St.Gallen: MANON, 29.01.2011
Oper in fünf Akten |
Musik: Jules Massenet |
Libretto: Henri Meilhac und Philippe Gille
Uraufführung: 19. Januar 1884 in Paris |
Aufführungen in St.Gallen: 29.1. | 5.2. | 9.2. | 13.2. | 27.2. | 1.3. | 4.3. | 23.3. | 27.3. | 12.4. | 28.4.2011
Kritik:
Massenet erschien mit der gedruckten Partitur zu den Proben für die Uraufführung seiner MANON, um Kürzungen seiner Oper auszuschliessen, denn er war sich der Qualität des Werkes sehr sicher. Im Verlauf der Aufführungsgeschichte jedoch wurde immer wieder an MANON herumgebastelt – so auch gestern Abend in St.Gallen. Ulrich Schreiber schreibt in seinem OPERNFÜHRER FÜR FORTGESCHRITTENE: „Dabei geht hier jeder kleine Eingriff schon an die Substanz ... .“ Einerseits kann man zwar die Konzentration des Regisseurs Jan Schmidt-Garre auf die Titelfigur (und auf Des Grieux) durchaus verstehen und ihr eine gewisse Stimmigkeit nicht absprechen, da der Regisseur die Worte, welche Manon singt, sehr genau analysiert und schwer nachvollziehbare Stimmungsumschwünge und Ungereimtheiten der Handlung (Deportation wegen eines geringen Vergehens) eliminiert hat. Andererseits bleibt an Verständlichkeit und emotionalem Gehalt doch einiges auf der Strecke. Denn auf der Bühne fehlen dem Regisseur, welcher bisher mit seinen Filmen viel Anerkennung gewinnen konnte, die technischen Möglichkeiten, um Träume und Visionen fühl- und erlebbar zu machen. Der Ansatz, die Verschmelzung der zwei Zeitebenen Barock und Belle-Époque, scheint klug gewählt, schafft aber eine Distanz des Zuschauers zu den Protagonisten, welche von den Schöpfern des Werks so wohl kaum beabsichtigt war. Die Oper beginnt in einem beinahe leeren, grauen Raum, in welchem eine Minibühne aufgebaut ist, auf der ein Mädchen mit Requisiten spielt. Auf dieser Bühne erscheint auch Des Grieux als barocker Jüngling. Die „moderne“ Manon, die hier nicht mehr so jung und naiv ist, wie sie Massenet (und Prévost) gezeichnet haben, findet dieses barocke Ambiente anziehend und taucht darin ein. Im zweiten Akt dann ist diese Bühne so gross geworden, dass sie die gesamte Spielfläche einnimmt. Hier hat der Regisseur auch inhaltlich Änderungen vorgenommen, indem er Manon viel positiver zeichnet und sie nicht mit de Brétigny fliehen lässt. Den ersten Teil des dritten Akt, lässt er wieder im grauen Saal mit der Minibühne spielen. Manon tritt als einzige in flammend rotem Abendkleid auf, die Menge ist grau gewandet (Bühne und Kostüme: Herbert Murauer). So wird die Entfremdung Manons von der Gesellschaft sehr anschaulich verdeutlicht. Durch das etwas gar betulich-biedere Ballett auf der kleinen Bühne wird Manon der Verlust ihres Geliebten wieder bewusst. Erneut begibt sie sich in die künstliche, barocke Welt, diesmal ins Priesterseminar. Im vierten Akt erscheint Des Grieux erstmals als modern gekleideter Mann, um im Finalakt wieder in seinem barocken Zimmerchen eine letzte Vision von Manons Tod zu haben. Auch dieser Akt ist sämtlicher Nebenhandlung beraubt, keine Deportation, keine gescheiterte Entführung Manons. Lescaut tritt nicht mehr auf (ihm wurde auch schon seine Arie im ersten Akt gestrichen, genauso wie die stimmungsvollen mélodrames).
Zum Glück liess die musikalische Qualität der Aufführung diese kleinen szenischen Einschränkungen schnell vergessen. Das herausragende Ensemble des Theaters St.Gallen und der zugezogene Gast begeisterten mit einer hinreissenden Wiedergabe dieser grandiosen Komposition. Evelyn Pollock gelang ein vielschichtiges Porträt der jungen, ihre Selbstbestimmung suchenden Frau. Mit berückenden Piani und dem warmem Timbre der sauber geführten Stimme gestaltete sie ihre Auftrittsarie und fing die triste Melodik des Adieu notre petite table ein. Doch ihr breites dynamisches Ausdrucksspektrum verfügte auch über die geforderten kraftvollen Spitzentöne und die koloraturgewandte Geläufigkeit für die grosse Arie im dritten Akt, sowie den verführerischen Schmelz in der Szene in Saint-Sulpice. Wunderbar! Ihr Partner war Bruno Ribeiro: Welch eine Kraft in der Stimme, welch elgantes, leicht eingedunkeltes Timbre. Stilsicher gestaltete er seine Phrasen (wenn auch sein schier unbeschränktes Volumen die Dimensionen des Hauses ab und an zu sprengen drohte), in der Höhe waren nicht die geringsten Einengungen zu spüren, ja die Stimme schien an Farbigkeit noch zu gewinnen. Sowohl die sensibel gestaltete Traumerzählung im zweiten Akt als auch seine grosse Arie im zweiten Bild des dritten Aktes waren (neben all dem Religionskitsch, an welchem Massenet in seinem Oeuvre immer knapp vorbeischrammt) Psychodramen von bewegender Intensität. Wie Bruno Ribeiro sich vom Gebet bruchlos zum Ah fuyez aufschwang, verdient höchste Bewunderung. Diesen jungen Sänger muss man unbedingt im Auge (und im Ohr!) behalten. Wade Kernot verlieh dem Vater Des Grieux unheimliche Präsenz und fand im Duett mit Manon zu einfühlsamen Tönen. Lescauts Rolle war zwar wie erwähnt leider stark beschnitten, doch Markus Beam machte das Bestmögliche daraus. Sein komödiantisches Talent stellte er im zweiten Akt zusammen mit David Maze als de Brétigny unter Beweis. Riccardo Botta verlieh dem Guillot Profil und Alison Trainers kokett-perlendes Lachen als Poussette weckte schöne Erinnerungen an ihre Fledermaus-Adele. David Stern am Pult des Sinfonieorchesters St.Gallen wich der drohenden Larmoyanz durch geschickte Tempowahl aus, liess zwar den Klang der wunderbar spielenden Streicher in aller Süsse aufblühen, doch wirkte die Musik nie allzu klebrig oder gar kitschig. Mit grosser Sensibilität schaffte das Orchester die Übergänge von elegischen Momenten zu packender Dramatik.
Fazit:
Musikalisch mit einer fulminanten Leistung des gesamten Ensembles begeisternd - kleinere Einschränkungen auf der szenischen Seite.
Inhalt:
Der junge Soldat Lescaut soll seine Cousine Manon ins Kloster bringen, da ihr leichtsinniger Lebenswandel der Familie nicht zusagt. Doch ist Lescaut mehr am Kartenspiel als am Beaufsichtigen seiner Cousine interessiert. So schliesst Manon Bekanntschaft mit dem jungen Chevalier Des Grieux, welcher seinerseits auf dem Weg vom Priesterseminar zu seiner Familie ist. Die jungen Leute entflammen füreinander und fliehen gemeinsam nach Paris. Das wenige Geld der beiden ist jedoch schnell aufgebraucht. Lescaut und der reiche de Brétigny berichten Manon, dass Des Grieux' Vater seinen Sohn gewaltsam entführen lassen will, um die mésaillence zu verhindern. Doch Manon warnt ihren Geliebten nicht, nimmt wehmütig Abschied von der kleinen Wohnung und zieht mit de Brétigny davon. Manon erlangt Berühmtheit in der Pariser Schickeria. Selbst der Vater von Des Grieux, welcher aus der Provinz angereist ist, muss gestehen, dass er ihren Reizen erliegen könnte. Von ihm erfährt Manon auch, dass Des Grieux bald die Priesterweihe empfangen wird. Sie befürchtet, Des Grieux, den sie immer noch liebt, könnte sie vergessen haben. Im Priesterseminar wird Des Grieux als begabter Prediger verehrt. Sein Glaube soll ihm helfen, die femme fatale Manon zu vergessen. Manon taucht auf. Des Grieux kann ihren Zärtlichkeiten nicht widerstehen und zieht erneut mit ihr zusammen. Doch das Luxusbedürfnis von Manon kennt keine Grenzen. Um an Geld zu gelangen, zwingt Manon Des Grieux zum Kartenspiel. Er gewinnt grosse Summen, wird aber des Falschspiels beschuldigt. Sein einflussreicher Vater lässt ihn zum Schein in Arrest nehmen; Manon als Komplizin wird tatsächlich verhaftet. Auf einer Landstrasse warten Lescaut und Des Grieux auf die zur Deportation verurteilten Frauen, unter denen sich auch Manon befindet. Die gewaltsame Befreiung der todkranken Manon scheitert. Dank der Bestechung eines Sergeanten können sich die beiden Liebenden noch einmal kurz sehen. Manon stirbt in Des Grieux' Armen.
Werk:
Jules Massenet war nicht der einzige Komponist, der sich des MANON-Stoffes angenommen hatte, welcher auf der Erzählung von Abbé Prévost aus dem Jahre 1728 beruht. Vor Massenet hatten bereits Halévy ein Ballett und Auber (1856) eine erfolgreiche Oper komponiert, welche leider kaum mehr gespielt wird. Nach Massenet folgten noch Puccini (1893) mit seiner MANON LESCAUT und Hans Werner Henze mit BOULEVARD SOLITUDE (1952). Puccinis Werk hatte zwar Massenets lyrische Oper kurzzeitig an Popularität übertroffen; doch heutzutage sind beide Werke beliebte Pfeiler des Repertoires. Ein Fall der bei Opern, welche auf der selben Vorlage fussen, eher selten anzutreffen ist. Mit der Kreation dieser femme fatale gelang es Massenet, sowohl den Zeitgeist zu treffen (wie auch Bizet mit Carmen, Saint-Saëns mit Dalila, Massenet mit Thaïs), als auch die Zeit der Belle-Époque auf wunderbare Weise heraufzubeschwören. Die Musik ist von vielschichtiger melodischer Einfallskraft geprägt, der gesprochene Dialog der opéra-comique ist zugunsten von melodram-artigen Passagen fast vollständig verschwunden. Motive treten als personenbezogene Erinnerungsmotive auf und nicht als Leitmotive im Sinne Wagners, obwohl Massenet dieser Vorwurf oft gemacht wurde. Einen Höhepunkt (und einen Tabubruch) stellt sicher die Verführungsszene im Priesterseminar Saint-Sulpice dar: Die jungen Leute auf dem Weg zur sexuellen Selbstbestimmung, das Überbordwerfen von gesellschaftlichen Zwängen und Gepflogenheiten. Darin wagen die Schöpfer dieser wunderbaren Oper einen gewagten Schritt ins 20. Jahrhundert.
Musikalische Höhepunkte:
Je suis encore tout étourdie, Manon Akt I
Regardez-moi biens dans les yeux, Lescaut, Akt I (in St.Gallen gestrichen)
Voyons, Manon! Manon, Akt I (in St.Gallen gestrichen)
Nous vivrons à Paris, Des Grieux-Manon, Akt I
Adieu, notre petite table, Manon, Akt II
Je marche sur tous les chemins, Manon, Akt III
Je suis seul!Seul enfin, Des Grieux, Akt III
Toi!Vous! Manon-Des Grieux, Akt III
Manon!Sphinx étonnante, Des Grieux, Akt IV
Ah, je sens une pure flamme, Manon, Akt V
N'est-ce plus ma main, Des Grieux, Akt V