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Zürich: DER FEURIGE ENGEL, 07.05.2017

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Der feurige Engel

copyright: Monika Rittershaus, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Oper in fünf Akten | Musik: Sergej Prokofjew | Libretto: vom Komponisten, nach Valeri Brjussow | Uraufführung: 5. November 1954 in Paris (konzertant), 29. September 1955 in Venedig (szenisch) | Aufführungen in Zürich: 7.5. | 11.5. | 14.5. | 25.5. | 28.5. | 31.5. | 2.6. | 5.6.2017

Kritik:

Noch lacht die Fahrrad fahrende Frau in der Videoprojektion auf dem Zwischenvorhang - ein herzliches, befreites Lachen ist es, Glück und Zufriedenheit verströmend, ein Lachen, das in ihrem Leben so nie stattgefunden hat – und auch nie mehr stattfinden wird. Denn sobald sich dieser Zwischenvorhang hebt, werden wir hineingezogen in eine Geisterbahnfahrt für Erwachsene, eine Fahrt die nicht gespickt ist mit profanem, billigem Horror, sondern uns durch verborgene Seelenräume führt, diese exploriert, dabei stets etwas rätselhaft bleibt, wie Seelenräume halt so sind, und gerade dadurch das Publikum wie mit eiskalter Hand packt, hineinzieht in diesen psychischen Albtraum und es bis zum Gänsehaut erregenden, kaum mehr auszuhaltenden Ende nicht mehr loslässt. Als Brjusows symbolistische Romanvorlage für Prokofjews geniale Oper entstand, waren Breuers und Freuds Theorien über die weibliche Hysterie schon bekannt. Darauf baute Prokofjew bei seiner Komposition Mitte der 20er Jahre bestimmt auf und liess diese Erkenntnisse in seine Musik und sein Libretto einfliessen. Nun, knapp 100 Jahre später, drehen der Regisseur Calixto Bieito, die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst und die für die stimmig-unheimlichen Videos verantwortliche Sarah Derendinger weiter an dieser Schraube. Bieito zeigt uns die Geschichte nämlich nicht im 16. Jahrhundert, sondern hat sie in die späten 60er/frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verlegt. (Die gekonnt hässlichen Kostüme stammen von Ingo Krügler.) Persönliche Erinnerungen an sexuelle Übergriffe auf Kinder im kleinen Dorf, in dem er aufwuchs hat Bieito darin verarbeitet, auch den letzten (bekannten) offiziell von der Kirche abgesegneten Exorzismus (1975) in Deutschland, der tödlich endete, findet Eingang in seine Inszenierung, ebenso wie das Stockholm-Syndrom oder der Fall Kampusch. Rebecca Ringst hat dazu eine eindringliche Lösung für die Bühne gefunden: Ein dreigeschossiges Metallgerüst steht auf der Drehbühne, darin eingelassen sind enge, mit mit nackten Spanplatten verkleidete Zimmer, wie Kaninchenställe. Nur ein Raum (ausser dem ärztlichen Behandlungsraum) ist tapeziert und möbliert, nämlich das Kinderzimmer, in welchem sich zwischen den Stofftieren Abscheuliches zugetragen haben muss. Die Figuren, welche diese Räume „bewohnen“, in diesem Seelenhaus herumschleichen, sind rätselhaft, tauchen in kleinen Rollen mal auf der Vorderbühne auf, ziehen sich dann wieder als stumme, mahnende Gestalten in das Haus zurück. Man fühlt sich wie in der Fernsehserie TWIN PEAKS, vieles ist angedeutet, nichts so richtig klar – und die kalte Hand des Unheimlichen ergreift einen wieder. Das hat auch etwas vom Horror Stephen Kings, vor allem wenn dann am Ende das geliebte Fahrrad der Renate noch in Flammen aufgeht muss man an FIRESTARTER und oft auch an CARRIE denken. Bieito ist ein Regisseur, der sehr genau auf die Musik hört. So ist zum Beispiel ganz am Anfang, wenn Renata verzweifelt und hysterisch ihr Rad reparieren will, das Surren des leer laufenden Rades exakt in der Musik hörbar, auch wenn im Libretto kein Rad vorkommt. Bieito lässt seine beiden Protagonisten mit einer körperlichen Intensität agieren, wie man sie noch selten auf der Opernbühne erlebt hat – und damit komme ich zum Hauptereignis dieses durch und durch packenden Abends: Ausrine Stundyte! Eigentlich fehlen die Worte, um das Überwältigende ihrer Rolleninterpretation zu beschreiben. Sie lebt diese schwer beschädigte Seele mit jeder Faser ihres Körpers, da gibt es epileptische Anfälle, autistische Szenen, gepeinigt von schrecklichen Visionen, Stimmungsschwankungen von einer Sekunde zur anderen, sexuelle Begierde, die wie aus dem Nichts in Ekel umschlägt, ein Repertoire an darstellerischer Subtilität, von spastisch verrenkten Füssen bis zu entrücktem Blick. Doch zum Ereignis wird diese Darstellung erst durch ihre vokale Kunst: Die Rolle der Renata gehört mit zu den anspruchsvollsten des Repertoires, sie steht während den fünf Akten ununterbrochen auf der Bühne, muss die gesamte Bandbreite der stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten durchqueren, vom introvertierten, verstörten Flehen bis zu weit ausschweifenden Anrufungen ihres Engels Madiel. Ausrine Stundyte kann das, sie verfügt über eine herrlich kontrollierte Stimme, die in allen Lagen und mit allen dynamischen Abstufungen perfekt anspricht. Ihre leuchtende Höhe ist phänomenal. Am Schluss, wenn sie dann in einer Szene dörflicher Massenhysterie quasi gelyncht wird (in der Vorlage wird sie von der Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt), kann man fast nicht mehr hingucken – das ist ganz starker Tobak, gepaart mit der in all ihrer Brutalität aufpeitschenden Musik Prokofjews. Gianandrea Noseda und die grandios aufspielende Philharmonia Zürich bleiben dieser Partitur nichts an hochdramatischer, aufwühlender Expressivität schuldig. Das ist alles auch (trotz grosser Besetzung und „dicker“, satter Orchestrierung) nie zu laut oder die Sänger*innen überdeckend, eine perfekte klangliche Balance ist stets garantiert. Grossen Anteil an an der Eindringlichkeit - und der damit verbundenen Gänsehaut - dieser Schlussszene hat auch der von Jürg Hämmerli einstudierte (Damen)chor der Oper Zürich. Jürg Hämmerli wurde am Ende noch ganz speziell gefeiert: Der verdiente Chordirektor geht nach 30 Jahren Tätigkeit am Opernhaus Zürich in Pension. In dieser Zeit hat er für über 120 Premieren die Choreinstudierung besorgt, unzählige Wiederaufnahmen betreut, sich mit über 70 Dirigenten und über 80 Regisseuren arrangieren müssen.

Es gibt in dieser Oper noch eine zweite Rolle, die beinahe genau so interessant ist wie die der Renata: Ihr zufälliger Begleiter auf dieser Wanderung durch das Innere ihrer Seele: Ruprecht. Am Anfang steht für ihn ja das Sexuelle im Vordergrund, er möchte diese Frau für eine schnelle Nummer gewinnen. Doch schon bald wird er hineingezogen in ihre psychischen Abgründe, wird ihr auf masochistische Art hörig. Leigh Melrose ist ideal besetzt für diesen Mann, der von Renata eigentlich nur Zurückweisung erlebt, ihr aber trotzdem bis zum bitteren Ende folgt, ihr auf ebenfalls rätselhafte Weise verfallen ist. Sein markanter, sauber und kraftvoll geführter Bariton vermag dabei genauso zu überzeugen wie seine Darstellung, welche die ganze Palette männlichen Verhaltens vom Macho im verschwitzten Unterhemd (wie Marlon Brando in ENDSTATION SEHNSUCHT) bis zum hündisch ergebenen Maso ausbreitet. Hervorragend besetzt sind auch die kleinen und kleinsten Rollen mit langjährigen verdienten Mitgliedern des Opernhauses und des IOS. Herauszuheben sind insbesondere (einmal mehr) Liliana Nikiteanu als Wirtin mit einer exzellenten Bühnenpräsenz, Pavel Daniluk als stimmgewaltiger Inquisitor, Agniezska Rehlis als interessant timbrierte Wahrsagerin und Äbtissin, Stanislav Vorobyov als bassgewaltig moralisierender Faust und Dmitry Golovnin, der seinen schneidenden, sauber geführten Tenor gekonnt als Agrippa von Nettesheim und Mephistopheles einsetzt. Ein Lob gilt auch den beiden Deutschen Doggen für ihren überlegene Ruhe ausstrahlenden Auftritt im vierten Akt. Manchmal muss man sich regelrecht zwingen, vermehrt auf die Musik zu hören, denn die szenische Umsetzung ist dermassen intensiv und stark, dass man das Akustische droht zu vernachlässigen. Höhepunkte des Abends sind neben der erwähnten Schlussszene sicher der Moment von Renata und Ruprecht in der niedrigen Dachkammer in schwindelerregender Höhe (und ohne schützendes Geländer!), die Anrufung Madiels und die Grauen und Abscheu erregende Szene im vierten Akt, wo sich die Männer (mit den Doggen) an Renata ergötzen und sie wie ein Zirkuspferdchen auf dem Salontisch tanzen lassen.

Prokofjew hat in seinem Tagebuch (wie im Programmheft zu lesen ist) folgendes angemerkt: „Man muss die ganze Dramatik und den Horror einbringen, darf aber keinen einzigen Teufel und keine einzige Vision zeigen, sonst bricht alles sofort zusammen ...“. Genau dies ist der Neuproduktion am Opernhaus Zürich so eindringlich gelungen – die Teufel MUSS man gar nicht zeigen, sie sind schon da, stets mitten unter uns.

Fazit: Ein Opernabend, der unter die Haut geht wie ein Geisterbahnfahrt für Erwachsene. Die Leistung von Ausrine Stundyte in der Rolle der Renata ist kaum in Worte zu fassen - das MUSS man erlebt haben.

Prokofjew selbst ist eine Aufführung seiner Oper zu seinen Lebzeiten verwehrt worden - langsam scheint sich das Werk nurn durchzusetzen und wird häufiger gespielt. Gut so - möge es ins Standardrepertoire Einzug halten!

Und noch eine kleine Anmerkung: Was wurde doch aus gewissen Kreisen beim Antritt der Intendanz Homoki orakelt, wenn er den Regisseur Bieito (der viele Inszenierungen an Homokis ehemaligen Wirkungsort an der Komischen Oper Berlin betreute) nach Zürich bringe, werde er damit das Zürcher Publikum gegen sich aufbringen und in Rage versetzen. Ha, nicht die Bohne. Das war Bieitos zweite Arbeit nach DIE SOLDATEN in Zürich - und der Jubel des Premierenpublikums war erneut einhellig und kaum enden wollend! Auch hier: Gut so!

Inhalt:

Renata übernachtet in einem Gasthaus. Der Zimmernachbar Ruprecht kriegt ihre Wahnvorstellungen mit, bricht die Tür zu Renatas Zimmer auf und versucht, die Dämonen zu vertreiben. Renata berichtet ihm, dass sie schon seit frühester Jugend von Erscheinungen heimgesucht werde, welche sich in Form eines feurigen Engels manifestierten, der sich Madiel nenne. Sie soll eine Art „Erwählte“ sein. Als sie sich in der Adoleszenz auch körperlich mit dem Engel vereinen wollte, verschwand er, tauchte aber in der Gestalt des Grafen Heinrich wieder auf. Diesen will Renata nun wieder finden, nachdem Heinrich sie einst ebenfalls verlassen hatte. Ruprecht will ihr bei der Suche helfen und hofft damit, Renatas Gunst früher oder später zu erringen. Sie suchen in Büchern und mit dem Studium dubioser Schriften nach Möglichkeiten, den dämonischen Liebhaber zu finden. Auch vor dem Wahrsager und Magier Agrippa von Nettesheim schrecken sie nicht zurück. Renata glaubt Heinrich auf der Strasse erkannt zu haben, dieser beachtet sie jedoch nicht. Renata überredet Ruprecht dazu, sich mit Heinrich zu duellieren. Dabei wird Ruprecht schwer verwundet. Sein Geist verwirrt sich danach vorübergehend, er hält Renata für den Teufel. Nach seiner Genesung will er Renata dazu überreden, mit ihm nach Amerika zu ziehen. In einer Taverne setzen sich Faust und Mephisto zu Ruprecht und philosophieren über das Menschenbild. Renata hat sich unterdessen in ein Kloster zurückgezogen. Doch die bösen Geister hat sie nicht vor den Pforten zurückgelassen, im Gegenteil, sie verursacht unter den Nonnen Aufruhr und Teufelsanbetung. Der herbeigerufene Inquisitor verurteilt Renata zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Ruprecht kann nur hilflos zuschauen, da er von Mephisto am Eingreifen gehindert wird.

Werk:

Bereits im Jahr 1919 befasste sich Prokofiew mit der Vertonung von Brjussows symbolistischem Roman. Zusätzliche Inspirationen erhielt er durch den Besuch des Klosters Ettal und der Oberammergauer Passionsspiele. Der Klavierauszug war vier Jahre später vollendet, doch eine Aufführung des Werks zeichnete sich nicht ab. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion zerschlugen sich die Pläne, die Oper zur Uraufführung zu bringen, vollends, da der Inhalt von den stalinistischen Kulturzensoren als dekadent bezeichnet wurde und die Oper auf den Index der verbotenen Werke gesetzt wurde. Musikalische Motive aus der Oper verarbeitete Prokofiew deshalb in seiner dritten Sinfonie. Erst nach Prokofiews Tod erlebte die Oper erst ihre konzertante und ein Jahr später die szenische Uraufführung. Sie wurde von einigen Bühnen nachgespielt, geriet dann eher wieder in Vergessenheit, um nun erneut eine kleine (und wohlverdiente) Renaissance zu erleben. Prokofiew komponierte die vokale Linie eng an die Deklamation der russischen Sprache angelehnt, findet aber immer wieder zu weit ausschweifender Melodieführung und weist dem Orchester eine grosse Bedeutung zu.

Karten

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