Zürich: ALCINA, 26.01.2014
Oper in drei Akten | Musik: Georg Friedrich Händel | Libretto: unbekannt, basierend auf ISOLA DELLA ALCINA von Riccardo Broschi, dem Bruder des Kastraten Farinelli | Uraufführung: 16.April 1735 in London | Aufführungen in Zürich: 26.1. | 31.1. | 2.2. | 5.2. | 7.2. | 9.2. | 16.2. | 22.2. | 25.2.2014
Kritik:
Verdienter und grosser Jubel für alle Beteiligten am Ende dieses langen Premierenabends, der trotzdem kaum je lang wirkte - sehr angetan zeigte sich das Publikum auch von der Inszenierung, obwohl diese im zweiten Akt fast zum Stillstand kam. Doch dann folgte zum Glück noch die fulminante Auflösung im dritten Akt!
In der Mottenkiste, aus der in Christof Loys ALCINA Inszenierung ein sichtlich gealterter Cupido (ganz köstlich: Silvia Fenz) steigt, haben auch Händels Opern über Jahrhunderte geschlummert. Die Renaissance seiner Opern und damit deren Beliebtheit beim Publikum mögen angesichts der unüberhörbaren Retortenhaftigkeit seiner Kompositionen erstaunen. Der aus pekuniären Gründen vielschreibende Komponist hat das Ablaufschema der opera seria, der Kastratenoper, nämlich die pausenlose Abfolge der da-capo Arien, kaum je aufgebrochen, da ist das Terzett im dritten Akt der ALCINA schon beinahe als gewagt zu bezeichnen. Doch scheint Händels direkt die Emotionen ansprechende Musiksprache einen Nerv der Zeit zu treffen, nur so lässt sich die Popularität seiner Werke in den letzten Jahrzehnten erklären. Wenn man dann noch eine so exzellente Besetzung der Partien und ein mit der barocken Musiksprache dermassen vertrautes Orchester (Orchestra La Scintilla) zur Verfügung hat - wie sie nun am Opernhaus Zürich zu erleben sind - dann kann man wirklich glücklich darüber sein, dass die Werke (und insbesondere die ALCINA, welche zu Händels schönsten und tiefschürfendsten gehört) den Weg aus der erwähnten Mottenkiste gefunden haben.
In Zürich wurden sämtliche ProtagonistInnen für ihre Rollendebüts zu Recht gefeiert. Cecilia Bartoli gelang eine Interpretation der Alcina, die von wohltuender, ausgefeilter Zurückhaltung geprägt war und sich ganz auf das Ausloten der Gefühlslagen dieser reifen Frau konzentrieren konnte. Schwärmte sie in ihrer ersten Arie Di’cor mio, quanto t’amai noch mit beinahe jungmädchenhafter Emphase von ihrem neu gewonnenen Liebesglück mit Ruggiero, musste sie sich bereits in der zweiten der sechs Arien (Si, son quella) mit trauerumflorter, überirdisch schöner Stimme und dezenter Begleitung von Cello und Harfe gegen falsche Anschuldigungen zur Wehr setzen. Wunderschön gestaltet und zu Herzen rührend sang die Bartoli dieses Eingeständnis des Älterwerdens. Der Cupido hat sich in Dorian-Gray-Manier zu ihrem Spiegelbild als alte Frau gewandelt, ein wunderbarer Einfall der Regie. In der längsten Arie (ca 13 Minuten!) Ah! Mio cor! schernito sei! durchschritt sie auf eindrücklichste Art die Gefühlslage der enttäuschten Liebe, des Betrugs, des Verrats, aber auch der aufkeimenden Hoffnung auf ihre Zauberkräfte. Grandios wie der Dirigent Giovanni Antonini hier der Künstlerin auch die Zeit zur durchdringenden Gestaltung der Emotionen gab , mit ihr atmete, mit ihr fühlte. Auch – und das ist das Bewundernswerte an Bartoli – verliert sie nie die Kontrolle, auch nicht im rasanten Mittelteil der Arie, flüchtet sich nicht in Manierismen oder ins übertriebene Aspirieren bei der Lautbildung. Den zweiten Akt beschloss Frau Bartoli mit dem Anrufen der Rachegötter im ausladenden Accompagnato und der anschliessenden Arie als durch Verzweiflung gezähmte Furie (Ombre pallide). Auch wenn durch die Katharsis des Theaterbrandes (zu Beginn des dritten Aktes) die Menschen langsam wieder zu ihrer normalen Gestalt fanden, verharrte Alcina im barocken Reifrock. Ganz theatralisch bürstete sie ihr Haar am erhalten gebliebenen Schminktischchen und schwankte zwischen bösartigen Rachegedanken und Verzeihen (Ma quando tornerai). Ruggiero hatte sich jedoch längst emanzipiert und äffte die sich in bestechenden Koloraturen wiegende Diva spöttisch nach. Herrlich. Endlich fand Christof Loys Personenführung zu Witz und Schabernack. So musste denn schliesslich auch Alcina einsehen, dass die Welt sich wandelt, das Glück sich nicht zwingen lässt. Im engen kurzen Schwarzen sang sie, suizidgefährdet, gleich Edith Piaf im Scheinwerferkegel das herzzerreissende Mi restano le lagrime und schwelgte in einer Pianokultur wie eben nur die Bartoli sie so perfekt beherrscht.
Natürlich hatte Händel die Titelfigur mit den insgesamt sechs Arien ins Zentrum gerückt, doch war es das grosse Verdienst der Künstlerin Cecilia Bartoli und der Inszenierung insgesamt, dass sie von diesem Zentrum aus nicht protzend dominierte, sondern den anderen DarstellerInnen den ihnen gebührenden Raum liess, den diese auch beglückend zu nutzen wussten. Da war der Ruggiero von Malena Ernman: Mit wunderbar satter Stimme raste sie durch Koloraturen voll überschäumender Liebesbeteuerungen (Sieguo Cupido, im ersten Akt), zeigte sich mit viel Wärme in der Stimme verwirrt schwankend zwischen Alcina und Bradamante (Mi lusinga il dolce affetto), heuchelte zuckersüss Liebe in der nächsten Arie Mio bel tesoro (erwähnenswert die zauberhafte Begleitung durch das Spiel der Blockflöten, von denen auch der Dirigent eine Stimme selbst übernahm!) und ging mit Frivolität und Sportlichkeit ganz aus sich heraus in der Gleichnisarie des dritten Aktes (Sta nell’Ircana pietrosa tana), in der Frau Ernman den sechs spritzigen Tänzern (Choreographie: Thomas Wilhelm) punkto Beweglichkeit Paroli bieten konnte und Teile der Arie gar in der Liegestütze sang! Eine Entdeckung und Bereicherung war auch der dunkel timbrierte Mezzosopran von Varduhi Abrahamyan als Bradamante, deren Stimme so treffend zu ihrer männlichen Verkleidung als Ricciardo passte. Mit ihrer in irrwitzigem Tempo vorgetragenen, fulminanten Rachearie Vorrei vendicarmi riss sie im zweiten Akt gar die dumpf herumhockenden Statisten in Unterwäsche aus ihrer Lethargie. Sie spielte gekonnt mit ihrer amorphen Geschlechtlichkeit, verdrehte mal Morgana (als Mann) und dann wieder ihrem Mentor und Begleiter Melisso (als Frau in Männerkleidern) den Kopf, um schliesslich ihr ehrgeiziges Ziel zu erreichen, nämlich den Verlobten Ruggiero aus den erotischen Fängen Alcinas zu befreien und für sich zurückzugewinnen. Mit glockenreinen Tönen bezauberte Julie Fuchs als Morgana. Sie setzte ein perlendes Glanzlicht am Ende des ersten Aktes mit der hitverdächtigesten Arie der Oper Tornami a vagheggiar. Männerstimmen haben einen eher schweren Stand in Händels Opern. Erik Anstine als besorgter, wohlklingender Melisso und Fabio Trümpy als mit hell timbriertem Tenor eifersüchtig intrigierender Oronte wussten sehr zu gefallen.
Giovanni Antonini und das exzellent spielende Orchestra La Scintilla der Oper Zürich fanden zu einem äusserst gepflegten Musizieren und erwiesen sich als feinfühlige, intensiv zuhörende und mitatmende Begleiter der vielen Arien. Vielleicht hätte man sich ab und ein Mehr an „wilderem“ Musizieren gewünscht und ein Weniger an akribischem Wohlklang. Aber das ist ein Jammern auf hohem Niveau.
In den Bühnenbildern (ja, Sie lesen richtig, für einmal kein Einheitsbühnenbild!!!) von Johannes Leiacker geraten in Christof Loys Interpretation die Businesstypen Melisso und Bradamante (als Ricciardo verkleidet) im ersten Akt mitten in eine barocke Opernvorstellung in einem Rokokotheater. Die Gefühle werden stark verwirrt, die Protagonisten finden sich im zweiten Akt in einer schmuddeligen Theatergarderobe wieder, deren Räume mit den fleckigen Tapeten und abgegriffenen Türen wie eine Art heruntergekommenes Sanatorium für Geisteskranke aussehen. Hier gerät die Regie etwas ins Stocken und wird sehr statisch. Da wird der Musik zwar wohltuend viel Raum überlassen und man schwelgt in der Aneinanderreihung der vorwiegend an der Rampe vorgetragenen Arien, aber insgesamt war dieser Akt doch der am wenigsten gelungene. Nach dem reinigenden Brand des Theaters (inklusive Niedersausen der Kronleuchter-Replika des Zürcher Opernhauses, honni soit qui mal y pense ...) schälen sich im letzten Akt alle nach und nach aus den Kostümen (die sehr schön entworfen wurden von Ursula Renzenbrink), finden zu praller Lebenslust und als moderne, aufgeklärte Menschen wieder zu sich selbst – wäre da nicht der finale Zauber der barocken Figurine der Alcina, dem schliesslich doch alle erliegen. Auch wir, die Zuhörer. Cupido kann sich getrost wieder in die Mottenkiste begeben (was er auch tut), die betörende Faszination der Barockoper aber triumphiert!
Inhalt :
Bradamante hat ihren Geliebten Ruggiero verloren und macht sich in der Verkleidung ihres Bruders Ricciardo auf die Suche nach ihm. Auf einer Zauberinsel gewahrt sie ihn an der Seite der Zauberin Alcina. Er will von Bradamante nichts mehr wissen. Dafür verguckt sich Morgana, die Schwester Alcinas, in den vermeintlichen Ricciardo. Ruggiero wird gewarnt, dass Alcina ehemalige Liebhaber in wilde Tiere verzaubert.
Ruggiero erhält von seinem ehemaligen Lehrer einen Ring mit unglaublichen Kräften. Als er ihn ansteckt, erinnert er sich an sein früheres Leben und an Bradamante. Er sagt sich von Alcina los, indem er ihr trotz allem ewige Treue gelobt. Er will aber das Zauberreich Alcinas so schnell wie möglich verlassen. Doch Alcina will dies verhindern, muss jedoch feststellen, dass ihre Zauberkräfte schwinden. Ruggiero und Bradamante zerschmettern die Urne der magischen Kräfte, das Zauberreich verwandelt sich in eine öde Küste. Aus den wilden Tieren werden wieder Menschen, die so Befreiten jubeln Ruggiero und Bradamante zu.
Werk:
ALCINA bildet zusammen mit ARIODANTE und ORLANDO quasi eine Trilogie über Ariosts Orlando furioso, eine literarische Quelle, aus welcher diverse Komponisten der Barockzeit schöpften. Sie spielt in einem Zauberland zur Zeit der Kreuzzüge.
In ALCINA spielt Händel geschickt mit den Verschlingungen der Liebe, da weite Teile des Stücks in Folge des Crossdressings und der Besetzung (Männer werden von Frauenstimmen/Kastraten gesungen, Frauen verkleiden sich als Männer) zu erotischen Variationen Anlass geben. Zudem stand Händel in seinem neuen Theater eine Ballettkomagnie zur Verfügung. So komponierte er ausgedehnte Tanzeinlagen für die Tänzerin Marie Sallé. Die Partie der Alcina gibt einer Sängerin die Gelegenheit, eine verzweifelte Frau darzustellen, welche in ihrem Kampf um den Geliebten zum Äussersten geht.
Das Werk erlebte nach der Uraufführung gut zwei Dutzend Vorstellungen, was für die damalige Zeit viel war - und es war Händels letzter grosser Opernerfolg. Nach dem Bankrott seiner Truppe komponierte er in seinen letzten 20 Lebensjahren vorwiegend Oratorien. ALCINA geriet wie so viele Werke aus der Blütezeit der Barockoper in Vergessenheit und wurde erst ab 1960 (als Dame Joan Sutherland in einer Inszenierung von Franco Zeffirelli die Titelrolle sang) wieder dem Dornröschenschlaf entrissen. Heute sind Renée Fleming, Joyce diDonato und Anja Harteros bedeutende Interpretinnen der Alcina. In Zürich wird nun Cecilia Bartoli in der Titelrolle debütieren (am 16., 22., und 25.2. wird Agneta Eichenholz die Alcina singen).