Zürich: FÜRST IGOR, 15.04.2012
Oper in einem Prolog und vier Akten | Musik: Alexander Borodin | Libretto: vom Komponisten, nach dem mittelalterlichen „Igorlied“ | Uraufführung: 4. November 1890 in St.Petersburg | Aufführungen in Zürich: 15.4. | 17.4. | 19.4. | 22.4. | 25.4. | 27.4. | 29.4.2012
Kritik:
Man weiss nicht so recht, wo einem der Kopf steht nach diesem monumentalen Epos und der beinahe infernalischen Reise durch 1000 Jahre russischer Geschichte, auf welche man von Regisseur David Pountney geschickt wird und schwankt zwischen ungeteilter Bewunderung und manchmal blankem Entsetzen.
Die Bewunderung und das Erstaunen überwiegen: Das Opernhaus Zürich hat hier einmal mehr aus dem Vollen geschöpft und viele seiner aussergewöhnlichen Stärken in die Waagschale geworfen, so die fantastische Arbeit der Werkstätten, welche einen gigantischen und trotzdem schnelle Szenenwechsel erlaubenden Bühnenbildentwurf von Robert Innes Hopkins mit viel Liebe zum Detail umgesetzt haben. Des Weiteren beeindrucken die klangschön, prägnant und mit überwältigender dynamischer Bandbreite singenden Chormassen (Chor, Zusatzchor und SoprAlti der Oper Zürich), welche von Jürg Hämmerli einstudiert wurden. Herrlich auch die über die Jahrhunderte sich wandelnden Kostüme und Kostümattrappen von Marie-Jeanne Lecca, welche einen Bogen spannen von reich verzierten folkloristischen Entwürfen bis zu Sowjetgrau, Taliban-, Komsomolzen- und Guerillauniformen. Auch bei den wichtigen Balletteinlagen hat man sich nicht lumpen lassen und neben Mitgliedern des Corps und des Junior Balletts auch gleich drei Starsolisten des Zürcher Balletts verpflichtet: Yen Han, Aliya Tanykpayeva und Stanislav Jermakov. Auf der Besetzungsliste trifft man eine Reihe herausragender Sänger an (mit Ausnahme von Olesya Petrova allesamt Rollendebütanten), welche die Figuren mit grandioser musikalischer Gestaltungskraft zum Leben erwecken. Egils Silins gibt einen grossartigen Igor, eindringlich interpretiert er mit seinem markanten Bariton seine grossen Szenen im ersten und dritten Akt, voll inniger Kraft erklingt in seinen Aufttritten immer wieder die wunderschöne Phrase des Freiheits- und des Sehnsuchtsmotivs. Während seiner Abwesenheit in der russischen Grenzstadt Putiwl schwingt sein Schwager, Fürst Galitzkij, dort das grausige Zepter. Dmitry Belosselskiy macht das mit unheimlich prägnanter stimmlicher und darstellerischer Präsenz, geradezu ekelhaft gut. Die Bilder dieses (bolschewistischen) Aktes sind entsetzlich stark, die realistischen Darstellungen der Vergewaltigungen und Grausamkeiten bleiben haften. Pavel Daniluk gibt mit seiner profunden Bassstimme einen einschmeichelnd sonoren, nur vordergründig kumpelhaft agierenden Khan Kontschak. Seine Hinterhältigkeit spielt er dann im dritten Akt mit gekonnter Grausamkeit aus. Ganz anders seine Tochter: Olesya Petrova verfügt über eine wunderbar erotisch timbrierte Mezzosopranstimme und setzt sie mit weichem Ansatz bezwingend sinnlich ein. So umgarnt sie den Sohn Igors, Wladimir, welcher von Peter Sonn mit leuchtkräftigem, hervorragend sitzendem tenoralem Glanz gesungen wird. Schade nur, dass Borodin ihm nicht einen wirklichen „Knaller“ komponiert hatte. Miroslav Christoff ist der besorgte Konvertit und Marin Zysset und Valeriy Murga sind ein glänzend eingespieltes, die tragische Aktion im shakespearschen Sinn konterkarierendes Duo aus Kriegsgewinnlern, Lumpensammlern, Deserteuren. Als Polowzer Mädchen lässt die junge Viktorija Bakan mit sauber intonierten, melancholischen Gesängen im ersten Polowzer-Bild aufhorchen. Am Pult des mit überragend fein abgestuftem Farbenspektrum aufspielenden Orchesters der Oper Zürich hält Vladimir Fedoseyev die Koordinationsfäden des riesigen Apparates in der Hand. Er versucht nicht, die unweigerlich vorhanden Brüche in dieser von mehreren Komponisten bearbeiteten Partitur zuzudecken, lässt herbe Klänge und schroffe Übergänge stehen und schafft es trotzdem, die breit angelegten Bilder in ein bezwingendes Ganzes zu führen, die Spannung dieses vierstündigen Epos im musikalischen Bereich nicht erlahmen zu lassen.
Regisseur David Pountney misstraut von Beginn weg dem Heldenmythos und der Legende und lässt Igor starr am Schreibtisch sitzen, quasi als Kopfgeburt der Masse, die sich durch alle Epochen hindurch in Zeiten der Bedrohung nach einem starken Führer sehnt. Dieser Igor ist mal Bojar, dann wieder bolschewistischer General. Mit dieser Kopflastigkeit der Erzählweise beschneidet er die Titelfigur, den unglückseligen Helden, auch seiner Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Der Schreibtisch bleibt in allen Akten zentrales Element des Bühnenbildes, wird am Ende gar zum Grabmal, auf das sich dann das imposante goldene Standbild des Nationalhelden senkt. So weit so gut. Doch beinhaltet die Inszenierung neben wirklich starken, unter die Haut gehenden Szenen auch solche von grosser Trivialität; einiges erinnert an eine schlechte Las Vegas Show mit viel rotem Licht und Trockeneisschwaden. Zudem gäbe es auch punkto Personenführung und Interaktion Verbesserungspotential. Über weite Strecken herrscht gestische Hilflosigkeit. Auch die Eingriffe ins Libretto sind nicht ganz nachvollziehbar. Warum dürfen die beiden Liebenden nicht zusammenkommen? Warum wird Wladimir Igorewitsch zum Suizid gedrängt? Warum darf Igor am Ende die Jubelrufe des Volkes nur als Standbild entgegennehmen?
Und dann ist da leider noch eine eklatante Fehlbesetzung zu beklagen. Olga Guryakova verfügt über eine sämtliche Mauern Jerichos mühelos durchdringende, spannend timbrierte Sopranstimme, welche jedoch der frömmelnden, melancholischen Jaroslawna in ihren lyrischen Passagen alles andere als angemessen ist. Zwar kann sie damit mühelos über grossen Männerchören schweben, was sehr effektvoll ist, doch gerät zum Beispiel das wunderschöne Lamento im vierten Akt zu einer entsetzlichen Qual für die Ohren der Zuschauer. Je mehr sie ihr scheinbar unerschöpfliches stimmliches Volumen aufdreht, desto gefährdeter wird leider auch die Intonation. Die Idee, sie durchgehend in ihrem traditionellen Kostüm im Glockenturm mit den Ikonen eingesperrt zu lassen, ist toll und sie spielt diese leicht an Julija Timoschenko erinnernde Frau auch glaubwürdig. Erst im letzten Bild (dem zerstörten Grosny?) hat sie unter dem Schreibtisch Igors Zuflucht vor dem Bombenhagel gesucht.
Der eigentliche Höhepunkt des Stücks, die berühmten Polowzer-Tänze, bringt Pountney schon früh (durch Umstellung der Akte zwei und drei) auf die Bühne. Dramaturgisch macht diese Umstellung durchaus Sinn. Glücklicherweise lässt der Choreograf Renato Zanella diese Tänze nicht einfach als folkloristische Balletteinlage ablaufen. Die Gefangenen werden von den Siegern regelrecht vorgeführt und entwürdigt. Doch leider wird diese Idee durch andauernde Wiederholung plattgewalzt, auch hier fehlt eine Entwicklung. Zudem stört das Stampfen des ersten Auftritts des Balletts den feinstimmigen Damenchor empfindlich. An Peinlichkeit kaum zu überbieten sind dann leider die tanzenden Taliban mit ihren Waffen im dritten Akt. Wenn das als Konterkarierung gedacht war, dann ist es gründlich misslungen.
Das Publikum nahm diese längst fällige Wiederbegegnung (die letzte Inszenierung war 1967/68 in Zürich zu sehen gewesen und einige Jahre später folgte hier ein einmaliges Gastspiel aus Russland) mit einem zentralen Werk der russischen Opernliteratur mit sehr freundlichem Applaus auf und für Gesprächsstoff auf der Premierenfeier war auch gesorgt.
Inhalt:
Das Steppenvolk der Polowzer überfällt immer wieder eine Grenzstadt in Russland. Der regiernde Fürst Igor stellt mit seinem Sohn Wladimir eine Armee zusammen, um diese angriffslustigen Feinde in die Schranken zu weisen. Während seiner Abwesenheit soll sein Schwager Galitzkij das Land regieren. Auch seine Frau Jaroslawna bleibt zurück.
Doch Galitzkij nimmt seine Verantwortung nicht wahr und verprasst das Geld der Staatskasse mit Saufgelagen, schändet zusammen mit seinen Kumpanen Mädchen und misshandelt die Bauern. Von Jaroslawna verlangt er, dass sie ihn in seinem Bestreben, die Macht endgültig zu übernehmen, unterstützt. Sie weigert sich, obwohl sie die Nachricht erhält, dass der Angriff auf die Polowzer erfolglos geblieben und Igor gefangen genommen worden sei.
Im Lager der Polowzer lernt Kontschakowna, die Tochter des Khans, Wladimir kennen und lieben. Beide schwören sich ewige Treue.
Igor erhält von einem getauften Christen ein Angebot zur Flucht, fühlt sich jedoch durch ein Versprechen, das er Khan Kontschak gegeben hat, gebunden.
Die Polowzer unternehmen weitere Beutezüge ins Nachbarland, verschleppen Frauen und Kinder. Igor will diesem Treiben nicht mehr länger tatenlos zusehen und entschliesst sich nun doch zur Flucht, um seine Heimat zu verteidigen. Wladimir und Kotschakowna bleiben zurück. Sie erhalten trotz aller Wirren die Erlaubnis zur Eheschliessung.
Jaroslawna beklagt vor den zerstörten Mauern der Grenzstadt ihr trauriges Schicksal. Da sieht sie ihren Mann und dessen Retter, den getauften Owlur, nahen. Das Volk strömt herbei und bejubelt das wiedervereinte Paar.
Werk:
Alexander Borodin (1833 – 1887) arbeitete gut 18 Jahre an seinem Hauptwerk – und konnte es dennoch nicht vollenden, da er frühzeitig einem Herzinfarkt erlag. Sein Freund Rimski-Korsakow und dessen Schüler Glasunov vervollständigten das beinahe fertig komponierte Grosswerk und erstellten eine spielbare Fassung. Neben seiner Arbeit als Naturwissenschaftler (Doktor der Medizin, Professor für organische Chemie) befasste Borodin sich ab 1860 auch intensiv mit dem Komponieren. Wobei er selbst die Musik als „Zeitvertreib, als eine Erholung von ernsteren Beschäftigungen“ bezeichnete. Seine Begegnung mit Mili Balakirew führte zu Borodins Aufnahme in die Gruppe der Fünf (Mussorgsky, Cui, Rimski-Korsakow, Balakirew, Borodin), einer Komponistenvereinigung, auch „Das mächtige Häuflein“ genannt, welche sich für eine episch-romantische, nationalrussische Kompositionsweise als Erben Glinkas einsetzte und sich von westlich orientierten Komponisten (Tschaikovsky, Rachmaninov) zu distanzieren versuchte.
Das monumentale Epos FÜRST IGOR lebt vor allem durch seine wirklich beeindruckenden Chorszenen und Ballett-Einlagen (die Polowetzer-Tänze sind weltberühmt und wurden auch schon am Opernhaus Zürich aufgeführt – z.B. als „Vorspiel“ zu GISELLE!). Die Arien (besonders die für die tiefen Stimmen) erinnern an russische Sakralmusik, während das Lamento der Yaroslavna die Melancholie der russischen Seele verströmt. Die Musik zu den Akten zwei und drei ist von Orientalismen geprägt.
Für das Musical KISMET (1953) bedienten sich Robert Wright und George Forrest beinahe komplett bei Borodin. Dafür wurde Borodin posthum ein Tony-Award verliehen. Der Song Stranger in Paradise aus diesem Musical basiert auf den Polowetzer-Tänzen und wurde u.a. durch Tony Bennett und Bing Crosby ein Welthit.
Erfolgreich war auch die Rap-Version THE RAPSODY feat. Warren G. and Sissel (1997).