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Zürich: DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN (Ballett), 12.10.2019

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

copyright: Gregory Batardon, mit freundlicher Genehmigung Ballett Zürich

Musik mit Bildern | Komponist: Helmut Lachenmann | Text: Hans Christian Andersen, Leonardo da Vinci, Gudrun Ensslin | Uraufführung: 26. Januar 1997 in Hamburg | Aufführungen in Zürich: 12.10. (Schweizerische Erstaufführung und Uraufführung als Ballettversion) | 18.10. | 20.10. | 25.10. | 27.10. | 31.10. | 1.11. | 10.11. | 14.11.2019

 

Kritik:

Sie wirkt wie purer Sarkasmus, die Weihnachtsbaumkugel, welche den Umschlag des Programmhefts und die Ankündigungsplakate zu Helmut Lachenmanns DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN in der Choreografie von Ballettdirektor Christian Spuck ziert. Denn „weihnachtlich“ ist praktisch gar nichts an diesem Abend. Andersens Märchen handelt zwar von einer Silvesternacht, von warmem Licht, das aus Fenstern in den eisigkalten Winkel einer Hauswand strahlt, von erträumtem Glück und stillem Tod. Doch Helmut Lachenmanns seit 22 Jahren so erfolgreiche „Musik mit Bildern“ lässt beim erstmaligen Hören kaum je Sinnlichkeit, Wärme, Gefühle wahrnehmen. Diese Partitur ist eine Aneinanderreihung von Geräuschen, einzelnen, völlig verquert gespielten Tönen, Phrasen oder gar Melodien sind nicht eruierbar, selbst in den Vokalisen der beiden hervorragenden Sopranistinnen Alina Adamski und Yuko Kakuta nicht. Alles reibt sich ständig, nicht nur die schrillen, grellen Töne und Schnalzgeräusche, auch die Styroporblöcke, mit denen die Basler Madrigalisten aus den Proszeniumslogen heraus Geräusche absondern. Oft ist diese Geräuschmusik kaum mehr zu ertragen (mehrere Personen verliessen denn auch schon bald den Saal) – und doch sollte man die Ohren öffnen, denn Lachenmann hat ja den Anspruch an seine „Musik“ so formuliert, dass man mit den Ohren sehen sollte. Selten, viel zu selten blitzen dann tatsächlich faszinierende Momente auf (z.B. bei der „Himmelfahrt“), aber das ist insgesamt zu wenig, um die zwei pausenlosen Stunden wirklich interessant zu machen. Viele der 24 Szenen von Lachenmanns Werk sind zu lange, zu ermüdend, zu repetitiv, zu überintellektualisiert. Denn der Komponist hatte sich ja nicht nur Andersens Märchen vorgenommen, sondern auch noch einen Brief der RAF Terroristin Gudrun Ensslin in sein Werk integriert. Für ihn gibt es Parallelen zwischen den beiden Frauen, dem hungrigen und erfrierenden Mädchen und der aus behütetem Pfarrhaus stammenden Terroristin. Beide zerbrechen anscheinend an der Kälte der Gesellschaft. Für mich funktioniert das so nicht, da die beiden vom Schicksal so unterschiedlich motivierten Tode in dieser Parallelität einander gegenseitig verharmlosen. Vor allem, weil Lachenmann eben kein Narrativ aus dieser Konstruktion macht, sondern dem Zuhörer einfach Szenen entgegenhaut. Auch der (überlang) vorgetragene Text von Leonardo da Vinci wird völlig dekonstruiert, in unverständliche Phoneme und überaspirierte Konsonanten aufgeteilt, vom über achtzigjährigen Komponisten persönlich vorgetragen. Doch – und das erstaun dann sehr – der Komponist wird am Ende frenetisch gefeiert, wie die gesamte Produktion, und ich muss mich fragen, ob ich die Fähigkeit „mit den Ohren zu sehen“ noch nicht erlernt habe. In Ergänzung dazu wünscht sich der Zürcher Ballettdirektor, Christian Spuck, dass man mit den Augen höre. Denn er hat das enorme Wagnis auf sich genommen, zur Saisoneröffnung dem Zürcher Publikum diesen schweren Brocken zu servieren, als choreografische Uraufführung und schweizerische Erstaufführung von Lachenmanns erfolgreichstem Werk. Spuck hat ja in der Vergangenheit bewiesen, dass er ein versierter und begeisternder Erzähler in Handlungsballetten sein kann (Woyzeck, Leonce und Lena, Nussknacker und Mäusekönig, Der Sandmann u.a.m). Bei diesem Werk nun, dass einen dermassen narrativen und bekannten Titel trägt, ist es ihm aufgrund der Komposition versagt, ein Handlungsballett zu kreieren. Doch so ganz scheint er der Sache dann doch nicht zu trauen. Denn die Tänzer schreiben immer mal wieder die Szenentitel an die grauschwarze Schieferwand (Bühne: Rufus Didwiszus), um so den Zuschauern wenigstens Anhaltspunkte zum Ablauf zu geben. Ganz so abstrakt, wie Lachenmann komponiert, choreografiert Christian Spuck dann eben doch nicht, das Erzählende kommt im Tanz durchaus vor. Das frierende Mädchen (berührend mit ihren nackten, eingewinkelten Füssen: Michelle Willems) im schlichten Hemdchen ist natürlich zu sehen (auch in Vervielfachungen) liegt am Ende auch mit einem zweiten Mädchen (Emma Antrobus) erforen auf der Bühne, was durchaus die Parallelen zu Gudrun Ensslin aufzeigen könnte, welche Spuck zuvor ganz konkret als Statistin und in Videoclips auftreten liess. Christian Spuck arbeitet verständlicherweise gerne mit vertrauten Bühnen- und Kostümbildner*innen zusammen. So auch bei dieser Neuproduktion, in der erneut die fantastische Emma Ryott für die Kostüme verantwortlich war. Die gefühlskalte Gesellschaft, welche das frierende und hungernde Mädchen keines Blickes würdigt und nur mit der eigenen Ästhetik beschäftigt ist, tanzt in gekonnt überzeichneten Kostümen aus der Zeit Andersens. Daneben spielt auch wieder eine grotesk gekleidete Clowngruppe eine wichtige Rolle als sarkastisch die mehr oder weniger abstrakten Bilder beobachtende Aussenstehende. Allerdings hat diese enge Zusammenarbeit den Nachteil, dass sich die Ästhetik der einzelnen Produktionen stark annähert, die Bilder austauschbar werden. Christian Spuck findet aber auch hier immer wieder zu bildstarken Formationen, lässt Männer in Schwarz auftreten, die wie abgebrannt Streichhölzer wirken, das Mädchen emportragen. Die bewundernswerte Compagnie des Balletts Zürich setzt die schwierige Partitur mit verblüffender Selbstverständlichkeit in Tanz um, beigeistert in der Gruppe und den vielen Soli. All die grandiosen Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich brillieren mit diffizilen Pas de deux, Pas de quattre, Pas de six (Giulia Tonelli - Lucas Valente, Katja Wünsche – William Moore, Wei Chen und Esteban Berlanga mit Emma Antrobus und Michelle Williams u.v.a.m). Aber auch die Choreografie kann sich der ermüdenden Geräuschkulisse und den damit verbundenen Längen in Lachenmanns Partitur nicht vollständig entziehen, wird leider teilweise von den Gräuschen der Instrumentalisten (die Leitung der Philharmonia Zürich hat der mit Lachenmann bestens vertraute Matthias Hermann) erdrückt. Erst gegen Ende hin spürt man, dass sich das Ausharren gelohnt hat: Die letzten Szenen gehen dann doch unter die Haut, die Lampions, welche die „Himmelfahrt“ einleuchten, die Männer des Corps in aufgebauschten, weissen Tüllröcken wie Engel im Paradies, die Musik, welche plötzlich einen berührenden sakralen Duktus kriegt, eine lange Stimmung, wie in Trance, bevor die letzten Hölzchen quasi verglimmen, die Blasinstrumente ohne Tonerzeugung blasen und der Schnee leise auf die beiden erforenen Frauen rieselt.

Inhalt:

Hans Christian Andersen erzählt in seinem Märchen DAS KLEINE MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN vom erschütternden Tod eines kleinen Mädchens, das in einer Silvesternacht barfuss durch die eisige Kälte geht. Die Pantoffeln wurden ihm entwendet. In seiner alten Schürze trägt es eine Menge Schweflhölzer, doch niemand erbarmt sich seiner oder will ihm einen Bund der Hölzer abkaufen. Alle eilen nach Hause in die wärme und zum Gänsebraten, der bis auf die Strasse zu riechen ist. Kurz vor dem Erfrierungstod zündet das Mädchen ein Hölzchen nach dem anderen an. In den kurzen, wärmenden Lichtscheinen imaginiert es sich eine heile, bessere Welt. Schliesslich erscheint in einem dieser Lichtblitze auch die Grossmutter des Mädchens, an der es so gehangen hat. Damit die Erscheinung nicht wieder so schnell verschwindet, zündet das Mädchen nun alle verbliebenen Schwefelhölchen aufs Mal an – im strahlenden Licht wirkt die Grossmutter noch schöner als sie jemals war, nimmt das Mädchen an die Hand und führt es zu Gott, wo es werder Kälte noch Hunger gibt. Am Morgen danach finden die Leute das erfrorene Kind an der Hauswand sitzend vor. Neben ihm liegt ein Bund abgebrannter Schwefelhölzer, über seinem Gesicht liegt ein eingefrorenes Lächeln ... .

Werk:

Helmut Lachenmanns (geboren 1938) DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN gehört zu den ganz wenigen Werken des zeitgenössischen Musiktheaters, welche nach ihrer Uraufführung 1997 in Hamburg, inszeniert von Achim Freyer) nicht gerade wieder der Vergessenheit anheimfielen, sondern bis heute von mehreren Bühnen nachgespielt wurden. Dabei ist es ganz und gar kein „einfaches“ Werk. In ihm wird Geräusch zu Klang und Klang zu Geräusch, Stille und Kraft wechseln sich ab. Zwar nennt Lachenmann seine Komposition „Musik mit Bildern“, doch erzählt werden die Bilder nur durch die Musik, nicht durch ein Narrativ, das nicht eigentlich gesungene Sprache gibt, nur verfremdete Sprachlosigkeit. Durch den Einbezug eines Briefes der Rote-Armee -Fraktion- Mitbegründerin Gudrun Ensslin (fünf Bombenanschläge mit vier Todesopfern, lebenslange Haft, 1977 Suizid im Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim) vermeidet Lachenmann eine allzu rührselige Wahrnehmung der Metapher Andersens. Ein weiterer Text (aus der Feder Leonardo da Vincis – Verlangen nach Erkenntnis) verleiht dem Musiktheaterstück eine quasi universale Dimension.

Helmut Lachenmann schreibt zu seiner Komposition:

Achim Freyer, der Regisseur der Uraufführung, fragte mich: „Soll denn das Publikum mit diesem Werk ergriffen werden?“ Meine Antwort damals war ganz spontan: „Was denn sonst! Gibts überhaupt ein Kunstwerk, welches nicht ergreifen möchte - wenn nicht das Publikum, so doch den Einzelnen -, und von dem der Erlebende nicht ergriffen werden will? Und darüber hinaus: nur als seinerseits Ergriffener sollte ein Komponist, Maler, Dichter sich ans Werk machen.“ Zugleich merkte ich, dass diese Antwort unbefriedigend war. Sie ließ die Provokation außer Betracht, mit der meine Musik, in der Tradition Schönberg-Webern-Nono stehend, ein wie auch immer aufgeschlossenes Publikum - gewiß nicht als einzige - oft ebenso irritiert wie ergriffen hatte. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, dessen Geschichte so ergreifend ist, wollte niemanden ergreifen. Es war selbst ergriffen, von Kälte, Angst, perspektivelosem Heimweh, Verlassenheit - und es hat die Streichhölzer ergriffen, sie an der kalten Mauer gerieben, einsam gehandelt, das Verbot übertreten, die Ware verschwendet - gezündelt, auf der Suche nach Wärme. Und mitten in der rührend-festlichen Weihnachts- und Jahreswechsel-Euphorie (oder noch suspekter: Besinnlichkeit) erlebt es im Blick auf die flackerig erleuchtete Hausmauer „alles, was das Herz begehrt“: ein Glück, welches alle seine standardisierten Reduktionen für den Alltags-Gebrauch zugleich einlöst und sprengt, gar transzendiert: statt Besinnlichkeit radikale Sinnlichkeit, „wahnsinnig - kriminell - selbstmörderisch“ - um den eingearbeiteten Brief von Gudrun Ensslin zu zitieren - in einer Umgebung, die erstmal wieder lernen müßte, die Sinne menschlich zu gebrauchen.“
(Quelle Verlag Breitkopf & Härtel)

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