St.Gallen: LA WALLY, 20.10.&18.11.2012
Dramma lirico in vier Akten | Musik: Alfredo Catalani | Libretto: Luigi Illica | Uraufführung: 20.Januar 1892 in Mailand | Aufführungen in St.Gallen: 20.10. | 26.10. | 28.10. | 3.11. | 14.11. | 18.11. | 25.11. | 30.11. | 4.12. | 11.12. | 16.12.2012
Kritik:
(Über die Vorstellung vom 18.November 2012 finden sie am Ende der Kritik eine Würdigung!)
Man betritt das Theater St.Gallen, blickt auf dem Zwischenvorhang in den Saal der Pariser Oper und fragt sich: Was hat der prunkvolle Zuschauersaal des ehrwürdigen Palais Garnier mit der beengten und einengenden Tiroler Bergwelt, in welcher Catalanis Oper LA WALLY eigentlich spielt, zu tun? Regisseur Guy Joosten und sein Ausstatter Johannes Leiacker geben mit ihrer klugen Inszenierung des leider viel zu selten aufgeführten Werks einleuchtend Aufschluss. Sie verweben durchdacht die Geschichte des Heimatromans aus der Bergwelt des Ötztals (ein wunderschön kaltes Bergpanorama umschliesst die Bühne) mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Werks - von den trivialen Verfilmungen der 40er und 50er Jahre bis zum Kultthriller DIVA – mit Catalanis (und auch Wilhelmine von Hillerns) Bild der unterdrückten, in ihrer selbstbestimmten Entwicklung gehemmten Frau, welche durch Weltentsagung und -verweigerung den Freitod wählt. Hier in St.Gallen ist die Wally von Beginn weg die Aussenseiterin: Sie passt sich nur schon in ihrer Kleidung und Frisur (eine wunderbare Arbeit der Masken- und Perückenabteilung!) nicht dem 50er Jahre Look der Dorfbewohnerinnen an, sondern tritt energisch im modernen Hosenanzug auf. Mit der Welt ihres fies-gehässigen alten Vaters Stromminger (mit wunderbar kernigem Bass und grossartiger Darstellung: David Maze) will sie nichts zu tun haben. Sie träumt sich noch vor Beginn des Vorspiels in die Rolle der grossen Diva, stimmt die berühmte Arie a capella an, testet ihre Stimme im leeren Saal (genau wie der Opernstar Cynthia Hawkins in DIVA). Nach dem Zwangsverheiratungs-Edikt ihres Vaters flüchtet sie in eine andere Welt, nicht in die Berghütte auf dem Murzoll, sondern in eine Traumwelt als Operndiva im mondänen Paris, wo Catalani als junger Student wohl erste Berührungen mit der Opernwelt hatte und wo einst Diven wie Marlene Dietrich oder die Callas Triumphe feierten, aber auch ihr Leben in trister Einsamkeit beschliessen mussten. So schmückt sich die Wally in St.Gallen dann auch nach dem Tod ihres Vaters mit kostbaren Pelzen, übertrieben schwülstigen, schwarzen Roben und teuren Perlenketten. Und eigentlich bekommt sie durch die Realitätsflucht kaum mehr etwas von ihrer Umgebung mit: Wie Madonnas Zungenkuss mit Britney Spears für Aufsehen sorgte, tut es Wallys Kuss auf Afras Mund (Theresa Holzhauser singt Afra mit wunderbar warmem Mezzosopran), welche sie irrtümlicherweise für die Geliebte Hagenbachs hält. Überhaupt dieser Hagenbach: Unsympathisch, kettenrauchend, Schürzen- und nicht Bärenjäger. Auch vom Komponisten wurde der heldische Tenor mit nur wenigen vokalen Höhepunkten bedacht, neben der dominanten Protagonistin verkommt er zu einer Nebenfigur. Arnold Rawls macht das Beste daraus, steigert sich mit heldisch-stählernem Klang ins ekstatische Schlussduett, welches abrupt abgebrochen wird. Ein Abbruch, von welchem die Wally gar nichts mehr mitkriegt, eingetaucht in ihre Traumwelt spielt sie die Leidenschaft nur als Operndiva, lacht auf bei Hagenbachs Warnruf: La valanga. Sie stürzt sich am Ende auch nicht in diese Lawine, sondern verneigt sich vor dem Pariser Vorhang, endgültig einer Welt entfremdet, mit der sie von Beginn weg nichts zu tun haben wollte: Seien es die peinlichen Miss-Sölden Wahlen im zweiten Akt (mit einem überaus unterhaltsamen Matt Boehler als Conferencier und einem die grossartige Kompositionskunst Catalanis demonstrierenden Quartett Afra-Hagenbach-Walter-Conferencier), seien es die frömmelnden Gesänge der Dorfgemeinschaft (sehr klangschön und wenn notwendig auch herrlich kräftig, wie z.B. das È salvo im dritten Akt der Chor des Theaters St.Gallen). Genau so wenig zu tun haben will sie eigentlich mit dem ihr sklavisch ergebenen, aber sexuell total verklemmten Gellner. Gabriel Suovanen liefert hier eine grandiose Charakterstudie dieses zwiespältigen Mannes ab, presst die Knie ängstlich wie ein erregter Pubertierender zusammen und lässt doch seinen kräftigen Bariton mit enormer Virilität strömen. Viele subtil herausgearbeitete gestische Details zeugen von der einfühlsam charakterisierenden Personenführung durch den Regisseur Guy Joosten. Er macht z.B. aus dem Hirtenjungen und Zitherspieler Walter ein zur emanzipierten Wally in Ehrfurcht aufblickendes Schulmädchen (mit hellen, sanft und wehmütig intonierten Jodlern: Alison Trainer) und umschifft so die Peinlichkeiten einer Hosenrolle. Doch das unleugbare Zentrum der Oper und der Intention Catalanis bleibt die Wally: Sie ist DER Star der Oper, hat in allen vier Akten je eine grosse Soloszene von enormer Intensität zu meistern. Geradezu eine Paraderolle für eine grosse Tragödin – und Mary Elizabeth Williams spielt in St.Gallen eine Diva von ungeheurer Bühnenpräsenz. Mit jedem Augenaufschlag, jedem demonstrativen Griff zur Perlenkette, den selbstverliebten, träumerischen Blicken in die Spiegel, dem autoritären Chi oso (Wer wagt es!) ihres ersten Auftritts stellt sie eindringlich die Facetten dieser vom Komponisten mit unglaublicher Kraft gezeichneten Figur dar. Frau Williams gebietet über eine warm timbrierte, ausdrucksstarke und wenn nötig auch sehr kräftige Stimme, welche sie sehr differenziert einzusetzen vermag, wunderbar tragkräftige Piani verbinden sich organisch mit gewaltigen Ausbrüchen ins Fortissimo. Die dann teilweise auftretenden Verhärtungen mögen einer gewissen Premierennervosität geschuldet sein, ebenso wie die kleinen Divergenzen der Tempi zu Beginn der Arie im ersten Akt, welche sie jedoch schnell in den Griff bekam und mit dem herrlich aufblühenden Quartsprung zum H und der anschliessenden Oktavierung wunderbar abschloss. Ergreifend dann auch die Jodlerreminiszenz von Wally und Walter aus dem Off. Neben der die Figuren präzis herausarbeitenden Regie gebührt auch dem in ungemein plastischen Farben malenden Sinfonieorchester St.Gallen unter der spannungsgeladenen Leitung von Modestas Pitrènas grosse Anerkennung. Das zarte Vorspiel zum 3. Akt wird mit berührender Intensität gespielt, kontrastierend mit den sich in die fahlen Klänge und Fetzen von folkloristischen Tänzen richtiggehend hineinfressenden Naturgewalten im Vorspiel zum 4. Akt.
Mag sein, dass man am Ende vielleicht wegen der Verfremdung durch den „Diventraum“ von der tragischen Geschichte nicht ganz so ergriffen oder zu Tränen gerührt war, doch ein anregender, spannend-dramatischer Abend ist mit dieser WALLY garantiert – und zugleich liefert das Theater St.Gallen ein überzeugendes Plädoyer für einen zu Unrecht zwischen Verdi, Puccini und den Veristen beinahe vergessenen Komponisten.
Vorstellung vom 18. November:
Glücklich ein Theater, welches anspruchsvolle Gesangspartien (wie sie diese aus LA WALLY darstellen) doppelt besetzen kann und man dabei nicht von einer A- bzw. B- Besetzung berichten muss. Denn die Alternativbesetzung, die gestern im Theater St.Gallen zu hören war, ist absolut erstklassig, ja es gab geradezu mitreissende, beglückende und bewegende Rollenporträts zu erleben. Deshalb erübrigt es sich auch, Vergleiche mit der Premierenbesetzung anzustellen, denn egal welchen Sängerinnen und Sängern man in den wenigen verbleibenden Vorstellungen begegnen wird, ein musikalisch und szenisch packendes Musiktheatererlebnis ist garantiert.
Katrin Adel dominiert natürlich als Wally die Bühne, macht jede ihrer Szenen zu grandiosen, aufrüttelnden Auftritten. Ihre grosse, ausdrucksstarke Stimme vermag sowohl die der Figur innewohnende Kraft als auch ihre Verletzlichkeit auszudrücken, zu rühren und Gänsehaut hervorzurufen – dazu geht man in die Oper und wird von Frau Adel aufs Wunderbarste belohnt. (Man darf sich schon auf ihre Ariadne im kommenden Jahr an diesem Haus freuen!) Ihr tenoraler Partner Derek Taylor als Hagenbach läuft in der dramatischen Schlussszene zu ganz grosser Form auf - und endlich versteht man auch, warum sich die Wally trotz dessen anfänglich unsympathischen Gehabes zu diesem Mann hingezogen fühlt. Genauso wie bei Frau Adel vermag Derek Taylor die verletzliche Seite Hagenbachs, welche unter dem prahlerischen Gehabe, der stählernen Strahlkraft und dem heldischen Aplomb seiner Stimme verborgen ist, aufzudecken. Mit Paolo Rumetz als Gellner hat er einen stimmlich schwergewichtigen Gegner. Rumetz lässt seinen herrlich timbrierten Bariton fantastisch raumgreifend und mit dramatisch fundierter Kraft strömen. Ein Bariton der Sonderklasse!
Ihre wunderbaren Leistungen aus der Premiere bestätigten Alison Trainer (Walter), Theresa Hozhauser (Afra) und der vor Altersbosheit nur so strotzende David Maze als Strominger. Entgegen der Angabe auf dem Besetzungszettel sang in dieser Vorstellung Wade Kernot mit seinem ebenmässigen, resonanzreichen Bass den Boten (Conférencier). Traumhaft schön, präzise und sich fulminant in die Naturgewalten steigernd spielte wiederum das Sinfonieorchester St. Gallen unter Modestas Pitrenas. Sicher und durchschlagskräftig gestaltete der Chor seine kommentierende Aufgabe. Eine Aufführung mit grandioser Sogwirkung und gefährlichem Suchtpotential!!!
Inhalt:
Im Tiroler Ötztal: Der Grossgrundbesitzer Stromminger feiert seinen 70. Geburtstag mit einem Schützenfest. Aus dem Nachbardorf taucht der prahlerische Jäger Hagenbach am Fest auf. Stromminger gerät mit ihm in Streit. Der Verwalter Gellner weiss zu berichten, dass Strommingers Tochter Wally, in Hagenbach verliebt sei. Stromminger will nun, dass Wally schnellstmöglich Gellner heiratet. Doch die stolze Wally weigert sich und zieht in die Berghütte. (Grosse Arie: Ebben? Ne andrò lontana)
Stromminger stirbt im Jahr darauf, Wally ist alleinige Erbin des grossen Vermögens. Sie trifft Hagenbach in Sölden. Dieser raubt ihr anlässlich einer Wette mit seinen Kumpels einen Kuss. Wally fühlt sich gedemütigt und verlangt von Gellner, Hagenbach umzubringen. Gellner führt den Anschlag aus und stürzt Hagenbach in einen Abgrund. Wally ist nun doch entsetzt über die Tat und will den Verletzten suchen und bergen. Sie bringt ihn in Afras Wirtshaus.
Wally hat sich wieder in ihre Berghütte zurückgezogen. Hagenbach steigt zu ihr hoch und gesteht ihr sein aufrichtige Liebe. Selbst als Wally zugibt, dass sie es war, die Gellners Angriff auf ihn initiiert habe, will Hagenbach zu ihr stehen. Gemeinsam machen sie sich auf dem Weg zurück ins Tal. Dabei wird Hagenbach von einer Lawine erfasst und in die Tiefe gerissen. Wally sieht keinen anderen Ausweg mehr als mit dem Freitod im Schnee ihrem Geliebten zu folgen.
Werk:
Alfredo Catalani (1854-1893) entstammte einer Musikerfamilie aus der Stadt, die viele grosse Musiker hervorgebracht hatte, Lucca. Ersten Unterricht erhielt er von seinem Vater und einem Onkel Giacomo Puccinis. Zusammen mit vielen Exponenten der italienischen Kulturszene der 1870er Jahre (u.v.a. Arrigo Boito, Ponchielli, Puccini) gehörte er der literarisch-künstlerischen und progressiven Bewegung Scapigliatura an, welche sich gegenüber den Traditionalisten und der Bourgeoisie abzusetzen versuchte. Seine erste Kurzoper basierte denn auch auf einem Text Boitos. Zu den bekanntesten (und zur Uraufführungszeit) erfolgreichsten Opern des früh an Tuberkulose verstorbenen Meisters gehören LORELEY (1890), mit seinen mit belkantesken Ariosi vermischten Wagner-Klängen und LA WALLY (1892). Catalani wurde auf den Stoff aufmerksam, als der triviale Heimatroman von Wilhelmine von Hillern als Fortsetzungsroman (Die Geier-Wally, eine Geschichte aus den Tirloer Alpen) in einer Italienischen Tageszeitung erschien. Die Autorin stimmte übrigens überraschenderweise dem abgeänderten – nun tragischen – Schluss durch Catalani/Illica zu. (Dies war übrigens das erste Opernlibretto des berühmten Textdichters, welcher später für Puccini und Mascagni die Texte zu deren grössten Erfolgsopern verfasste!). Die Melodie zur grossen Arie der Titelheldin im ersten Akt Ebben? Ne andrò lontana entnahm Catalani einem von ihm früher komponierten Chanson Groënlandaise. Diese Arie gehört seither zum Repertoire aller grossen Diven. Renata Tebaldi z.B. hat sich (genauso wie namhafte italienische Dirigenten von Toscanini – er nannte seine Tochter sogar Wally! - über Serafin, Giulini, Basile, Cleva) stets für dieses hochdramatische, spannende und ungemein fesselnd instrumentierte Werk eingesetzt.
„Der orchestrale Satz, vor allem in den Vorspielen – etwa dem eisigen zum IV. Akt – weist in der differenzierten Harmonie und der farbigen Instrumentation ein hohes kompositionstechnisches Niveau auf, zu dem auch der sparsame und subtile Gebrauch von Leitmotiven beiträgt. In diesem Werk scheint phantomartig eine andere Möglichkeit des italienischen Musikdramas zwischen den Hauptströmungen (zwischen Verdi und den Veristen) auf.“ (Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene)
Trivia: Die Arie Ebben? Ne andrò lontana ist unterdessen in unzähligen Werbespots zu hören und auch zentraler Bestandteil eines Kultthrillers geworden: DIVA (1981) von Jean-Jacques Beineix, mit Wilhelmenia Wiggins Fernandez in der Rolle der Operndiva.
Die Geierwally kam auch als Musical auf die Bühne, so z.B. durch Dominik Flaschkas Shake Musical Company als bitterböse Parodie. Der Stoff wurde mehrmals verfilmt, wobei einige Adaptionen (z.B. diejenige mit Heidemarie Hatheyer aus dem Jahr 1940) heute ebenfalls beinahe parodistisch anmuten, obwohl sie als "Blut-und-Boden" Produkte natürlich nicht so gedacht waren ... .
Videobeitrag von Mélanie Moser zur St.Galler LA WALLY
Eröffnungsszene des Films mit Arie