saal ausschwärmen und sich jeweils einen Partner/eine Partnerin unter den Zuschauern im Parkett wählen und den auf die Bühne zu ausgelassenen Tango- und Swingrhythmen bitten. Diesmal traf es auch mich, Ihren Rezensenten – und was ich da bei meinem Debüt als Ballerino auf den Brettern die die Welt bedeuten ablieferte, DAS war in der Tat eine Zumutung. Als Entschuldigung werde ich nicht wie Roger Federer seine Rückenprobleme nun meine Kniearthrose ins Feld führen. Es war einfach nur blamabel. Doch meine charmante Partnerin (ich vermute es war Yeonchae Jeong) war mir eine grosse Stütze. MINUS 16 spürt man natürlich deutlich die unkonventionelle Gaga-Methode an, mit der Naharin (angeblich der bestbezahlte israelische Künstler) jeweils seine Tänzerinnen und Tänzer zu extremen, beinahe unmöglich erscheinendem tänzerischem Vokabular anspornt. „Loslassen können, ohne albern zu sein“ ist sein Motto. Diesen Flow spürt man deutlich, auch wenn einzelne Teile vielleicht etwas gar lang geraten sind. Wild scheint der Mix der Musik zu sein, die von Vivaldi bis Somewhere over the rainbow reicht, hebräische Volksmusik genauso streift wie Cha Cha Cha und am Ende mit einem Nocturne von Chopin einen geradezu poetischen Abschluss findet. Zu Beginn unterhält der Tänzer Matthew Knight in einem schlecht sitzenden, zu grossen Anzug das Publikum mit einer Entertainershow vom Feinsten, probiert allerlei Tanzschritte aus, vom Moonwalk bis zum Slapstick. Grossartig. Wunderbar witzig geraten ist auch die Szene mit den Stühlen im Halbkreis, wo sich die Tänzer nach und nach ihrer Oberkleider entledigen, die Schuhe und Hüte wegwerfen und dabei stets völlig synchron auf und um ihren Klappstuhl tanzen. Pralle, pure Lebensfreude dann in der Sequenz mit den Laien auf der Bühne (und irgendwie gelingt es der fantastischen Truppe des Ballett Zürich, dass sich niemand so fühlt, als würde er zum Affen gemacht).
Sehr ernst dagegen das gewichtige Ballett des Mittelteils, Jiři Kyliáns GODS AND DOGS. Darin lotet Kylián die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn aus, und die damit verbunden Schmerzen der Erkenntnis des eigenen Wahnsinns. Zerrissen wie die Gemütszustände der vier Paare ist auch die Musik dazu: Die beiden ersten Sätze von Beethovens Streichquartett op.18 Nr.1 werden von Dirk Haubrichs brutal verstärkten Elektroklängen quasi konterkariert. Auf der schwarzen Bühne ist vorerst nur eine Kerze zu sehen, die warmes, tröstliches Licht spendet. Später wird sich ein Vorhang aus silbernen Seilen im Hintergrund heben, bis er die gesamte Rückwand einnimmt und in changierender Beleuchtung einen fast selbst zum Wahnsinn treibt. Genial gemacht. Und immer wieder nähert sich auch der Hund als Projektion. Die Männer treten in weit geschnittenen Trackingsuithosen auf, mit nackten Oberkörper, die Damen in Unterwäsche. Die vier Paare sind Francesca Dell'Aria und Daniel Mulligan, Mélissa Ligurgo und Mattew Knight, Meiri Meada und Mark Geilings und Giulia Tonelli mit Tars Vandebeek als Partner. Giulia Tonelli hinterlässt einmal mehr einen nachhaltigen, unter die Haut gehenden Eindruck: Wie sie erst wie ein Werwolf in unglaublichen Verrenkungen sich zur Rampe hinbewegt, über die brennende Kerze steigt und sich dann in den Orchestergraben hinunter hievt oder später im Pas de deux mit Tars Vandebeek eine Dämonie sondergleichen an den Tag legt, das muss man erlebt und gesehen haben.
Mit William Forsythes IN THE MIDDLE, SOMEWHAT ELEVATED stand einer der ganz grossen Klassiker des modernen Tanzes am Anfang dieses interessanten Programms. Forsythe untersucht dabei in einer Art Variationenfolge Elemente des klassischen Tanzes, führt sie zu verrückten Formen, steigert die Intensität im Zusammenspiel mit der repetitiven, gleichförmigen elektronischen Musik von Thom Willems zu soghafter Wirkung. Gebannte Stille herrschte im Saal, fasziniert verfolgte man die exzellenten Tänzerinnen Anna Khamzina, Viktorina Kapitonova, Pornpim Karchai, Irmina Kopaczynska, Constanza Perrota Altube, Giulia Tonelli und die Tänzer Manuel Renard, Wei Chen und Tigran Mkrtchyan bei ihren Solovariationen und in den Paar- und Gruppentänzen. Forsythe vereint in seiner so kunstvoll gearbeiteten Choreografie eine gewisse Atemlosigkeit mit klassischer Eleganz, dekonstruierten und wieder neu zusammengefügten Bewegungsabläufen und einer Prise Witz. Auch hier bleibt die Bühne schwarz, die enganliegenden grünen Trikots heben sich deutlich ab und ermöglichen die genaue Verfolgung der komplexen Abläufe. Über der Bühne, in der Mitte, somwhat elevated, schwebt eine kleine goldene Doppelkirsche, wohl als Anspielung auf die goldenen Säle der Pariser Oper, für welche Rudolf Nurejew einst diese revolutionäre Tanzschöpfung in Auftrag gegeben hatte.
Nein, ein Zumutung war der Abend (oder Nachmittag) definitiv nicht, dafür ein bereichernder Einblick in choreografische Ecksteine der neueren Zeit.