Zürich: DIE HAMLETMASCHINE, 24.01.2016
Musiktheater in fünf Teilen | Musik: Wolfgang Rihm | Text: vom Komponisten, nach Heiner Müllers gleichnamigem Text | Uraufführung: 30. März 1987 in Mannheim | Aufführungen in Zürich: 24.1. | 29.1. | 31.1. | 2.2. | 7.2. | 11.2. | 14.2.2016
Kritik:
Nach der 100 Minuten dauernden Konfrontation mit diesem hoch komplexen - von gescheiteren Menschen als mir mehrfach klug analysierten - Text und der ebenso komplexen, schwer verdaulichen musikalischen Sprache Rihms, ist man regelrecht erschlagen von Fragen, Eindrücken, Gedanken, dialektischen Auseinandersetzungen, die sich im Kopf fortspinnen. Das Opernhaus Zürich hat mit dieser Aufführung Grandioses geleistet - und das Premierenpublikum hat den Aufwand, das Werk und den anwesenden Komponisten, die Interpreten und das Inszenierungsteam schon beinahe enthusiastisch und zu Recht gefeiert. Was das Haus und natürlich vor allem die Menschen auf und hinter der Bühne, im Orchestergraben und den seitlichen Logen geleistet haben, verdient allergrössten Respekt.
Kein durchschnittlich intelligenter Mensch kann Heiner Müllers Text bei der ersten Begegnung erfassen, verstehen, analysieren. Selbst wenn man ihn gelesen hat (das Opernhaus Zürich druckt ihn verdankenswerter Weise vollständig im Programmheft ab und liefert auch Hintergründe und Anlysen kluger Männer mit dazu), bleibt er in seiner fragmentarischen, hoch artifiziellen, von Selbst- und Fremdzitaten nur so strotzenden Form ein Rätsel. Doch spürt man seine Kraft, seinen Rhythmus, wird gefangen und bleibt doch mit vielen Fragen ohne Antworten allein gelassen im Netzwerk hängen. In seinen SECHS PUNKTEN ZUR OPER fordert Müller in einer seiner vielen Schriften u.a. dass im Bereich der Oper Librettist, Dramaturg, Komponist und Regisseur nicht von Beginn weg kooperieren sollen, wie das über Jahrhunderte gemacht wurde. Er sagt „Damit das Ganze mehr als seine Teile ist, muss jeder Teil zunächst ein Ganzes sein. ... Je stärker die Bauteile ihre Selbständigkeit behaupten, desto komplexer das Gesamtkunstwerk.“ Diese These hat die Zürcher Produktion bestechend erfüllt: Da ist der vielschichtige Text, der auf jeglichen linearen Handlungsablauf verzichtet, da ist die Musik von Wolfgang Rihm, die mit ihren übermässigen Intervallen, ihren Trümmern aus der Musikgeschichte, ihrem exzessiven Einsatz des umfangreichen Schlagzeugapparats (ungefähr 86 Schlaginstrumente werden gebraucht, die sechs seitlichen Logen sind durch das Schlagwerk besetzt), ihrem schwierigen Chorsatz, ihrer die gesamte Bandbreite der modernen Musik auskostenden Expressivität. Und da ist ein Inszenierungsteam am Werk (Regie: Sebastian Baumgarten, Bühnenbild: Barbara Ehnes, Kostüme: Marysol Del Castillo, Video-Design: Chris Kondek, Choreografie: Kinsun Chan), welches den Text mit vielerlei starken, bildgewaltigen Ideen auflädt, interpretiert. „Der Schrecken, der von Shakespeares Spiegelungen ausgeht, ist die Wiederkehr des Gleichen. ... Die wachsende Beschleunigung sprengt den Kulturkreis.“ wird da auf den Zwischenvorhang projiziert und gleich zu Beginn spricht einer der Hamlets: „Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen Europas.“ Wenn man das liest, hat man heutzutage unweigerlich die Bilder der Flüchtlinge im Kopf – und so lässt auch Baumgarten die zersplitterten Aktionen im Bauch eines Frontex-Schiffes spielen, in Projektionen sieht man die Flüchtlinge an Deck, auch mal ein brennendes Asylantenheim, eine Pegida Demonstration. Zwar hat Jüri Reinvere kürzlich in einem Beitrag für die FAZ geschrieben: „Wie kann man die Oper aktueller und politischer machen? Schon die Frage ist falsch gestellt: Solch ein Musiktheater hält die Opernbesucher für dumm und serviert ihnen Politik als dünne Fettglasur auf einem alten Kuchen.“ Da mag er grundsätzlich nicht ganz unrecht haben, doch die Art und Weise wie Baumgarten in der HAMLETMASCHINE damit umgeht, ist für mich durchaus vertret- und nachvollziehbar, zumal er das Thema nicht penetrant auswalzt, was bei diesem Text natürlich auch nicht gehen würde. Die drei Hamlet Figuren lässt er als Ebenbild des Autors Müller auftreten, Stirnglatze, schwarze Hornbrille, schlaksiger Gang. Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald als Hamlet I und II spielen, schreien und erbrechen die Textfetzen, die Repetitionen mit faszinierender, verstörender Kraft. Scott Hendricks als Hamlet III fordert seinem Bariton alles ab. Er bewältigt die riesige Gesangspartie, welche den Stimmumfang eines jeden Sängers sprengt, mit überwältigender Ausdrucksstärke, von schier unerreichbaren Tiefen zu falsettierenden Höhen. Eine tief beeindruckende Gewaltsleistung! Der Reigen der Bilder geht weiter: Von den Demonstrationen auf dem Alexanderplatz im November 89, wo in einem symbolischen Akt Marx zu Grabe getragen wird, zurück ins RAF Gefängnis Stammheim, wo Ulrike Meinhof (Ophelia) einsitzt, ihre Zelle zerstört, sich als Rächerin an den Männern sieht – da ist dann der Schritt zur Massenmörderin Susan Atkins, diesem brutalen Mitglied der Manson Family (Ermordung u.a. der Schauspielerin Sharon Tate, der Ehefrau Roman Polanskis) im Schlussbild nicht mehr weit. „Ich stosse allen Samen aus, den ich empfangen habe ... Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.“ Das ist harte Kost, nichts für Gutmenschen. Nicola Beller Carbone muss dazu nicht nur stimmlich an die Grenzen ihres hochdramatischen Soprans und darüber hinaus gehen, die Partie verlangt von ihr das Äusserste ab, was man einer Darstellerin noch zumuten kann. Hut ab auch vor dieser Leistung. Für das Scherzo, den dritten Akt, befinden wir uns wie in Shakespeares Vorlage, quasi im Theater. Hier ist es The Factory, Andy Warhols Kulturfabrik in New York, in der sich Bohemiens, Homosexuelle und Stars wie Mick Jagger, Bob Dylan und Salvador Dalí gerne aufhielten. Hamlet will nun eine Frau sein, wird von einem skurrilen Ballett eingefangen, als Nutte verkleidet. Doch das ist auch keine Lösung. Er zieht sich zurück, Episoden des Kult-Sandmännchens des DDR Fernsehens überlagern sich mit Pegida-Demonstrationen, ein überwältigendes Schlagwerk Crescendo führt in die Gegenwart oder nahe Zukunft, wieder auf den Alex zum Tag der Deutschen Einheit, 3.10.2016, „friedloser Oktober“. Das Volk in mit verschiedenen Emoticons bedruckten T-Shirts, ein Schwarz-Rot-Goldenes Kreuz schwingend, probt den Aufstand, Mao, Lenin und Marx geistern als Kopffüssler über die Bühne. Verquere Coca Cola Hymnen erklingen. Vieles begreift man nicht, doch handwerklich ist diese Inszenierung bestechend gut gelungen und der Regisseur Sebastian Baumgarten kann sich damit bei jenem Teil des Premierenpublikums rehabilitieren, das vor drei Jahren seinen DON GIOVANNI doch eher zwiespältig aufgenommen hat, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Ja, die einzelnen Teile dieses Opernabends sind Meisterwerke, die durchaus für sich alleine bestehen können, doch in der Verschmelzung erlangen sie eine faszinierende und auch (seien wir ehrlich) verstörende und viele Fragen aufwerfende Grösse. Gabriel Feltz am Pult der Philharmonia Zürich hält die komplexen Fäden mit grosser Übersicht zusammen, sorgt für einen mächtigen, gewaltigen und wo nötig auch schrillen, aufbäumenden Gesamtklang, aber man kann nicht sagen, dass es unerträglich laut geworden wäre. Fantastisch auch die Leistung des Chors der Oper Zürich (Einstudierung: Jürg Hämmerli, Michael Zlabinger), der Tänzer und Schauspieler und der Sängerinnen mit kleineren solistischen Aufgaben.
Einige Plätze blieben zwar leer, doch niemand im Parkett verliess das Theater vorzeitig, alle lauschten mit hoher Konzentration den Textfragmenten, der „Musik“, verfolgten die manchmal beinahe irre machende Aktion mit gebannter Aufmerksamkeit. Es sind nur sieben Vorstellungen angesetzt (zeitgenössische Oper gilt halt nach wie vor meistens als Kassengift) und da es unwahrscheinlich ist, dass man dem aufwändigen Werk bald mal wieder begegenen wird, ist ein Besuch von DIE HAMLETMASCHINE durchaus zu empfehlen, vor allem wenn man intellektuelle Herausforderungen liebt und nicht nur romantisch glotzen will.
Inhalt und Werk:
Heiner Müllers dekonstruktivistischer, bizarrer Text, 1977 entstanden quasi als Begleitprodukt einer Übersetzung von Shakespeares Drama, bietet keine eigentliche Handlung. Er lässt Publikum und Regisseuren viel Spielraum für interpretatorische Ansätze und Assoziationen.
Ein in drei Rollen aufgesplitterter Hamlet tritt auf: Als alter Schauspieler, als junger Schauspieler, als Bariton.
Im ersten Teil (Familienalbum) erfahren wir, dass sich Hamlet nicht mit seinem Vater identifizieren kann und will, seine Mutter vergewaltigt (und so quasi versucht, seine Geburt rückgängig zu machen), wir erleben seinen Hass auf Familie, Menschheit und sich selbst. Im zweiten Teil (Das Europa der Frau) tritt Ophelia auf, sie hat aufgehört, sich zu töten und wechselt von der Rolle des Opfers in die Rolle der Rächerin an den Männern. Sie reisst sich das Herz aus der Brust, geht jedoch als Untote auf die Strasse. Im dritten Teil (Scherzo) treffen Hamlet und Ophelia aufeinander. Hamlet wird in einer Pantomime von den Philosophen mit Büchern beworfen. Hamlet möchte eine Frau sein, nichts ist, wie es scheint, die Personen werden gegliedert und gespalten. Ein grosser Weltekel und eine Verdrossenheit nimmt Besitz von Hamlet. Im vierten Teil (Pest in Buda, Schlacht um Grönland) legt Hamlet Kostüm und Maske ab, er erklärt, dass er nicht Hamlet sei. Er wird zum Autor, steht im misslungen Aufstand von Budapest, zerrissen zwischen der kommunistischen Utopie und Empathie mit der antistalinistischen Revolte. („Spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx, Lenin, Mao“). In der „Schlacht um Grönland“ geht es um Träume und mehrdeutige Assoziationen. Hamlet (der Autor) will eine Maschine ohne Schmerz und Gedanken sein. Ophelia sitzt im fünften Teil (Wildharrend / In der furchtbaren Rüstung / Jahrtausende) als Elektra in einem Rollstuhl. Sie wird von Männern in Mullbinden geschnürt. Als Denkmal versteinerter Hoffnung bleibt sie allein auf der Bühne zurück.
Wolfgang Rihm (geboren 1952) ist ein erfolgreicher zeitgenössischer Komponist mit einem umfangreichen Werkverzeichnis, welches von Kammermusik, Liedern, Bearbeitungen bis zu grossen sinfonischen Formen und Opern reicht. Er hat sich im Bereich des Musiktheaters immer wieder mit starken literarischen Texten auseinandergesetzt, z.B. in seiner Kammeroper JAKOB LENZ, nach Büchner. DIE HAMLETMASCHINE hat den Weg ins Standardrepertoire – wie so viele zeitgenössische Opern – (noch) nicht geschafft. Nach der Uraufführung in Mannheim (Dirigent Peter Schneider, mit Gabriele Schnaut als Ophelia) wurde sie wurde sie nur noch von wenigen Theatern nachgespielt und nach 1990 erschien das Werk nicht mehr auf einer Bühne, was vielleicht auch am Riesenaufwand liegt, den die Oper erfordert (ähnlich wie Zimmermanns DIE SOLDATEN). Rihm setzt einen gewaltigen Perkussionsapparat ein, ein stark besetztes Orchester, Schauspieler, Sänger, Chor, Schreiende, Elektronik und Tonband. Ganz angelegt an den dekonstruierenden Text ist auch die musikalische Sprache: Zitate von Bach, Wagner, Anklänge an traditionelle Formen wie Walzer, Choral, Arien türmen sich wie Trümmer in der musikalisch artifiziellen und hochkomplexen Landschaft.