St.Gallen: DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN, 21.09.2024
Prokofjews witzige, bizarr-groteske und fantastisch orchestrierte Oper unter der Leitung von Modestas Pitrenas, inszeniert von Anna Bernreitner | Koproduktion mit der Opéra national de Lorraine und dem Theater Magdeburg
Oper in einem Prolog und vier Akten | Musik: Sergej Prokofiew | Libretto: vom Komponisten und in Zusammenarbeit mit der Sopranistin Véra Janocopulos, nach Gozzis Märchenspiel L'AMORE DELLE TRE MELARANCE in der Fassung von Wsewold Meyerhold | Uraufführung: 30. Dezember 1921 in Chicago | Aufführungen in St.Gallen: 21.9. | 24.9. | 29.9. | 20.10. | 5.11. | 29.11. | 1.12. | 6.12. | 8.12.2014
Kritik:
VON CARLO GOZZIS COMMEDIA DELL'ARTE ZU PETER WEIRS "THE TRUMAN SHOW"
Das ist schon ein ganz besonders stupender Kniff, den das Inszenierungsteam um Regisseurin Anna Bernreitner (Ausstattung: Manfred Rainer und Hannah Oellinger, Licht: Paul Grilj) für Prokofjews DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN anwendet, um die Ebenen der vielschichtigen Oper stringent auf die Bühne zu bringen: Sie betten die Handlung ein in ein Reality-Soap Setting, gleich der "Truman Show" in Peter Weirs Kultfilm von 1998, wo der "Held" 30 Jahre gefilmt wurde und nicht wusste, dass er in einer artifiziellen Blase lebte. Hier sind die Sonderlinge, die Tragischen, die Lyrischen und die Hohlköpfe Menschen in weissen Schutzanzügen (wie in einem Hochsicherheitslabor), die nach dem Streit im Prolog auf einer Galerie im Rund des Bühnenraums Platz nehmen und das Geschehen quasi von oben her steuern, aus einem künstlichen Wölkchen-Himmel. Die für das Voranschreiten der Handlung notwenigen Requisiten (Orangen, Wasser, Sand etc.) werden mittels Holzkisten über die Bühnenmaschinerie zum Einsatzort bewegt. Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass das ganze ein Studio ist, mit Kulissen und Notausgängen. Den Akteuren ist das mehrheitlich nicht bewusst. Sie spielen ihre Rollen auf dieser Märchenbühne mit einem Bewegungsvokabular, das zwischen Slapstick, tuntiger Affektiertheit und aufgesetzter Tragik gekonnt changiert. Dazu kommt ein Hauch von "Men in Tights", dieser Parodie auf Robin Hood von Mel Brooks. Die knallbunten, fantasievollen Kostüme tun ein Übriges dazu, die Sache zu einem Riesenspass zu machen - aber als Zuschauer beschleicht einen auch immer wieder ein Unwohlsein über den manipulativen Einfluss derer "von oben". Und das ist gut so, denn immer mehr Menschen fallen in der wirklichen Welt auf solches Mediengehabe herein und nehmen Pseudo-Reality Formate als echt wahr. Nicht umsonst hat bereits in der Psychiatrie der Terminus "Truman-Syndrom" Einzug gehalten.
UNBÄNDIGE SPIEL- , MUSIZIER- UND SINGFREUDE
Das eindrückliche Engagement des gesamten Ensembles, des exzellenten Chors des Theaters St.Gallen und des Opernchors St.Gallen (fantastisch einstudiert von Filip Paluchowski) und das mit begeisternder Verve und rhythmischer Klarheit so wunderbar kommentierende Sinfonieorchester St.Gallen unter der souveränen Leitung von Modestas Pitrenas, bei dem man spürte, welche Herzensangelegenheit ihm diese Musik Prokofiews bedeutet, führten die Aufführung zu einem grossen Erfolg beim leider noch nicht sehr zahlreichen Publikum. Man kann nur hoffen, dass sich das im Lauf der Vorstellungsserie noch bessern wird.
DIE CHARAKTERE
Da all die zahlreichen Ausführenden auf der Bühne gleichermassen Anteil an diesem spassig-tiefsinnigen Ereignis hatten, seien sie in der Reihenfolge des Besetzungszettes gewürdigt:
Martin Summer verlieh dem Kreuz-König (eingekleidet wirklich wie ein König aus einem Spielkarten-Set) mit seinem basamisch-sonor intonierenden Bass väterliche Autorität und Besorgnis um seinen "hyperchondritiotischen" Sohn. Diesen Prinz sang Brian Michael Moore mit agilem Tenor, wirkte herzzerreissend hypochondrisch in seinem Leiden, später mutig auf der Suche nach den drei Orangen und bis über beide Ohren verliebt am Ende. Jennifer Panara war die ambitionierte, intrigante Nichte des Königs, Clarice (in einem herrlichen Kostüm), liess ihren Mezzo effektvoll funkeln, um den Premierminister Leander für ihre Spielchen zu umgarnen: Leon Košavić gestaltete diesen mit herrlichem Bariton. Riccardo Botta war ein umtriebiger, mal lustiger, mal vor Angst die pinken Hot Pants voll habender Truffaldino. Nur schon sein Auftritt aus dem Verbandskasten heraus (schliesslich wird er als "Medizin" gegen die Schwermut des Prinzen eingesetzt), war sehenswert. Äneas Humm verkörperte (ja, mit vollem Körpereinsatz!) den Pantalone, Günstling des Königs, mit gekonnt affektiert-tuntigem, aufgeregtem Gehabe, trippelte mit kleinen Schritten auf dem Catwalk zur Märchenburg und über die Zugbrücke, liess die Rhythmen aus dem Graben in jede Faser seines Körpers fliessen und trug mit Anmut den gelben Anzug mit den vielen bunten Blüten- und Vogelmotiven, die rote Langhaarperücke und die pinken Schuhe. Jonas Jud war ein famoser Magier Celio (nur schon seine Farfarello-Rufe waren äusserst imposant!) und versprühte im Auftritt als Herold sektenhafte Führerqualitäten. Seine Gegenspielerin Fata Morgana war mit Libby Sokolowski bestens besetzt. Ihrer praller Sopran zeichnete eindringlich (mit einem gekonnten Augenzwinkern) den abgründigen Charakter dieser Hexe. Mack Wolz sang und spielte ihre Gehilfin Smeraldina, ein Kabinettstück an derber Durchtriebenheit. Sie war daneben auch die erste (schnell verdurstende) Orange. Candy Grace Ho erging es als zweite Orange nicht besser. Nur Kali Hardwick als dritte Orange überlebte die Wüste, dank des Eingreifens der Sonderlinge. Sie entpuppte sich als bezaubernd singende Prinzessin, welche dem Prinzen auf Anhieb den Kopf zu verdrehen wusste. (Zwischendurch wurde sie allerdings in eine rosarote Ratte verzaubert, herrlich gemacht.) Den effektvollsten Auftritt des Abends hatte wohl Kristján Jóhannesson als bassgewaltige Köchin Creonta. Sein (ihr) überdimensionierter, eindrücklicher Reifrock, mit dem er (sie) kaum durch die Eingangstür seines (ihres) mit Leuchtschrift markierten Restaurants passte, und der riesige Kochlöffel liessen Truffaldino und den Prinzen vor Angst bibbern, doch ein blau glitzerndes Bändchen reichte aus, um die imposante, gewaltbereite Köchin abzulenken und ihr die drei Orangen zu klauen. Robert Virabyan als Wind-Teufel Farfarello (er treibt auch die Drehbühne mit der Burg an und sorgt so für den schnellen Wechsel der Schauplätze im dritten Akt) und Barna Kovács als Zeremonienmeister ergänzten das umwerfende Ensemble aufs Allerbeste. Am Ende finden die meisten Akteure den Notausgang und hauen ab aus diesem - eigentlich menschenverachtenden "Labor", nur der König und Pantalone verpassen den Abgang und bleiben miteinander im Märchenland zurück.
Fazit: Ein Riesenspass für die gesamte Familie (es wird deutsch gesungen), und wer genau hinschaut, wird durchaus Tiefsinniges und Bedenkenswertes in der Inszenierung entdecken. Musikalisch (Orchester, Chor und Sänger*innen) - man möge mir den Ausdruck verzeihen - ist das alles ebenfalls verdammt gut gemacht. Ein ganz dickes Lob gebührt der Maskenabteilung des Theaters St.Gallen; sie schaffen wahre Kunstwerke aus den Gesichtern der Mitwirkenden!
Werk:
Sergej Prokofiew (1891-1953) wurde als Achtjähriger von seiner Mutter erstmals ins Bolschoi-Theater Moskau mitgenommen, wo er Gounods FAUST, Borodins FÜRST IGOR und Tschaikowskis Ballett DORNRÖSCHEN sah. Nach diesem Aufenthalt in Moskau erklärte er: “Mama, ich möchte eine Oper schreiben!” Von seinen insgesamt acht Opern wurden nur vier zur Lebzeit des Komponisten uraufgeführt, zwei davon überlebten die Uraufführung nicht, die restlichen vier Opern wurden erst nach Prokofjews Tod vollständig uraufgeführt. Schuld an diesem Missstand sind vor allem die politischen Verwerfungen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten: Erst die Russische Revolution, Prokofjews Aufenthalte in den USA (1918-1920) und in Frankreich und kurzzeitig auch in Deutschland, die freiwillige Rückkehr in die unter Stalins Gewaltherrschaft stehende Sowjetunion (1936 bis zu seinem Tod). Es folgte dort die Verunglimpfung durch den kulturpolitischen Führungsanspruch (und damit verbundenen Terror) der kommunistischen Partei. Zu Prokofjews Lebzeiten fand lediglich seine Oper DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN Einzug ins weltweite Repertoire. Seit Mitte der Fünfigerjahre jedoch erfahren auch die restlichen Opern des Komponisten zunehmend Beachtung: So DER SPIELER (nach Dostojewski), DER FEURIGE ENGEL, DIE VERLOBUNG IM KLOSTER und sein Mammutwerk KRIEG UND FRIEDEN (nach Tolstoj).
In DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN spiegelt sich - trotz der Anlehnung an Gozzis Commedia dell'arte aus dem 18. Jahrhundert - auch die Entstehungszeit wieder, die Aufbruchsstimmung nach dem ersten Weltkrieg, die Hinwendung zum Grotesken, zum Abstrakten, zum Absurden (Strömung des Dadaismus), aber auch zur komplexen Erzählweise, die Prokofiew ganz besonders gereizt hat. Diese Oper ist noch weit entfernt vom “Sozialistischen Realismus”, dem er sich z.T. nach seiner Rückkehr in die Sowejtunion zu unterwerfen hatte.
Inhalt:
Die Oper enthält drei ineinander verschachtelte Handlungsebenen: Im Prolog streiten sich die Anhänger der Tragödien mit den Liebhabern des lyrischen Dramas und mit den hohlköpfigen Verfechtern des “Spasstheaters”. Eine vierte Gruppe stellen die Sonderlinge dar, welche schliesslich das Theater mit DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN beginnen lassen. Auch im Verlauf der Oper mischen sich diese Gruppen immer wieder mehr oder weniger erfolgreich in die Handlung ein. Die zweite Ebene stellt die höfische Gesellschaft der Oberwelt dar. Der König Treff fürchtet um die psychische Verfassung des Prinzen, der von einer Melancholie besessen ist, die ihn regierungunfähig macht. Somit könnte der Thron an die ehrgeizige Cousine Clarice fallen, die mit dem Minister Leander zusammen intrigiert, um an die Macht zu gelangen. Geheilt werden könnte der melancholische Prinz durch Truffaldino, den Spassmacher vom Dienst. Aber nun haben auch noch phantastische Gestalten aus der Unterwelt (dritte Ebene) ihre Hände im Spiel: Für Clarice und Leander kämpft die böse Fee Fata Morgana mit ihren kleinen Teufeln, für Truffaldino und den Prinzen setzt sich der Magier Celio ein. Als Truffaldino die böse Fee mit einem Fustritt rausbefördert, kann der Prinz endlich lachen (ha-ha-ha haaa, wie das Schicksalsmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie). Fata Morgana aber rächt sich mit einem Fluch: Der Prinz muss sich in drei Orangen verlieben. Zusammen mit Truffaldino begibt er sich auf die Reise: Sie finden die drei Orangen in der Küche eines vewunschenen Schlosses, wo sie von einer bösartigen Köchin bewacht werden (tiefer Bass!). Truffaldiono lenkt die Köchin ab und der Prinz schnappt sich die drei Orangen. Auf der Flucht kommen der Prinz und Truffaldino in die Wüste. Sie haben Durst. Die Orangen sind unterdessen auf Mannesgrösse angeschwollen. Sie öffnen die drei Orangen. Drei verzauberte Prinzessinnen entsteigen den Früchten, zwei davon verdursten auf der Stelle. Die dritte, Ninetta, wird von den Sonderlingen gerettet, die ihr einen Eimer Wasser bringen. Der Prinz verliebt sich natürlich in die Schöne, will ihr neue Kleider holen. In der Zwischenzeit verwandelt Fata Morgana Ninetta in eine Ratte und schmuggelt die schwarze Smeraldina in die Rolle der Ninetta. Zurück am Hofe besteht jedoch der König darauf, dass sich der Prinz mit Smeraldina vereheliche. Celio streitet sich erneut mit Fata Morgana, die den Kampf wiederum für sich entscheidet. Erneut müssen die Sonderlinge in die Handlung eingreifen. Sie lassen Fata Morgana in einen Turm sperren. Celio vermag es nun, die Ratte in Ninetta zurückzuverwandeln. Die “Bösen” Clarice, Leander und Smeraldina werden zum Tode verurteilt, doch Fata Morgana kann aus dem Turm entweichen und zieht ihre Schützlinge in die Tiefen des Bühnenodens. Der Hochzeit des Prinzen steht somit nichts mehr im Wege.