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Winterthur: Gauthier Dance THE SEVEN SINS, 14.04.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Gauthier Dance

copyright: Jeanette Bak, mit freundlicher Genehmigung Theater Winterthur

Gauthier Dance Stuttgart | Choreografien von Aszure Barton, Sidi Larbi Cherkaoui, Sharon Eyal, Marco Goecke, Marcos Morau, Hofesh Shechter und Sasha Waltz | Aufführungen in Winterthur: 13.4. | 14.4. | 15.4. 2023

Kritik:

LIEBESERKLÄRUNG AN WINTERTHUR

Der Abend begann mit einer launigen, sympathisch-witzigen und zugleich informativen Ansprache des Gründers und Chefs von Gauthier Dance, Eric Gauthier. Darin drückte er erstmal seine Liebe zu Winterthur und vor allem zum Winterthurer Publikum aus. Es war dies nicht das erste Gastspiel der renommierten und mehrfach preisgekrönten, 2007 von Eric Gauthier gegründeten Tanztruppe aus Stuttgart, die eben erst wieder von der Tanzzeitschrift TANZ als Glanzlicht der deutschen Tanztheaterlandschaft ausgezeichnet wurde. Eric Gauthier erwähnte, wie gern sie seit 12 Jahren nach Winterthur kämen, da sie hier jeweils für drei Shows verpflichtet werden, im Gegensatz zu anderen Gastspielorten, wo sie jeweils nur für eine Aufführung engagiert würden. So fühlen sich die Tänzer*innen und er hier schon fast wie zu Hause, da sie inklusive An- und Abreise fünf Tage in der Eulachstadt verbringen dürften. GAUTHIER DANCE kommt ohne Subventionen aus, lebt von den Aufführungen im Theaterhaus Stuttgart und den zahlreichen Gastspielen in Deutschland und dem Ausland. Daneben unterhalten sie auch das das OUTREACH Programm, mit dem sie als Tänzer zu Menschen kommen, die nicht mehr so mobil sind, besuchen Seniorenheime, Krankenhäuser, Behindertenheime ... . Der exzellente Ruf der Compagnie hat unterdessen alle renommierten Choreografen der Zeit angelockt, für GAUTHIER DANCE zu choreographieren. So auch für das nun in Winterthur vorgestellte Programm THE SEVEN SINS, mit Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui (er arbeitete u.a. mit Beyoncé, und Alanis Morisette, erstellte die Choreografie für den Hollywood Film CYRANO, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, leitete das Ballett Vlaanderen und ist nun auch Chef des Ballet du Grand Théâtre in Genf), Aszure Barton (sie choreographierte u.a. DIE DREIGROSCHENOPER mit Cindy Lauper, schuf Werke für das Bayerische Staatsballett und das Ballett am Rhein, war Artist in Residence bei Baryshnikows Tanzzentrum in New York und hat ihre eigene Truppe Aszure Barton&Artists), Marcos Morau (der "Salvador Dalì" der spanischen Choreografen, er hatte kürzlich einen Riesenerfolg mit NACHTTRÄUME beim Ballett Zürich, hat sein eigenes Künstlerkollektiv LA VERONAL in Barcelona), Marco Goecke (prägender deutscher Choreograph, eigenwillig, originell, mehrfach ausgezeichnet, Artist in Residence bei Gauthier Dance, Ballettchef in Hannover bis zum "Hundekot"-Eklat), Hofesh Shechter (weltweit gefragt, gründete seine eigene Hofesh Shechter Company, Artist in Residence bei Gauthier Dance), Sasha Waltz ("Grande Dame" und Ikone der deutschen Tanzszene, gründete 1993 die Compagnie Sasha Waltz&Guests in Berlin, Co-Chefin des Staatsballetts Berlin, Mitglied der Akademie der Künste und Ernennung "Commandeur del l'ordre des Arts et des Lettres") und Sharon Eyal (war als Tänzerin der Batsheva Dance Company die Muse des Choreografen Ohad Naharin, gründete zusammen mit Gai Behar das Ensemble L-E-V, choreographiert weltweit, z.B. für das Nederlands Dans Theater, für Hubbard Street Dance Chicago oder das Royal Swedish Ballet).

Eric Gauthier erklärte augenzwinkernd auch, weshalb das Wort "deadly" im Titel des Programms fehlt: Das Projekt eines Abendfüllers über die sieben Todsünden entstand mitten in der Corona-Krise, deshalb fand er das Adjektiv "deadly" unangebracht.

SÜNDHAFTE FASZINATION

1. HABGIER: Ganz aus dem Dunkel heraus lässt Sidi Larbi Charakoui aus einem Knäuel von sieben Tänzer"innen heraus und untermalt mit eletronischer Musik und Textfetzen (Musik: Aexandre de Castaing) die Gier erforschen, einander Schaden durch das Baggern nach immer mehr Geld zufügen. In faszinierendes Licht getaucht robben die Tänzer"innen sich schliesslich an die Rampe, grapschen nach dem in langen Halstuchschlangen aufgereihten Geldscheinen, wickeln sich darin ein, bis sie ganz vermummt sind - und am Ende daran ersticken. Rauch steigt aus dem toten, mit Banknoten umwickelten Menschenhaufen auf. Grossartig, auch das Lichtdesign von Mario Daszenies.

2. FAULHEIT: Aszure Barton spürt dem Widerspruch zwischen Faulheit und Tanz nach. Dabei stellt sei ein Männerpaar auf die Bühne, das sich in langsamen Bewegungen immer wieder auf den Boden hinunterziehen lässt, das Verrenkungen zeigt, die eigentlich immer ins Leere laufen, sinnlos und müde wirken, manchmal meint man Schnecken auf der Bühne zu sehen. Im Hinterkopf hatte Aszure Barton nach eigenen Aussagen die durch die Technologie müde und faul gewordenen Menschen, die sich dadurch von ihrer Menschlichkeit entfernen. Das Ganze ist sehr präzise und fesselnd choreografiert und mit fantastischer Präzision von den beiden Tänzern ausgeführt.

3. HOCHMUT: Marcos Morau zeigt vier Frauen in blauen, wadenlangen Röcken, sie tanzen in unterschiedlichen Lichtverhältnissen mit grossartiger Synchronizität und vor allem ungemein kraftvoll, selbstbewusst, stets in einer Reihe und doch ohne auf einander zu schauen. Ungemein packend, gerade mit der Musik von Juan Cristobál Saavedra. Die Komplexität der Choreographie bewirkt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Was ist Überheblichkeit, was gesundes Selbstvertrauen, was Stolz? Diesen Fragen geht Marcos Morau mit offenem Ausgang nach.

4. VÖLLEREI: Mit dem Untertitel Yesterday's Scars zeigt Marco Goecke in seiner Umsetzung der vierten Todsünde für einen Solotänzer, der in Pose und Outfit an Freddy Mercury erinnert, die Folgen der Völlerei; nicht der Völlerei des Fressens, sondern des jahrelangen Raubbaus am Körper durch ein Übermass an Drogen. Das für Goeckes choreografische Handschrift so charakteristische nervöse Zucken des Oberkörpers kontrastiert mit oft bis in die Fingerspitzen gestreckten Armen und subtiler Beinarbeit. Luca Pannacci setzt die Choreografie zur immer schmerzlicher werdenden Musik von The Velvet Underground und Jesse Callaert derart intensiv um, dass man die Pein unmittelbar selbst spürt. Eine Choreografie, die wie keine andere beim Betrachter körperlich regelrecht so"einfährt", dass es einen fast zerreisst. Riesenapplaus!

5. WOLLUST: Hofesh Shechter hat die Musik zu seiner Choreogrphie selbst komponiert, sie kommt wie atmende Dampfwalzen daher, ein An- und Abschwellen von Atem, Klängen, Blut, das in den Adern schwillt und wallt. Dazu eine Gruppe von weissgekleideten Menschen auf der Bühne, sie sehen aus wie Sektenmitglieder in den züchtigen, uniformartigen Gewändern. Alle bewegen sich synchron in Zeitlupe, nichts von testosterongetriebener, brachialer Erotik, eher deren erwzungene Unterdrückung, Andeutungen von aus den Geschlechtsteilen aufsteigender Lust, mehr nicht. Immer wieder tanzen die zehn Tänzer*innen in festgefügten Formationen. Stumme Schreie symbolisieren wohl heimliche oder erwünschte Orgasmen. Endlich schreit eine Frau mal laut los, ein Paar will Sex haben, wird aber schnell von den anderen eingekreist. Am Ende präsentieren fünf Menschen ihren erhobenen Schoss, die fünf andern knien davor, aber bevor es zu Berührungen oder oralem Sex kommen kann, erfolgt ein durch einen Blitz verursachter Kurzschluss. Dunkel! Aus!

6. ZORN: Sasha Waltz hat die von ihr gewählte Todsünde am Augenfälligsten aller Arbeiten für dieses Programm umgesetzt: Ein Paar (Mann-Frau) erscheint neben zwei Lautsprechern, aus denen wütende Geräusche ertönen, auf der Bühne. Immer wieder geht das Licht aus, wir sehen das Paar an neuer Position. Die Frau schreit beständig, hysterisch, legt eine geradezu keifende Wut an den Tag, der Mann scheint in stoischer Ergebenheit gefangen, nimmt alles hin. Die Tobsucht steigert sich, sie reisst an seinen Haaren, ihr Gekreische wird über die Lautsprecher noch verstärkt, vervielfacht, was selbst den Stoiker nun aus der Ruhe bringt, auch er beginnt zu schreien und zu toben, die Konstellation dreht sich um 180 Grad. Rote Lichteffekte blitzen an der Rückwand auf, der Boden wird ebenfalls rot, blutrot. Stroboskop-Gewitter folgen, bis man selbst in Angst und Bange ist vor lauter Lärm und Zorn. Sie ergreifen die Lautsprecher, die wie Betonklötze an langen Bändern hängen, beginnen diese unendlich lange im Kreis zu schwingen und die Zuschauer hoffen nur, dass die beiden Tänzer sie nicht loslassen, tödliche Gefahr droht, für uns, für die beiden, bis sie erschöpft aufgeben. Au Weia!

7. NEID: Da kommt die ruhige Cellokantilene, die Anna Müller für Sharon Eyals Interpretation der siebten Todsünde komponiert hat, gerade recht zur vermeintlichen Entspannung. Wir sehen drei Frauen in weissen Trikots auf der Bühne, etwas Theaternebel steigt auf, schon fast wähnt man sich im weissen Akt eines klassischen Balletts wie Giselle oder Schwanensee. Allerdings wird nicht auf der Spitze getanzt. Die drei Frauen beäugen sich aber ganz genau, eine macht ihr eigens Ding, die beiden andern verschwören sich irgenwie gegen sie - Mobbing? Alles wirkt repetitiv, ein Ostinato an perfekter Fussarbeit versetzt in Erstaunen. Shraon Eyal sagt im Programmheft, dass Neid ihr Angst mache, sie abstosse und traurig mache. Die drei Frauen auf der Bühne haben ihre Menschlichkeit verloren, tanzen immer weiter, wie gefühllose Maschinen ... .

Der Jubel des Publikums am Ende war gigantisch, hoffentlich ist sich Winterthur bewusst, was für ein herausragendes Programm auf allerhöchstem Niveau dieses Gastspieltheater der Stadt bietet. Heute Abend gibt's nochmals die Gelegenheit, GAUTHIER DANCE zu erleben!

Werk:

«The Seven Sins», sieben Choreografien

Neid, Habsucht, Völlerei, Zorn, Wollust, Trägheit, Hochmut. Sieben Vergehen sind es, die im Katechismus als die schlimmsten, die nicht zu vergebenden Sünden gelten. In der Kunst haben sie von der Malerei der Renaissance bis zum Hollywoodfilm sämtliche Genres inspiriert. Jetzt lässt Eric Gauthier sie auf sieben verschiedene Arten tanzen.

Gauthiers Konzept folgt dabei dem Vorbild des Cadavre Exquis, einem Spiel der Surrealisten, bei dem mehrere Künstler auf einem gefalteten Blatt eine surreale Zeichnung oder einen Satz zusammensetzen, ohne von den Inhalten der anderen zu wissen. Der Tausendsassa aus Stuttgart vereint für seine Collage die Crème de la Crème der internationalen Choreografie: Aszure Barton, Sidi Larbi Cherkaoui, Sharon Eyal, Marco Goecke, Marcos Morau, Hofesh Shechter und Sasha Waltz. Alle diese Choreograf:innen stellen sich der ungewohnten Herausforderung der kleinen Form. Jeder transponiert eine der Todsünden in Bewegung – dunkel oder grell, minimalistisch oder bilderstürmend, vom Tanztheater über Performance bis zum modernen Ballett, ohne von der Arbeit der anderen Kenntnis zu haben. So setzt sich ein Mosaik aus unterschiedlichen Bildern zum grossen, metaphernreichen Tableau zusammen. (Text: Theater Winterthur)

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