St.Gallen, Theater: RENT (Musical); 17.02.2024
Die sich im Themenkreis von HIV, AIDS und Diversity bewegende Musical Sensation der 90er Jahre kommt nach St.Gallen
Musik, Buch und Liedtexte: Jonathan Larson | Originalkonzept und weitere Liedtexte: Billy Aronson | Offizielle Uraufführung: 25. Januar 1996 in New York | Aufführungen in St.Gallen: 17.2. | 18.2. | 21.2. | 24.2. | 25.2. | 1.3. | 2.3. | 22.3. | 23.3. | 7.4. | 8.4. | 11.4. | 20.4. | 19.5. | 20.5. | 24.5. | 25.5. | 1.6. | 8.6.2024
Kritik:
ICH KAM, SAH, HÖRTE - UND WEINTE
Die Aufführung von RENT am Theater St.Gallen ist ein mitreissendes und vor allem bewegendes und eben auch zu Herzen gehendes Ereignis, das ist Musiktheater mit beeindruckender Relevanz, ein Plädoyer für Empathie, Menschlichkeit und vor allem für die Liebe in all ihren Ausprägungen. Obwohl das zentrale Thema, um welches RENT kreist, die AIDS/HIV Pandemie der 80er und 90er Jahre ist, bleiben die Kernaussagen auch für die heutige Generation relevant, geht es doch um den Umgang mit Kranken, mit Randständigen und mit Menschen, deren Lebensentwürfe und Partnerwahlen sich nicht dem heteronormativen Anspruch angleichen können und das auch nicht wollen. Dieses Plädoyer wird in St. Gallen vom herausragenden Ensemble auf der Bühne mit derart grandioser Einfühlsamkeit in die diversen Charaktere umgesetzt, dass ich am Ende regelrecht vor Rührung geschüttelt wurde (das mag jetzt unprofessionell klingen, aber so war es).
LA VIE DE BOHÈME
Über die Verwandtschaft von RENT und Puccinis 100 Jahre zuvor entstandener Oper LA BOHÈME kann man bei meinen untenstehenden Erläuterungen zum Werk mehr nachlesen. Frappant für mich war, dass uns Jonathan Larson in seinem Musical die Charaktere noch näher bringt als Puccini und seine Librettisten. Klar, die Musik ist weniger gefühlsbetont als beim genau kalkulierenden Puccini (wäre ja auch lächerlich, wenn man das Meisterwerk des Italieners kopierte). Larson weicht glücklicherweise nicht auf Soft- oder Kuschelrock aus, sondern bleibt quasi durchgehend im harten Rockbereich, mit Einsprengseln (mal ein Tango, etwas Souliges, Jazziges oder Songhaftes). Das ist oft laut, manchmal schrill, entspricht jedoch genau dem dargestellten Lebensgefühl dieser jungen Menschen und Künstler, die aufgerieben werden zwischen Armut, Krankheit und Gentrifizierung (ihr verfallenes Industrieloft, wo sie gratis mit ihrer WG wohnen konnten, soll in einen Schickimicki - Wohn-Kunst-Komplex umgebaut werden). Dass man da die Wut und die existenziellen Ängste auch mal rausschreien muss, ist verständlich. Ja, es wird laut, sehr laut, aber nie zu laut. Natürlich ist das Dauerforte der Stimmen anstrengend für die Hörer und bestimmt auch für die Ausführenden. Doch einmal mehr ist in St.Gallen die Tontechnik so exzellent austariert, dass man nicht um sein Gehör fürchten muss. Da ist nichts übersteuert und der Mix der Stimmen auf der Bühne mit der Band im Graben gelingt mit herausragender Transparenz des Klangs. Grosser Dank also an Nicolai Gütter-Graf und Peter Szabo für den Ton. Im Graben trumpft die RENT-Band, bestehend aus zwei Musikern an Keyboards, vier Gitarristen, einem Bassisten und zwei Schlagzeugern unter der Leitung von Christoph Bönecker am Keyboard I mit bestechender, rhythmisch mitreissender Präzision auf.
Pralles Leben wird diesen Bohemiens natürlich von den Darsteller*innen auf der Bühne eingehaucht, die allesamt überragend sind: Naomi Simmonds, welche die drogenabhänige, HIV-positive Mimi trotzig und fragil zugleich darstellt, singt mit wunderbar soulig klingender Stimme. Dominik Hees verleiht dem Ex-Junkie Roger eindringliches Profil: Er ist auf der Suche nach dem ganz grossen Song, auf seiner Gitarre findet er immer wieder zu den Griffen, welche Quando m'en vo' (den Walzer Musettas aus LA BOHÈME) anklingen lassen. Den fertigen Song singt er dann erst - und so berührend - als nach all den Konflikten, welche die beiden mit aller Vehemenz in ihrer Beziehung auszutragen haben, Mimi todkrank von den Freunden aus dem Park in die WG geschleppt wird. Eindringlich gestaltet Naomi Simmonds das qualvolle Nahtoderlebnis Mimis, das Licht, das den toten Angel umgibt, der sie ins Leben zurückschickt. Angel, diese Drag Queen voller Empathie und Liebe für die Mitmenschen, wird von Gonzalo Campos Lopez überaus anrührend gestaltet, sowohl im Fummel, als auch ungeschminkt. Nur schon das Kennenlernen von ihm mit dem wegen seines aufmüpfigen und obrigkeitskritischen Verhaltens entlassenen Philosphieprofessor Tom Collins (Colline in der BOHÈME) ist von wunderbarer, zutiefst menschlicher Poesie geprägt. Daniel Dodd-Ellis ist dieser feinfühlige Philosoph, der von einer Gang mit Baseballschlägern zusammengehauen wird, dem sein geliebter Mantel geklaut wird und der von Angel so liebevoll umsorgt wird. Genauso liebevoll geht Collins bei der Sterbebegleitung mit Angel um. Das rührt zu Tränen, wenn Angel ihm sein ausbrechendes Kaposi-Sarkom (damals ein eindeutiges Symptom dafür, dass die Krankheit AIDS voranschreitet und der Tod nah ist) zeigt, Collins sich zu Angel ins Krankenhausbett legt und ihn in den Armen hält. Konterkariert wird diese Liebe der beiden von den Streitereien Mimis mit Roger und Maureens mit Joanne. Diese on-and-off Beziehung zwischen der bisexuellen Aktivistin und Performance-Künstlerin Maureen und der lesbischen Anwältin Joanne wird vom Regisseur Matthew Wild mit grosser Prallheit und Eindringlichkeit gezeichnet und von Jeannine Michele Wacker als Maureen und Kerry Jean als Joanne mit wunderbarer Direktheit umgesetzt. Eine grossartige Show liefert Jeannine Michele Wacker mit ihrem aktivistischen Auftritt und ihrem Outfit (Stola aus Kuheutern und Leggins im Stil einer Holsteiner Kuh). Kerry Jean beeindruckt mit ihrem riesigen Stimmunfang, ihrer Mimik und den genauen Spiel. Zwischen diesen drei Paaren steht Mark Cohen, der Filmemacher und das Herz der Künstler-WG: Thomas Hohler gelingt es ausgezeichnet, Sympathieträger zu werden, gekonnt wechselt er zwischen seiner Rolle als Erzähler und filmisch dokumentierendem Mitglied der WG, zeigt gerade in seinen Duetten mit seinem Freund Roger grandiose stimmliche Qualitäten und überragende Intonationssicherheit. Eindringlich zeigt Vikrant Subramanian die Wandlungen Bennys: Erst ist der ehemalige Mitbewohner und Freund Mimis, der nun durch Heirat zu Geld gekommen ist und den Industriekomplex gekauft hat, ein unsympathischer Immobilienhai, der plötzlich nur noch den Gewinn maximieren und von den ehemaligen Freunden Miete (Rent) eintreiben will. Doch der Tod Angels und die damit verbundene Trauer der Freunde bewirkt auch bei ihm ein Umdenken. Es gibt noch viele weitere Rollen, welche von Gerd Achilles (u.a. als Pastor), Rachel Colley (Polizistin und Ensemble), Amya Keller (Mutter von Mark und Obdachlose), Robert Lankester, Florian Minnerop (Gordon), Jessica Rühle (Rogers Mutter), Sander van Wissen (Obdachloser), Tobias Stemmer (Polizist), Lara de Toscano (Alexi Darling und Mimis Mutter), Tamara Wörner (Joannes Mutter) und Adrian Hochstrasser (Swing) mit packendem Einfühlungsvermögen und starken gesanglichen Leitstungen interpretiert werden. Sie alle meistern neben den gesanglichen Herausforderungen auch die tänzerischen mit Bravour: Die Chorgeographie von Louisa Talbot ist abwechslungsreich und mit nie erlahmender Energie geladen! Herrlich inzeniert der Regisseur Matthew Wild die vielen Anfrufe der besorgten Eltern, welch auch mal in einem Quintett (in der Art eines Concertato würde man in der Opernsprache sagen) ihren unterschiedlichen Gefühlen Ausdruck verleihen. Paul Wills hat ein die Atmosphäre der Grossstadt mit ihren verfallenden (und vielleicht besetzten) Bürogebäuden und Industriehallen stimmig einfangendes Bühnenbild entworfen. Seitlich wird der Raum von Balkonen begrenzt und für die Auftritte und Telfonanrufen z. B. der Eltern genutzt. Claudio Pohle hat für die Kostüme einen Mix aus alternativer Kleidung Jungendlicher aus drei Jahrzehnten entworfen, die Palette reicht von Hippie, über Pop der siebziger Jahre mit den Schlaghosen und HipHop und Sneakerfetisch zu Punk und Leder und unterstreichen damit den Anspruch der Allgeimeingültigkeit des wichtigen Themas. Das Lichtdesign von Tim Mitchell beeindruckt mit atmosphärischer Dichte. Die in Schwarz-Weiss gehaltenen Videoeinspielungen von Reto Müller kommen mit ihren beabsichtigten Bildstörungen als authentisch wirkende Dokumentarfilme im Stil von filmischen Wochenschauen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts daher. Aufrüttelnd ist die Szene auf Grossleinwand, in der ein Junge sein Hemd aufknöpft und darunter die mit Kaposi-Sarkomen übersäte Brust sichtbar wird. Zu Beginn wurde von Seiten des Publikums manchmal noch gelacht (an den falschen Stellen), doch mit zunehmender Dauer des eindringlichen Abends machte sich dann doch Ergriffenheit breit. Am Ende, nach dem mitreissenden und hoffnungsvoll stimmenden Finale, steht dann nur noch die brennende Kerze auf der Bühne, für die sich Mimi mit eiskalten Händen bei Roger ein Streicholz geborgt hatte... .
Standing ovation und grosser Jubel des voll besetzten Hauses für alle Beteiligten! Überaus verdient!
Werk und Inhalt:
Jonathan Larson und Billy Aronson basierten ihr Rock-Musical RENT lose auf der Oper LA BOHÈME von Giacomo Puccini. Die Idee zu RENT nahm Ende der 1980er Jahre konkrete Form an, also in den Jahren, als die AIDS - Krise ihrem fatalen Höhepunkt zustrebte, keine wirksamen Medikamente zur Verfügung standen und die Krankheit gerade in den Künstlerkreisen des East Village-Viertels in New York junge, vielversprechende Menschen reihenweise dahinraffte, darunter auch viele Freunde und Bekannte von Larson und Aronson. Die offizielle Premiere fand im New Yorker Theatre Workshop statt, also Off-Broadway, Der Erfolg war jedoch so gross, dass RENT schon drei Monate später ins grössere Nederlands Theatre am Broadway wechselte und während zwölf Jahren (5123 Vorstellungen!) ununterbrochen gespielt wurde. Das Musical erhielt den renommierten Pulitzer-Preis und den Tony Award als bestes Musical. Jonathan Larson glaubte immer an den Erfolg seines Musicals, erlebte ihn jedoch traurigerweise nicht mehr; er verstarb in der Nacht vor der Uraufführung an einem Aortenaneurysma. 2005 produzierte Roberto de Niro die Verfilmung von RENT in der Regie von Chris Columbus.
Im Musical ist Puccinis Mimí die an HIV erkrankte Tänzerin Mimi Marquez, Rodolfo ist Roger Davis, ein HIV-positiver Songwriter, Marcello ist Mark Cohen, ein Filmemacher, Musetta ist Maureen Johnson, eine bisexuelle Performancekünstlerin und Aktivistin. Puccinis Musiker Schaunard wird im Musical zu Angel Dumont Schunard, einer Drag Queen mit HIV und Colline wird zu seinem homosexuellen Partner Tom Collins, einem Philosphieprofessor. Das Musical beginnt - wie Puccinis LA BOHÉME - an Heiligabend. Allerdings werden die Hintergründe der Figuren viel stärker ausgeleuchtet als in der Oper. so spielen zum Beispiel die Anrufe von Marks Mutter und ihre besorgten Nachrichten auf dem Anrufbeantworter eine grosse Rolle. Auch machen die Figuren komplexere Entwicklungen durch. Das Musical ist ein eindringlicher Aufschrei gegen die Unnachbiebigkeit und Intoleranz der Gesellschaft, ein Plädoyer für Empathie. Es kommt - wie in der Oper auch - in der vielschichtigen Handlung des Musicals zu den Trennungen der Hauptpaare. Angel stirbt an AIDS. Das Ende jedoch zeigt einen Hoffnungsschimmer: Die sterbende Mimì sieht ein weisses Licht und die Erscheinung von Angel, der sie ins Leben und in die Arme Rogers zurückschickt.