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Zürich: GESUALDO, 09.10.2010 & 31.10.2010

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Gesualdo

© Hans Jörg Michel, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Oper in drei Akten |

Musik: Marc-André Dalbavie |

Libretto : Richard Millet |

Uraufführung: 9.10.2010 in Zürich |

Aufführungen in Zürich: 9.10. URAUFFÜHRUNG | 14.10. |19.10. | 23.10. | 31.10. | 6.11. 2010

Kritik: 

Zu beneiden sind zeitgenössische Komponisten, welche sich bereit erklären, ein Werk für die Opernbühne zu schreiben, wahrlich nicht. Sie schaffen den Spagat zwischen den mehrheitlich auf Konsonanz getrimmten Ohren des Publikums und den exorbitanten Ansprüchen des sich an postserieller Kompositionstechnik mit anspruchsvollem intellektuellem Überbau orientierenden Fachpublikums kaum mehr. Marc-André Dalbavie hat sich mit seiner Oper GESUALDO, welche gestern in Zürich uraufgeführt wurde, mindestens die Zustimmung des Premierenpublikums errungen, welches das Werk begeistert und mit warmem Applaus für alle Beteiligten aufnahm. Die Oper GESUALDO steht mit ihrer am relativ monotonen, melodiearmen Duktus der französischen Sprache orientierten Gesangsstil ganz in der Tradition, welche von Lully über Rameau zu Gluck und Debussy führt. Die Gesangslinien sind rezitativisch gehalten, eine Art untermalter Sprechgesang, welcher eine hohe Textverständlichkeit garantiert. Nur in Momenten grosser emotionaler Spannung schwingen sich die Stimmen zu ariosen Gebilden auf, doch darf man keine Arien oder Ausbrüche von Vokalakrobatik erwarten. Dafür reagiert dieser Deklamationsstil schnell auf Stimmungswechsel in den Dialogen. Das Orchester ist sehr zurückgenommen, kommentiert manchmal beinahe lautmalerisch den gesungenen Text, setzt wenige, dafür umso effektvollere Akzente mit geballten, stark Blechbläser-lastigen Einwürfen. Besonders gut gelungen ist Dalbavie der Einbezug der damals bahnbrechenden Kompositionstechnik Gesualdos: Die in die Partitur verwobenen polyphonen Madrigale, Responsorien und Lamenti werden nicht bloss zitiert, sondern mit Dalbavies Stil assoniert. Dies führt zusammen mit Überlagerungen, akzelerierten Ostinati und teilweise simpel anzuhörenden Begleitfiguren zu einer musikalischen Sprache, welche sehr einnehmend und dem Ohr leicht zugänglich erklingt, dadurch beim ersten Anhören aber auch nicht wirklich neu und originell erscheint, jedoch den grossen Vorteil hat, dass sie das Gesamtkunstwerk „Oper“ nicht durch übermässiges, hysterisches Intervall-Geschreie dekonstruiert und so ad absurdum führt.

Richard Millet hat ein Libretto von herausragender sprachlicher Qualität geschrieben; mit kurzen, prägnanten Sätzen lotet er die seelischen Befindlichkeiten der Charaktere aus. Es ist harte Kost, welche da aufgetragen wird: Sadismus, Masochismus, Sex, Frigidität, Homoerotik, Kunst und Religion – widersprüchliche Gefühle, welche in uns allen stecken, denen wir uns aber selten, allzu selten, offen zu stellen vermögen.

Moshe Leiser und Patrice Caurier (die Kostüme stammen von Agostino Cavalca, das dezent-warme Lichtdesign von Christophe Forey und Hans-Rudolf Kunz) haben das an Sartres Huis clos gemahnende Geschehen mit wohltuender Unaufdringlichkeit und intensiver Personenführung in Szene gesetzt, so dass man die Figuren konzentriert in ihre Abgründe begleiten kann. Christian Fenouillat hat dazu ein stimmiges Bühnenbild geschaffen, eine Art grosse Scheune eines Landgutes, mit überdimensionalen Porträts von Gesualdo ausstaffiert. Manchmal werden enge, fensterlose Kammern hochgefahren, im letzten Akt verbarrikadiert sich der immer dämonischer werdende Gesualdo hinter einem Scheiterhaufen und dem Kadaver seines Pferdes. Für seinen Schlussmonolog fährt eine Backsteinwand vom Bühnenhimmel, Gesualdo blickt verloren aus der kleinen Aussparung in die Abgründe der seelischen Finsternis. Bewegend!

Rod Gilfry gestaltet diesen melancholischen Abgesang mit berührender Intensität. Sein Gesualdo wirkt bei aller oberflächlichen Ablehnung, welcher man dieser abgründigen Figur vielleicht entgegenbringen könnte, nie abstossend, sondern eher Mitleid erregend. Zum Beispiel wenn er gesteht, dass er nur an den wärmenden Bauch seines Dieners Castelvietro gekuschelt (mit beachtlicher erotischer Ausstrahlung Julian Martin) einschlafen kann, oder wenn er sich, angeblich um seinen Stuhlgang zu normalisieren, von seinem Diener Pietro (mit überzeugender Nonchalance gesungen und gespielt von Gabriel Bermúdez) auspeitschen lässt. Doch auch so ist kein Ausbruch aus dem ihn und seine gesamte Umgebung bedrückenden "Kerker seines Körpers" zu schaffen. Eine drohende Heiserkeit in der exponierten Lage meisterte Gilfry mit exzellenter Technik. Seine verbalen Auseinandersetzungen mit seiner ungeliebten zweiten Ehefrau, Eleonora d'Este (Liliana Nikiteanu) geraten zu den Höhepunkten des Abends. Liliana Nikiteanu macht mit fahler, kalter Stimme das Leiden der betrogenen Frau hörbar, sucht verzweifelt einen Ausweg aus dieser Hölle und findet ihn nicht. Trotzdem bewahrt sie bis zum Ende eine vornehme, bewundernswerte Haltung, sogar als der ihr so ans Herz gewachsene Stiefsohn Emmanuele wegen der Unnachgiebigkeit und Borniertheit Gesualdos sterben muss. Benjamin Bernheim stattet diesen Emmanuele mit seinem wunderschön timbrierten Tenor aus. Hier wächst ein Sänger erster Güte heran. Marie-Adeline Henry singt Emmanueles schwangere Gemahlin mit leuchtkräftigem, durchsetzungsstarkem Sopran. Hélène Couture versprüht einnehmend die Leidenschaft, die sexuelle Neugier der jungen Magd Francesca, die sich auch mal mehr oder weniger freiwillig auf einen Dreier mit Gesualdo und seinem Adlatus, dem Musiker Effrem (Jérôme Billy) einlässt. Das hervorragende Ensemble wird ergänzt durch den amorphen Abbé von Konstantin Wolff und vor allem durch die phänomenalen Madrigalisten (auch Dorfbewohner): Susanne E. Grobholz, Ilker Arcayürek, Shiya Kitajima, Patrick Vogel, Thomas Tatzl und Aaron Agulay – diese sind allesamt viel versprechende Mitglieder des Internationalen Opernstudios!

Der Komponist steht auch am Pult des Orchesters der Oper Zürich: Klangschön evoziert es Dalbavies einfache Motive in den nicht oktavierenden Tonräumen - welche doch wie durch ein Wunder immer wieder tonal scheinen - und meistert die accelerandi rhytmisch präzise. Vor allem die blendend intonierenden Posaunen, welche mit ihren absteigenden Intervallen den Abend so eindringlich eröffnen, lassen aufhorchen!

Fazit:

Diese zeitgenössiche Oper muss von der musikalischen Seite her niemandem Angst einflössen – die inhaltlichen Abgründe hingegen vermögen sehr wohl aufzuwühlen und zu fesseln.

Sehr stimmige Umsetzung!

Nachtrag zur Vorstellung vom 31.10.2010:

Der oben beschriebene Eindruck hat sich auch beim zweiten Anhören und Ansehen weit gehend bestätigt. Das Werk berührt und bewegt, einzig die etwas gar zurückhaltende Tonsprache und die dadurch mangelnde Dramatik wirken auf die Dauer ein wenig ermüdend. Rod Gilfrys Leistung ist insgesamt fantastisch, allerdings sind seine Höhenprobleme noch nicht verschwunden.

Werk:

GESUALDO ist die erste Oper des französischen Komponisten Marc-André Dalbavie (geboren 1961), es handelt sich um ein Auftragswerk des Opernhauses Zürich. Dalbavie ist Preisträger der Nachfolgeorganisation des renommierten Prix de Rome (wie vor ihm schon Méhul, Hérold, Halévy, Berlioz, Thomas, Gounod, Bizet, Massenet, Dukas, Charpentier, Lili Boulanger ...), studierte bei u.a. Pierre Boulez und John Cage. Er schrieb Konzerte für den Flötisten Emanuel Pahud, die Klarinettistin Sabine Meyer und den Pianisten Leif Ove Andsnes, war „composer in residence“ des Cleveland Orchestra, des Minnesota Orchestra und beim Orchestre de Paris. Dalbavie ist ein Vertreter der so genannten SPEKTRALMUSIK, einer Musikrichtung, die sich sowohl von der seriellen (Webern/Berg) und der atonalen Musik als auch der elektronischen Musik entfernt und wieder von der Klangfarbe der Töne und ihren natürlichen Obertönen ausgeht und das Spekturm auslotet, aus welchem jeder Ton zusammengesetzt ist. Auf der technischen Ebene handelt es sich zwar um eine sehr komplexe Musik, doch sollte diese neue Art von Konsonanz für das Ohr leichter zugänglich sein als Kompositionen postserieller Zeitgenossen.

Der Leben und Werk Gesualdos scheint viele zeitgenössische Opernkomponisten zu faszinieren: Alfred Schnittke schrieb 1994 seine Oper GESUALDO, Franz Hummel 1996 ein gleichnamiges Werk. Auch Salvatore Sciarrino schrieb eine Oper über Gesualdo: LUCI MIE TRADITRICE (1998).

Igor Strawinski und Klaus Huber bauten Kompositionen auf Vorlagen Gesualdos auf.

Zudem drehte Werner Herzog den Film GESUALDO, TOD FÜR FÜNF STIMMEN für das ZDF mit der Sängerin Milva als Geist von Gesualdos ermordeter Ehefrau Maria d'Avalos.

Inhalt :

Don Carlo Gesualdo, Principe di Venosa, war eine schillernde Figur der Musikgeschichte am Übergang von der Renaissance zum Barock. Berühmt-berüchtigt wurde er als Mörder seiner ersten Ehefrau und deren Liebhaber. Seine vielstimmigen Madrigalkompositionen und Motetten geniessen unter Musikhistorikern grosses Ansehen.

Dalbavies Oper beschäftigt sich aber nur indirekt mit der grauenvollen Bluttat; sie kreist um die letzten Lebensjahre des zurückgezogen lebenden Komponisten, seine Depressionen, seinen Despotismus gegenüber seiner zweiten Frau Leonora d'Este und gegenüber seiner gesamten Umgebung, seiner problembeladenen Beziehung zu seinem Sohn aus erster Ehe, dem er die Mutter geraubt hatte. Von seinem Diener lässt er sich regelmässig auspeitschen. Alle Figuren, die ihn wie Planeten in geheimnisvoller Anziehungskraft umkreisen, werden nach und nach zerstört, selbst das Komponieren gibt er auf. Der Librettist arbeitet die paradox scheinenden Verhaltensweisen der Personen mit metaphorischer Poesie heraus. Die Protagonisten zerstören sich gegenseitig durch Worte.

Informationen und Karten

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