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Zürich: DORNRÖSCHEN, 10.10.2020

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Dornröschen

copyright: Gregory Batardon, mit freundlicher Genehmigung Ballett Zürich

Ballett in drei Akten | Musik: Pjotr Tschaikowski | Choreograf der Uraufführung: Marius Petipa | Uraufführung: 3. Januar 1890 in St. Petersburg | Uraufführung der Chorografie von Christian Spuck: 10.10.2020 | Weitere Aufführungen in dieser Saison: 14.10. | 17.10. | 18.10. | 27.10. | 29.10. | 31.10. | 7.11. | 8.11. | 18.12. | 20.12. | 26.12.2020 | 11.3. | 24.3. | 28.3.2021

Kritik:

Gratwanderung I, Ballett in Zeiten der Pandemie

Es gehört eine grosse Portion Mut (manche würden sagen Verwegenheit) dazu, in Zeiten gerade in der Schweiz rasant steigender Infektionsraten ein grosses Handlungsballett mit allen Zutaten wie Pas de Deux, Pas de Quatre, Gruppentänzen, Berührungen und gar Küssen live vor 900 Zuschauern auf die Bühne zu bringen. Da die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich eine eigene, geschlossene Infektionsgruppe bilden, ist dies gemäss den geltenden Richtlinien der Gesundheitsbehörden machbar. Es fragt sich allerdings (leider) wie lange noch? Was passiert, wenn es trotz aller Vorsicht der Beteiligten doch zu einem Infektionsfall im Corps oder beim Junior Ballett kommen sollte? Man wagt gar nicht, daran zu denken. Nichtsdestotrotz – man ist mehr als dankbar, dass das Opernhaus Zürich und das Ballett Zürich das Wagnis eingehen, dass Live-Kultur stattfinden kann, dass man der mehr und mehr umsichgreifenden Panikmache die Stirn bietet. Das begeisterte Publikum verlieh mit seinem enthusiastischen Applaus am Ende des Premierenabends dieser Dankbarkeit vehement Ausdruck.

Gratwanderung II, die (leichte) Umschreibung der Handlung

Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck hat für seine Choreografie die Handlung etwas verändert, aus der Prinzessin Aurora ein Feenkind gemacht, das nach dem Tiefschlaf nicht vom Prinzen Desiré, sondern von ihrer Ziehmutter, der Fee Carabosse, wachgeküsst wird, von eben dieser Ziehmutter, der Aurora vom Königspaar seinerzeit als Baby geraubt worden war, nun aber von Carabosse scheinbar doch magische Fähigkeiten geerbt hat. Aurora zeigt nun nach ihrer Erweckung dezent emanzipatorische Züge, versetzt erst die ganze Hofgesellschaft, dann auch die anderen Feen und selbst die Fliederfee und am Ende gar den Prinzen erneut in Erstarrung, und macht sich lächelnd davon. Dies ist eine überraschende Wende, das finale Kostümfest mit den Märchenfiguren bleibt aus, ebenso das traute Glück von Prinz und Prinzessin. Christian Spuck legt den Schwerpunkt ganz auf den Kindesraub des egoistischen Königspaars, den Schmerz der „Ziehmutter“ Carabosse, die auf einmal nicht mehr böse erscheint und das Kind nicht deshalb verflucht, weil sie nicht zur Taufe geladen war, sondern aus Schmerz darüber, dass man ihr ihr Liebstes geraubt hatte. Carabosse begleitet von nun an die Handlung, mal dämonisch, mal mitfühlend, zerrissen zwischen „Mutterliebe“ und Rachsucht. William Moore tanzt und interpretiert diese „Fee“ mit einer bestechenden Bühnenpräsenz, macht die Verzweiflung dieses geflügelten Wesens erlebbar, kraftvoll und zerbrechlich zugleich. Grossartig! Christian Spuck hat die Musiknummern für seine Fassung etwas umgestellt, was aber bei so einem Nummernballett durchaus legitim ist. Seine Choreografie zeichnet sich durch viele wunderbar einfühlsame und genau beobachtete Details aus, auch der Humor kommt nicht zu kurz. Das Dämonische wird dezent, aber an den passenden Stellen wirkungsvoll eingesetzt. Da sich die Eingriffe in die Grundstruktur der Handlung (und der musikalischen Abfolge) in Grenzen halten, ist die Gratwanderung gelungen. Natürlich muss man auf die beliebtesten Nummern nicht verzichten, das Rosen-Adagio ist da, allerdings bei weitem nicht so spektakulär umgesetzt wie in der Originalchoreografie von Petipa. Auf Tellertutus wird verzichtet, stattdessen trägt Aurora einen wadenlangen Tutu. Auch der grosse Pas de deux von Aurora und Desiré wirkt etwas kalt und distanziert. Estaban Berlanga tanzt einen Prinzen Desiré mit weich fliessenden Bewegungen voller Grazie und Eleganz, etwas entrückt insgesamt, einer von diesen in Balletten aus dem 19. Jahrhundert bekannten Träumerprinzen, wie Siegfried in SCHWANENSEE oder Albrecht in GISELLE. Michelle Willems zeigt eine Aurora von kindlicher Verspieltheit, macht die Wandlung von der trotzig Pubertierenden zur selbstbewussten jungen Frau mit tänzerischer Finesse glaubhaft.

Gratwanderung III, die Feen

Den grössten „Coup“ setzt Spuck wohl mit seiner Sicht auf die Feen. Die Feen sollen also die Ziehmütter der Babys im Feenreich sein, bevor diese Kinder zu den Menschen gebracht werden. Das Eindringen der Menschen in dieses Feenreich wird gar nicht gern gesehen. Allerdings sind diese Feen allesamt mit Tinkerbell-Flügeln versehene Männer, was dem Ganzen einen etwas affektiert-tuntigen Anstrich verleiht, gemildert allerdings durch virtuoses, insektenhaftes Getrippel. Manchmal erklimmen die Feen die Wände und kleben dann wie geflügelte Insekten daran. All dies ergibt einige lustige Situationskomik, etwa wenn als Schlaflieder für die Babys Songs wie Tom Jones' Sex Bomb geträllert  werden, und Christian Spuck schafft die diffizile Gratwanderung zwischen affektierten Drama-Queens und schwuler Elternliebe gerade noch ohne abzustürzen. Diese Feen scheinen berühmten Persönlichkeiten zu ähneln, aber vielleicht verrenne ich mich da. Jedenfalls erinnerte mich z.B. die Goldfee (George Susman) an Don Quijote. Umwerfend gut wirft sich Jan Casier als Fliederfee mit rosa Handtäschchen in die Rolle. Da stimmt jede (tuntige) Handbewegung, jeder Augenaufschlag, das Richten der Perücke, das Wegwischen eines Flusels auf dem Revers – eines Ballett-Oscars würdig ist diese Darstellung! Aber erfrischend ist, dass all diese Feen in ihrer Affektiertheit von Christian Spuck doch sehr individuell gezeichnet werden: In den Variationen brillieren Iacopo Arregui als Silberfee, Dominik Slavkovský als Blaue Fee, Wei Chen als Grüne Fee und Mark Geilings als Rote Fee. Dazu kommen, wie erwähnt, die beiden Hauptfeen: Jan Casier als Fliederfee und William Moore als Carabosse (dämonisch schwarze Fee).

Die Nebenfiguren

In der Charakterisierung und Herausarbeitung der Nebenfiguren zeigt Christian Spuck entscheidende Grösse und Einfühlungsvermögen: An erster Stelle sind die beiden ersten Solistinnen des Balletts Zürich zu nennen: Giulia Tonelli und Elena Vostrotina. Im Prolog glänzt Giulia Tonelli als 1. Hausdame mit Staubwedel und weissem Häubchen in einer virtuos und rasant choreografierten „Dienernummer“ zusammen Daniel Mulligan, dem Corps und dem Junior Ballett. An dieser Stelle auch ein Kompliment an die Maske! Das ist fantastisch, was mit Make-up und Perücken für diese Produktion geleistet wurde. Im zweiten Akt tanzt die wie immer äusserst wandelbare Giulia Tonelli mit wunderbar präziser Fussarbeit und elegantem Charme als Verlobte des Prinzen um dessen Gunst und Aufmerksamkeit – vergeblich, denn der ist gedanklich bereits auf Visionen Auroras fixiert. Elena Vostrotina ist eine herrlich ambitionierte Gouvernante Auroras und ganz scharf auf den etwas ungelenken Zeremonienmeister, der gekonnt von Matthew Knight gegeben wird. Das kindesräuberische Königspaar wird von Inna Bilash und Lucas Valente mit geschmeidiger Eleganz getanzt. Lucas Valente berührt auch in einem schönen Pas de Deux mit seiner pubertierenden Tochter Aurora, eine wunderbare Herausarbeitung einer Vater-Tochter Beziehung.

Bühne und Kostüme

Wie bereits bei Spucks Choreografien zu NUSSKNACKER und DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN entwarf Rufus Didwiszus das Bühnenbild, diesmal ein dreh- und verschiebbares Objekt aus gigantischen Türen und schmucklosen Räumen, das der Geschichte den gebotenen märchenhaften, aber auch alptraumhaften Rahmen gibt. Durch seine Grösse und Dominanz schränkt diese Raumgestaltung aber die tänzerischen Möglichkeiten räumlich wohl etwas ein. So sind raumgreifende Sprünge und gross angelegte Ballszenen nicht möglich. In den Zimmerfluchten verstecken sich auch die gnomhaften Ladies of Time, dickliche Wesen in Tutu und langen Bärten. Eine greift zum Beispiel mit der vergifteten Spindel in die Handlung ein, eine andere dient zeitweise als Ablage für das Handtäschchen der Fliederfee. Nach der Pause ist das Gebäude verwarlost, blattlose Ranken wuchern, Graffiti zieren die Mauern (Wake me up when I'm famous). Eine wahre Augenweide sind die geschmackvollen, luxuriösen Kostüme von Buki Shiff, da wurde wahrlich aus dem Vollen geschöpft!

Die Musik

Wie bei allen Aufführungen in diesem speziellen Zürcher-Corona Modell spielt die Philharmonia Zürich live aus dem Probesaal am Kreuzplatz und wird mittels Glasfasertechnik in Lichtgeschwindigkeit ins Opernhaus übertragen. Auch diesmal klappt das hervorragend, der Klang ganz wunderbar abgemixt, viel besser z. B. als bei der CSÁRDÁSFÜRSTIN, wo halt erschwerend für die Balance die Stimmen zu berücksichtigen waren. Robertas Šervenikas ging die reichhaltige Partitur Tschaikowskis mit Verve, aber auch mit subtilem Tiefgang an. Besonders hervorzuheben die ergreifenden Soli von Hanna Weinmeister (Violine) und Lev Sivkov (Violoncello).

Fazit

Über weite Strecken ein unterhaltsamer, humorvoller und virtuoser Abend mit glänzenden Tänzerinnen und Tänzern und mit das Auge beglückenden Kostümen!

Inhalt:

Zur Taufe der Prinzessin Aurora sind sechs Feen eingeladen, die ihr Patenkind mit allen erdenklichen guten Fähigkeiten ausstatten. Einzig die böse Fee Carabosse hat keine Einladung erhalten und rächt sich mit einem Fluch: Aurora möge sich an einer Spindel stechen und sterben. Die gute Fliederfee kann den Fluch zwar nicht rückgängig machen, aber doch zumindest abschwächen. Als die herangewachsene Aurora sich tatsächlich sticht, fällt sie mit sämtlichen Schlossbewohnern in einen hundertjährigen Schlaf, aus dem sie nur ein Prinz wiedererwecken kann. (Text: Opernhaus Zürich)

Werk:

Tschaikowskis DORNRÖSCHEN ist das dritte grosse Handlungsballett des russischen Komponisten (neben NUSSKNACKER und SCHWANENSEE). Seit seiner Uraufführung gehört es zum Standardrepertoire aller grossen Ballettcompagnien, erreichte aber nie ganz die Popularität der anderen beiden Stücke. Dies mag einerseits an der als zu sinfonisch empfundenen Musik liegen (die allerdings zu Tschaikowskis gehaltvollsten Ballettpartituren gehört), andererseits ist die Umsetzung für Choreographen nicht ganz einfach, wenn man das Ballett nicht als biederes Märchen auf die Bühne bringen will. So erfuhr DORNRÖSCHEN denn auch zahlreiche Bearbeitungen und Neuinterpretationen. Bereits 1921 schuf Sergeiew im Auftrag Djagilews eine Fassung, mit Einbezug von Musik aus der Feder Stravinskys. Die (auch in Zürich nicht unbekannte) Marcia Haydée schuf eine Version für das Stuttgarter Ballett, Valdimir Malakhov eine für das Staatsballett Berlin. In Zürich wurde letztmals 2011/12 die radikal entstaubte, tief berührende Version des schwedischen Choreografen Mats Ek gezeigt. Ek suchte darin nach dem dunklen Punkt im Märchen und siedelte das Geschehen im Drogenmilieu an. Der Züricher Ballettdirektor wird in seiner neuen Choreografie ein besonderes Augenmerk auf die Fee Carabosse legen.

Karten

 

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