Zürich: FORSYTHE, Ballettabend, 26.02.2020
Dreiteiliger Ballettabend anlässlich des 70. Geburtstages von William Forsythe und dessen langjährige Verbundenheit mit dem Ballett Zürich | Werke: THE SECOND DETAIL | Uraufführung: 1991, kreiert für das National Ballet of Canada | APPROXIMATE SONATA | Uraufführung: 1996, getanzt wird die 2016 für Paris revidierte Fassung | ONE FLAT THING, REPRODUCED | Uraufführung: 2000 in Frankfurt | Aufführungen in Zürich: 26.1. | 30.1. | 31.1. | 1.2. | 7.2. | 14.2. | 21.2. | 22.2. und Zusatzvorstellung 26.2.2020
Kritik:
Das Ballett Zürich befindet sich auf einem unglaublichen Höhenflug und nimmt sein Publikum auf diese spannende Reise mit! Sämtliche Vorstellungen sind jeweils im Nu ausverkauft (sogar die Hörplätze!) und es werden Zusatzvorstellungen angesetzt; so war auch die gestrige Vorstellung eine solche. Dabei ist dem Publikum egal, ob es sich dabei um Stücke mit traditionellem Charakter handelt oder um Werke mit zeitgenössischer oder gar elektronischer Musik, wie z.B. bei diesem Ballettabend zu Ehren des 70. Geburtstages von William Forsythe. Forsythe arbeitet ja seit über drei Jahrzehnten mit dem Komponisten Thom Willems zusammen und so sind auch die drei Choreografien, welche Forsythe für diesen Abend mit dem Ballett Zürich einstudierte, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Willems entstanden. Im ersten der drei Werke, THE SECOND DETAIL, beginnt die Musik mit einem pochenden Tic-tac, gewinnt zunehmend an Intensität und unerbitterlicher Mechanik. Ebenso die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, welche sich mal mit jazzigen Verrenkungen und komischen X-Bein Stellungen in Szene setzen, mal den pulsierenden Rhythmus aufnehmen oder konterkarieren, dann wieder in Pirouetten drehen wie beim Eiskunstlauf. Grandios einmal mehr die Eroberung des Raums, welchen Forsythe mit den sechs Tänzerinnen und sieben Tänzern auslotet (am Ende gesellt sich auch noch Anna Khamzina als „weisse Dame“ dazu, hinreissend kostümiert durch Issey Miyake). Die gesamte Choreografie wirkt in all ihrer Komplexität doch erstaunlich spielerisch und „leicht“ - und die exzellente Truppe mit Francesca Dell'Aria, Aurore Lissitzky, Meiri Maeda, Giulia Tonelli, Elena Vostrotina, Elizabeth Wisenberg, Cohen Aitchison-Dugas, Wei Chen, Jonah Cook, Jesse Fraser, Mark Geilings, Alexander Jones und Gary Solan strahlt eine mitreissende Joie de vivre aus!
Das Wort „Ja“ ist auf die dunkelblaue Rückwand in APPROXIMATE SONATA (2016), dem zweiten Werk des Abends, projiziert. Vielleicht heisst das „Ja, schaut her“? Denn das Stück für vier Paare beginnt mit dem ersten Paar im Ungewissen, Vagen, Suchenden. Das erste Paar, Michelle Willems und Matthew Knight, scheint die Möglichkeiten des Pas de deux zu erkunden, verfällt auch mal in schlabberige Posen. Die Kostüme von Stephen Galloway sind den auch locker gehalten, die Männer in Blau und Magenta, die Damen in schwarzen Trikots. Das zweite Paar mit Rafaelle Queiroz und Jan Casier legte mehr pathetische Züge in seinen Pas de deux. Nun folgt ein kurzer Gruppentanz aller Paare. Danach legt das dritte Paar (Anna Khamzina und Esteban Berlanga) fliessendere und langsamere Bewegungsabläufe vor. Fantastisch waren die Beinarbeit von Anna Khamzina und das Solo von Esteban Berlanga zu musikalischen Mini-Explosionen. Das vierte Paar mit Elena Vostrotina (sie zusätzlich zum schwarzen Trikot in giftgrün-gelber Schlabberhose) fand sich jeweils nur kurz zusammen, die Tänzerin und der Tänzer schienen mehrheitlich für sich alleine nach Ausdrucksmöglichkeiten zu forschen, das “Ta-ta-te“-Ostinato kontrapunktierend. Die gesamte Choreographie wirkt unglaublich spannend und wenn dann der Vorhang fällt (das erste Paar hat eben wieder begonnen), scheint alles weiterzulaufen.
Ein gewaltiges Rumpeln eröffnet das dritte Stück des Abends: ONE FLAT THING, REPRODUCED. Die vierzehn Tänzerinnen und Tänzer ziehen Metalltische auf die Bühne – und diese Tische werden in den folgenden knapp 20 Minuten auf atemberaubende Art und Weise betanzt, übersprungen und geschoben, so quirlig, so virtuos, dass man gar nicht mehr weiss, wo man hingucken muss. Unglaublich die Sogwirkung, unglaublich auch, was da abgeht, man kriegt kaum alles mit. Und doch bewegen sich die sechs Tänzerinnen (Francesca Dell'Aria, Mariana Gasperin, Sujung Lim, Meiri Maeda, Giulia Tonelli, Michelle Willems) und acht Tänzer (Luca Afflitto, Cohen Aitchison-Dugas, Esteban Berlanga, Wei Chen, Jesse Fraser, Mark Geilings, Dominik Slavkovský, Lucas Valente) mit traumwandlerischer Sicherheit um, auf und unter diesen wohl gefährlich scharfkantigen Objekten. Es ist ein Erkunden (als gedanklicher Hintergrund dienten Forsythe Scotts und Shackeltons Tagebücher zur Südpolexpedition und Schriften von Francis Spufford) der Möglichkeiten des Tanzes – eine lärmige, ekstatische Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten, die ein enormes Vertrauen in alle Beteiligten voraussetzt. Die Verständigung erfolgt mittels visueller, energetischer Zeichen, manchmal ist gar ein akustischer Schrei notwendig. Die Präzision, welche die Tänzer*innen des Balletts Zürich in diesem Tempo und mit den unfassbaren Verästelungen in alle Glieder und Muskeln an den Tag legen, ist hinreissend – das Publikum ist dann auch - wenn die Tische am Ende erneut donnernd nach hinten gezogen werden - zu Recht aus dem Häuschen. Jubel für die famose Truppe und eine verdiente standing ovation.
Werk:
William Forsythe (geboren 30. Dezember 1949 in New York) zählt zu den wichtigsten Choreografen der Gegenwart. Als Tänzer arbeitete er in John Crankos Stuttgarter Ballett und stellte dort auch seine ersten eigenen Choreografien vor, was ihm den Weg zum Ballettdirektor des Frankfurter Balletts ebnete. Dort feierte er ab 1984 20 Jahre grosse Erfolge (zu Beginn mit Widerständen des konservativen Teils des Publikums) und führte das Frankfurter Ensemble zu Weltruf. 2005 gründete er seine eigene Forsythe Company, seit 2015 ist er freischaffend. William Forsythe wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Kritikerpreis für Tanz, dem Faust, dem Goldenen Löwen am Internationalen Tanzfestival für zeitgenössischen Tanz in Venedig und dem Laurence Olivier Award.
Forsythe trug mit seinem Werk entscheidend dazu bei, die Tanzsprache aus ihrer klassischen und neoklassischen Erstarrung zu lösen, indem er die Tänzer in ein völlig neues Licht stellte, die Interaktionen und Formationen geradezu mathematisch und architektonisch ausgeklügelt auf anspruchsvolle intellektuelle Art kreierte, dabei aber durchaus Sinnlichkeit und Humor nicht zu kurz kommen liess. Seine Werke werden von allen Compagnien weltweit einstudiert und scheinen nicht zu altern.
Forsythe will das von ihm entwickelte Notationssystem, mit dem sich eine Choreografie mittels einer Partitur rekonstruieren lässt, Künstlern, Tanzwissenschaftlern und einer Fachöffentlichkeit in der web-basierten „Motion Bank“ – die sich noch in der Erprobung befindet – zugänglich machen. Ihm geht es um eine „Lesbarkeit von Choreografie“ und um „fundamentale Organisationsprinzipien“ des Tanzes. Die Bundeskulturstiftung (Halle) stellt der von Forsythe initiierten Digitalen Tanzbibliothek 1,4 Millionen Euro zur Verfügung. (Quelle: art-magazin.de)