Winterthur, Stadthaus: ADAMS, BEETHOVEN, DVOŘÁK; 15.10.2025
Die Pianistin Lise de la Salle gastiert beim Musikkollegium Winterthur mit Beethovens 4. Klavierkonzert, Mihhail Gerts leitet das Musikkollegium Winterthur
Werke:
John Adams: THE CHAIRMAN DANCES, Foxtrott für Orchester | Uraufführung: 31. Januar 1986 durch das Milwaukee Symphony Orchestra | Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 G-Dur, op. 58 | Uraufführung: März 1807 in Wien (halbprivate Aufführung) und am 22. Dezember 1808, ebenfalls in Wien mit Beethoven als Solisten | Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll, op. 95 «Aus der Neuen Welt» | Uraufführung: 16. Dezember 1893 in der Carnegie Hall, New York | Aufführungen dieses Konzerts in Winterthur: 15.10. und 16.10.2025
Kritik:
Das Spannende in den Programmgestaltungen des Musikkollegiums Winterthur ist ja, dass die Konzerte nie beliebig wirken, sondern dass sie unter einem thematischen Saison-Titel stehen. Für 2025/26 lautet dieses Thema „Ursprünge“.
Begonnen wurde gestern Abend mit John Adams THE CHAIRMAN DANCES, einem Foxtrott für Orchester. Der offensichtliche „Ursprung“ dieses Werks ist Adams' Vorhaben, den ersten Besuch eines amerikanischen Präsidenten im kommunistischen China in einer Oper zu thematisieren, nämlich NIXON IN CHINA. Adams betrachtete diesen Foxtrott quasi als „Fingerübung“ für die spätere Oper (und verwendete ihn dann doch nicht). Doch diese Musik fusst noch auf ganz anderen „Ursprüngen“, was dieses soghafte Aufführung des 12minütigen Werks gestern Abend in Winterthur deutlich hörbar machte: Da ist einerseits die repetitive Minimal Music, die ihre faszinierende, meditative Kraft entfaltet, durch kaum hörbare Tonhöhenverschiebungen und das Ausreizen von dynamischen Stufen, eine Archaik des Klangs. Andererseits ist die Musik auch Ausdruck des Tanzes, auch hier eine Archaik des dramatischen Ausdrucksvermögens in der Menschheitsgeschichte. Darin verwoben das übereinander Lappen und sich mischen von unterschiedlichen Kulturen, der alten chinesischen und der neueren amerikanischen mit ihrem Musihall-Touch. Das Musikkollegium Winterthur spielte diese leicht zugängliche Komposition von John Adams mit nie nachlassender, ungemein subtil differenziert gehaltener Spannung unter der wunderbar auf Ausbalancierung, rhythmische Präzision und Durchhörbarkeit des Klangs achtenden Leitung des (kurzfristig für die erkrankte Elena Schwarz eingesprungenen) Dirigenten Mihhail Gerts. Ganz wunderbar gelang auch das offene Verklingen und Ausdünnen dieses Foxtrotts (wie in Haydns Sinfonie LES ADIEUX), wo am Ende nur noch die Schlaginstrumente, immer spärlicher werdend, ihre Schläge hören lassen.
Auf „Ursprünge“ verweist auch Beethoven in seinem vierten Klavierkonzert: Zu Beginn setzt (entgegen aller Tradition) das Klavier ganz alleine ein, wie improvisierend spielt es suchend eine Melodie. Darin liegen doch ganz gewiss die Ursprünge der Melodie, welche Menschen mit ihren Stimmen und später mit einfachsten Instrumenten gesucht haben, bevor das alles dann akademisch wurde. Die Starpianistin Lise de la Salle ist zur Zeit in Winterthur zu Gast und zog das Publikum von Beginn weg mit ihrer Kunst des Klavierspiels in den Bann. Von der gefühlvollen Exposition des Solos des Beginns, zum brillanten Dialogisieren mit dem Orchester, den stupenden Trillerpassagen (von denen gibt's unzählige in diesem Werk), den fulminanten Läufen, dem fantastisch herausgearbeiteten Wechselspiel des Leads zwischen rechter und linker Hand, dem freudig pochenden Hauptthema und der überragend gespielten Kadenz nahm uns Lise de la Salle mit auf eine phänomenal spannend interpretierte Entdeckungsreise. Im zweiten Satz arbeiteten Lise de la Salle und das Musikkollegium Winterthur unter Mihhail Gerts den Kontrast zwischen den markanten Akzenten der Streicher und der retardierenden Antwort des Klaviers grossartig heraus. Das Klavier schien zu siegen, das Orchester beruhigte sich, wurde weicher und sanfter fliessend. Beethovens Freunde berichteten, dass der Meister für diesen zweiten Satz von der Orpheus-Sage inspiriert worden sei. Orpheus (hier das Klavier) bezwingt die finsteren Mächte! Somit konnte auch das finale Rondo ganz sanft beginnen und zügig, aber nie überhastet, in den fröhlichen Reigen münden. Noch einmal brillierte Lise de la Salle mit einer Solokadenz, bevor das Konzert mit doppeltem Jubel zu Ende ging: Dem Jubel der Ausführenden in der Stretta und dem Jubel des Publikums. Dafür bedankte sich Lise de la Salle mit dem von Wilhelm Kempff transkribierten zweiten Satz, der Sicilienne, aus der Sonate für Flöte und obligates Cembalo in Es-Dur, BWV 1031 von Johann Sebastian Bach. Sie verband diese wunderbar einfühlsam gespielte Musik mit einem Appell nach Frieden in der Welt und der Hoffnung auf den Trost und die Kraft der Musik.
Nach der Pause dann Antonín Dvořáks neunte Sinfonie „AUS DER NEUEN WELT“. Auch in diesem Werk hören wir „Ursprünge“: Einerseits ist einer der Ursprünge die Kraft des Trostes durch die Musik, welche die elegische Trauermusik im Largo enthält (vom Englischhorn der Solistin des Musikkollegiums ganz wunderbar gespielt), die daneben auch auf den Ursprung der Tonsprache in der Pentatonik der indigenen Bevölkerung verweist; Antonín Dvořák hatte dies alles feinsinnig aufgenommen und verarbeitet, aber in keinem Moment kopiert. Dieser Satz, der die Weite der Prärie assoziiert, gehört nicht nur zu den bekanntesten, sondern auch zu den ausdrucksstärksten Eingebungen des Tschechen. Das Musikkollegium glänzte mit ausgefeiltem Bläserklang, wunderbar eingebettet in den farbenreichen Gesamtklang dieser wirkungsvollen Sinfonie, die ihre mal mitreissende und mal elegische Kraft nur in einer Live-Aufführung so richtig entfalten kann. Und wenn man dann noch so ein einfühlsam mitatmendes Dirigat, wie dasjenige von Mihhail Gerts, erleben darf, das Hör- und Assoziationsräume öffnet, klar strukturiert ist, spannungsgeladene Kanten bietet, Erhabenheit mit feinem Puls paart und kontrollierte Explosionen ihre Wirkung entfalten lässt, dann ist das sinfonische Glück perfekt.
Heute Abend noch einmal zu erleben im Stadthaus Winterthur!
Werke:
John Adams (geboren 1947) benutzte nach eigenen Aussagen dieses Auftragswerk THE CHAIRMAN DANCES als Fingerübung für seine Oper NIXON IN CHINA. Es ist ein Fantasiestück, in welchem der junge Mao von seiner Geliebten aufgefordert wird, mit ihr einen Foxtrott zu tanzen. Die Szene wurde von Adams schliesslich doch nicht in seine Oper integriert, aber dieses ca. 12 minütige Orchesterstück hat sich im Repertoire der Orchesterliteratur als eigenständiges Werk gehalten. Es kombiniert Minimal Music mit Elementen des Jazz und entfaltet mit seinen Ostinati in Melodie und Rhythmus eine faszinierende Sogwirkung.
Ludwig von Beethoven (1770-1827) komponierte insgesamt fünf Klavierkonzerte. Die Nummer vier gilt als sein lyrischstes. Hier findet die Verschmelzung von Sinfonie und Solistenkonzert ihre erste bedeutende Ausführung. Das Konzert ist in einem zarten Grundton gehalten, weich, innig, trotz des marschartigen Seitenthemas im ersten Satz. Phantastisch konzipiert ist der zweite, der langsame Satz, ein Andante con moto: Die Liebe (das Klavier) stellt sich einem Dialog mit finsteren Mächten (der Unterwelt?). Die Argumente scheinen hin und her zu wechseln, das Klavier scheint den Disput schliesslich zu gewinnen. Mit einem heiteren Rondo schliesst das Konzert.
Antonín Dvořák (1841-1904) komponierte seine Sinfonie (wie ihr Name sagt) während seines dreijährigen Aufenthalts in den USA. Er begegnete dort auch der Musik der schwarzen und der indigenen Bevölkerung. Diese Begegnungen flossen zwar durchaus in seine neue Sinfonie ein, aber eher auf gedanklicher Ebene und nicht durch Verarbeitung originären Materials. Die Synkopen in Themen des Kopfsatzes nehmen Rhythmen der Spirituals der Schwarzen auf, die Pentatonik in der elegischen Melodie des Englischhorns im Largo verweist auf indianische Musik. Hingegen kommt der Ländler im Scherzo dann doch wieder sehr böhmisch daher. Kunstvoll ist die Verarbeitung der Motive all der in den drei vorangehenden Sätzen verwendeten Motive im Finalsatz, der sich einem mitreissenden Höhepunkt entgegenschraubt und in einer triumphalen Coda endet. Diese Sinfonie erfreut sich seit ihrer umjubelten Uraufführung in New York einer ungebrochenen Beliebtheit. Danach komponierte Antonín Dvořák keine Sinfonie mehr.