Zürich: AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY, 05.11.2017
Oper in drei Akten | Musik: Kurt Weill | Libretto: Bertolt Brecht | Uraufführung: 9. März 1930 in Leipzig | Aufführungen in Zürich: 5.11. | 9.11. | 12.11. | 14.11. | 17.11. | 19.11. | 22.11. | 24.11.2017
Kritik:
Das lange Warten auf eine Wiederbegegnung mit einer Oper von Kurt Weill am Opernhaus Zürich hat endlich ein Ende gefunden – und was für eins! Die letzte Inszenierung von AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY an der Zürcher Oper ist 41 Jahre her, 1976 in einer Inszenierung von Harry Buckwitz, sie wurde dirigiert von Klaus Peter Seibel und war mit Astrid Varnay (Begbick) und der blutjungen Marilyn Zschau (Jenny) herausragend besetzt. (1983 gab es noch den SILBERSEE, in Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus.)
Gestern nun also die zu Recht vom Premierenpublikum heftig akklamierte Neuinszenierung durch das Team rund um den Regisseur Sebastian Baumgarten: Barbara Ehnes zeichnete verantwortlich für die zweckmässige Bühne, welche trotz eines 5000 Liter Swimmingpools in der Mitte den Akteuren genügend Platz zum Agieren liess, Joki Tewes und Jana Findeklee entwarfen herrlich geschmacklose (wunderbar die Latex-Damen rund um Jenny) und träfe Kostüme, Chris Kondak erzielte mit seinem Video Design frappante Wirkungen und Kinsun Chans (den Zürcher Ballettfreunden kein Unbekannter!) Choreografien bereicherten die Szene eindrücklich. Baumgarten gelang eine Interpretation des Brechtschen Stoffes, welche prall, schrill und stellenweise mitreissend war, und doch die notwendige Distanz beibehielt, damit man eben NICHT ins „romantisch Guckende“ abglitt. Der bei Brecht immer wieder spürbare pädagogische Zeigefinger wurde nie aufdringlich eingesetzt und doch war er greifbar, denn Brechts Fragen nach dem wahren Inhalt des Kapitalismus sind heute wohl aktueller denn je, die Dominanz des Materiellen droht jede Menschlichkeit zu erdrücken, ja gar lächerlich zu machen. Parabelhaft, dialektisch, mit krassen Schnitten ging Brecht diese Fragen an, die Antworten darauf muss sich jeder Zuschauer, jede Zuschauerin selber geben und genau dies hat Sebastian Baumgarten mit seiner bildstarken Inszenierung erreicht. Dabei wendet er Techniken des Stummfilms an, die Zwischentexte werden nicht von einem Erzähler gesprochen (wie z.B. in Joachim Herz' Inszenierung an der Komischen Oper Berlin), sondern eben wie in einem Chaplin Film mit Art Déco Schrift eingeblendet. Brecht und Weill selbst hatten ja Assoziationen mit Chaplin in ihrem Werk verarbeitet, so z.B. die Szene wo Paul erklärt, dass er aus Langeweile in der Netzestadt Mahagonny seinen Hut aufessen will (bei Chaplin war es in The Gold Rush sein Schuh, weil er Hunger hatte). Gerade bei der Zeichnung der männlichen Charaktere bewies Sebastian Baumgarten seine Kunst der Personenführung – und die Sänger liessen sich mit beeindruckendem Gestaltungswillen auf die teils auch sängerisch sehr anspruchsvollen Rollen ein. Christopher Ventris gelang eine grossartige stimmliche und darstellerische Bewältigung der Rolle, einer Partie, welche viel an heldentenoraler Kraft erfordert und die doch nicht heldenhaft angelegt werden darf und schon gar kein Mitleid evozieren soll – denn wir sind bei Brecht und dürfen nicht aus Rührung über das Schicksal des Helden bewegt werden, sondern unser Intellekt soll uns sagen, was faul ist im Staate. Ventris machte das grandios, setzte die Stimme meistens mit schlanker Tongebung ein und liess gekonnt an den richtigen Stellen das durch viel Wagner und Britten gestählte Timbre und sein Volumen aufblitzen. Seine Holzfällerkumpels aus Alaska standen dem männlichen Protagonisten punkto Rollengestaltung in nichts nach: Iain Milne, der sich als Jakob Schmidt zu Tode frisst, Ruben Drole als sich masslos überschätzender Boxer Alaskawolfjoe, der prompt von Dreieinigkeitsmoses im Ring tot geschlagen wird und Cheyne Davidson als biederer Sparbüchsenbill, der stets ängstlich sein Dollarköfferchen umklammert und ja nichts davon abgeben will, selbst als sein Freund Paul das Geld so dringend gebraucht hätte, um die Gardinenstange und die drei Flaschen Whisky zu bezahlen, wegen derer er schliesslich das Todesurteil erhielt. Begeisternd und (im besten Sinne) überkandidelt gestalteten auch die beiden kleinkriminellen Ganoven und Begleiter der Leokadja Begbick ihre Rollen: Michael Laurenz mit seinem charaktervollen, mit unverwechselbarem Timbre ausgestatteten und bestechend sicher geführten Tenor (und hervorragender Diktion) als umtriebiger Willy, der Prokurist, und Christopher Purves mit seinem potenten Bariton als durch- und zuschlagender Dreieinigkeitsmoses. Jonathan Abernathy in der kleineren Rolle des Toby Higgins ergänzte mit solider Leistung die überzeugende Seite des männlichen Teils des Besetzungszettels. Als etwas problematischer erwiesen sich ausgerechnet die beiden weiblichen Partien: Die Partie der Begbick wird gerne von grossen (hoch)dramatischen Sopranen gegen das Ende ihrer Karriere in ihr Repertoire aufgenommen (Martha Mödl, Astrid Varnay, Gabriele Schnaut, Dame Gwyneth Jones u.v.a.m.). In Zürich nun engagierte man mit Karita Mattila eine der ganz grossen Sopranistinnen der vergangenen drei Jahrzehnt, eine Künstlerin, die ihre Partien immer klug ausgewählt und ihre Auftritte wohl dosiert hat. Sie meisterte die Übergänge vom Sprechen in den typisch Brechtschen und Weillschen Songsound zwar mühelos und doch wurde man nicht ganz warm mit ihrer Interpretation, trotz aller prallen Darstellungskraft ihrer szenischen Präsenz vermisste man eine stimmliche Deftigkeit und Potenz, welche es für den Charakter der Begbick eben braucht. Die Jenny war mit Annette Dasch darstellerisch ebenfalls überwältigend gut besetzt, nur schon wie sie ihre knallgelben High Heels so gekonnt wegkickte, war sehenswert. Stimmlich vermochte auch sie nicht ganz zu begeistern. Weill hatte der Jenny ja z.B. mit dem „Moon of Alabama“ den wunderbarsten Ohrwurm des Stücks in die Kehle gelegt, Frau Dasch konnte der im Verlauf der Oper häufig wiederkehrenden Magie des Songs nicht ganz gerecht werden.
In Kurt Weills Oper sind ja vor allem die Herren des Chors sängerisch und szenisch stark gefordert – und der Chor der Oper Zürich machte das hervorragend (Einstudierung durch den neuen Chordirektor Janko Kastelic). Viel zum Erfolg des Abends trugen auch die Tänzer und Tänzerinnen bei: Umwerfend, wie sich die drei Männer nach dem Ausleben der freien Liebe im Pool die Filzläuse aus der Scham – und anderen Körperregionen pulen!
Der GMD Fabio Luisi hat es sich nicht nehmen lassen, das geglückte Plädoyer für Kurt Weill selbst an die Hand zu nehmen und sorgte zusammen mit der Philharmonia Zürich für den swingenden Sound, hob die differenzierte Instrumentierungskunst des Komponisten glanzvoll hervor, verhalf den so kunstvollen Ostinati zu ihrer mitreissenden Wirkung. Nur schon der Beginn war von einer musikalischen und szenischen Wucht: Die aufgewühlten, gehetzten Rhythmen des Orchesters wurden auf der Bühne untermalt von Ausschnitten aus amerikanischen Kriminalfilmen der 70er Jahre, so à la Clint Eastwoods DIRTY HARRY, was fantastisch zur Handlung mit der Flucht der drei Ganoven passte.
Fazit: Unbedingt sehens- und hörenswert, nicht nur weil es Kurt Weill in Zürich neu- und wiederzuentdecken gilt, welcher die Musik so kongruent zum Text komponiert hatte, sondern auch weil durch das Inszenierungsteam die Zeitlosigkeit des Stoffes so ungemein wirkungsvoll betont und festgemacht wurde.
Inhalt:
Leokadja Begbick, Willy und Dreieinigkeitsmoses sind auf der Flucht vor den Hütern der öffentlichen Ordnung. Auf dem Weg zu einem Ort, an dem angeblich Gold gefunden wurde, geht jedoch ihr Wagen kaputt. Sie beschliessen, hier und jetzt eine Stadt zu gründen: Mahagonny. Hier wollen sie den Männern, die von der „Gold“-Küste kommen, das Geld aus der Tasche ziehen. Es kommen nun viele Männer in diese Stadt der Bars und Bordelle, so auch vier Holzfäller, Heinrich (Sparbüchsenbill), Joseph (Alaskawolfjoe), Jakob (Jack O'Brian), und Paul (Jim Mahoney). Paul verliebt sich in die Prostitueirte Jenny. Die Gesetze dieser Stadt sind verführerisch, denn das Motto lautet: DU DARFST! Nur ein Verbot gibt es: KEIN GELD ZU HABEN. Darauf steht die Todesstrafe. Die Stadt wächst, floriert. Doch inmitten einer wirtschaftlichen Krise der Stadt, zieht zu allem Unglück ein Hurrikan in ihre Richtung.
Der Hurrikan kommt näher, macht jedoch einen Bogen um Mahagonny. Jetzt geht das Leben am Abgrund erst richtig los: „Erstens kommt das Fressen, zweitens der Liebesakt, drittens das Boxen, viertens das Saufen.“ Und schon geht es los: Jakob überfrisst sich an zwei Kälbern, Joseph stirbt beim Boxen (Paul hat sein ganzes Geld auf ihn gesetzt). Trotzdem gibt Paul allen Männern Whisky aus. Doch als Begbick Geld sehen will, hat er keins. Keiner will für ihn bezahlen, auch Jenny nicht. Paul wird verhaftet.
Beim Prozess hat er natürlich keine Chance, da ihm das Geld fehlt, das Gericht zu bestechen. Er wird zum Tode verurteilt, da er sich - neben kleineren Delikten - des grössten Verbrechens schuldig gemacht hat: Mangel an Geld. Nach einer Erzählung, wie Gott selbst einmal nach Mahagonny kam, versinkt die Stadt im Chaos, mit demonstrierenden Gruppen und Bränden.
Werk:
Der Komponist Kurt Weill (1900-1950) und der Dramatiker Bertolt Brecht (1898 -1956) entwickelten mit AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY in den späten Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Brechts Konzept des epischen Theaters: Der Zuschauer soll sich nicht einfach zurücklehnen und sich „berieseln“ und berühren lassen, sondern dazu angeregt werden, Stellung zu beziehen, sich mit den Problemen wie Krieg, Ökonomie, gesellschaftliche Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen und in der Folge die Gesellschaft zum Besseren verändern. Nicht Emotionen zu wecken sind das Ziel dieser Bühnenstücke, sondern das Ziel ist, zu gesellschaftskritischen Erkenntnissen zu gelangen.
Zuerst schufen die beiden ein Songspiel, welches sie später zu einer abendfüllenden Oper ausbauten. Die Uraufführung 1930 in Leipzig endete tumultös, nicht zuletzt weil Anhänger der NSDAP die Aufführung von Beginn weg zu stören versuchten.
Kurt Weill fügte in seiner Komposition seine im ersten Akt präsentierten musikalischen Themen in einer gewaltigen Verdichtung für das Finale zusammen.Er verwendet dabei auch Zitate aus der Musikgeschichte, von Bachschen Passionsmusiken, über Webers FREISCHÜTZ bis zum Tristan-Akkord. Berühmt wurde der Alabama-Song, welcher später auch von Musikern wie The Doors, David Bowie oder The Young gods gecovert und bearbeitet wurde. Weitere Höhepunkte sind der Song Auf nach Mahagonny oder Show me the way to the next whisky bar.
Gerade in der heutigen Zeit, wo das Geld immer mehr die Welt regiert, moralische Werte ihre Bedeutung zunehmend verlieren, Konsum und Besitz den gesellschaftlichen Status bestimmen, Gewalt gegen andere an der Tagesordnung ist und nur noch die eigenen Interessen und nicht mehr das Gesamtwohl im Vordergrund stehen, besitzt AIFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY eine brennende Aktualität.