Luzern: ANDROMAQUE, 29.05.2011
Tragédie lyrique in drei Akten |
Musik: André-Ernest-Modeste Grétry |
Text: Louis-Guillaume Pitra, nach Jean Racine |
Uraufführung: 6. Juni 1780, in Paris |
Aufführungen in Luzern: 29.5. | 3.6. | 7.6. | 9.6. | 11.6. | 15.6. | 16.6.2011
Kritik:
Gestern Abend wurde einmal mehr offenbar, welche Schätze oft zu Unrecht in den Musikarchiven schlummern. Grétrys ANDROMAQUE zeichnet sich durch eine beinahe archaisch wirkende Kraft und Direktheit aus, welche im intimen Rahmen des Luzerner Theaters ihre Wirkung nicht verfehlte. Eine schnörkellose szenische Umsetzung (Georges Lavaudant) und eine von zupackendem und ungestümem Vorwärtsdrang geprägte musikalische Interpretation sorgten für ein unerbittliches Zusteuern auf das erschütternde Finale dieser klassischen griechischen Tragödie.
Eingesperrt auf dem Boden eines steil nach hinten ragenden Turms sind sie, die vier Personen mit ihren divergierenden Sehnsüchten und Bedürfnissen. Die glänzenden, dunkelgrauen, beinahe schwarzen Wände wirken abweisend, das Licht fällt durch wenige Fensteröffnungen herein, meist grau, mal rot und - wenn in seltenen Momenten Hoffnung aufkeimt - blau. Eine Tür gibt’s nicht, ein Ausweichen aus diesem an Sartres HUIS CLOS gemahnenden Ambiente ist nur durch die Fenster möglich, doch auch diese führen nicht in die Freiheit. Zu eng verflochten, zu abhängig sind sie alle voneinander. Streng beobachtet (und teilweise geführt und zurechtgewiesen) werden sie von einer stummen, sehr präzise agierenden Statistengruppe Der singende Chor, welcher seine Rolle mal als innere Stimme, mal als Verbündeter, mal als Gewissen der Protagonisten wahrnimmt, ist ins Off verbannt. Er erklingt meist bedrohlich (elektronisch?) verstärkt und die Handlung kommentierend oder weitertreibend. Ganz im Sinne des klassischen Dramas sind die Sänger in schlichte, gerade geschnittene Kostüme (Bühne und Kostüme: Jean-Pierre Vergier) gekleidet. Der Regisseur verzichtet in der Personenführung auf grosse Gesten und Aktualisierungen. Schnörkellos und unerbittlich spitzt sich das Drama zu, steuert auf das unausweichliche Ende zu.
Dazu braucht es vier Sängerinnen und Sänger, welche mit ihrer Stimme und Mimik die Ängste und Leidenschaften dieser in ihren gegenseitigen Verstrickungen und Eitelkeiten gefangenen Charaktere glaubhaft transportieren können. Und dies gelingt im intimen Rahmen des Luzerner Theaters hervorragend. Die leidenschaftliche, manchmal beinahe elektrisierende Musik Grétrys wird von Simone Stock (Andromaque), Madelaine Wibom (Hermione), Utku Kuzuluk (Pyrrhus) und Marc-Olivier Oetterli (Orest) mit kontrolliertem Furor dargeboten. Beide Frauen schrammen irgendwie „am Rande des Nervenzusammenbruchs“ dahin. Während Simone Stock der verzweifelten Lage Andromaques mit von Trauer durchtränkten, glockenreinen Klängen Ausdruck verleiht, suhlt sich Madelaine Wibom als Hermione geradezu in ihren mit beeindruckender Kraft und gleissendem Metall in der Stimme vorgetragenen Rachevorstellungen und Verwünschungen. Marc-Olivier Oetterli hat seinen grossen Moment in der Schlussszene: Wie von einer unsichtbaren Zwangsjacke eingezwängt verfällt dieser den ganzen Abend so kontrolliert und emotionslos wirkende Orest angesichts des Mordes (an Pyrrhus) und des Selbstmordes (von Hermione) dem Wahnsinn. Pyrrhus ist ja eigentlich ein sympathischer Kerl, doch ist der geniale Feldherr mit den zwischenmenschlichen Problemen überfordert. Utku Kuzuluk zeigt das vortrefflich: Ein junger Krieger, der noch verträumt mit dem trojanischen Pferd en miniature spielt – und daneben Entscheidungen von grosser politischer Tragweite fällen sollte. Mit seinem hellen, ausgeglichen timbrierten Tenor gestaltet er die Partie vortrefflich und vermag die Ensembles wunderschön anzuführen. Wie gut hätten die sanfte und treue Andromaque und er zusammengepasst. Das Pariser Publikum des Jahres 1780 sah das auch so. Grétry entschloss sich deshalb zu einer Umarbeitung des Schlusses und beendete die Oper mit einem gefälligen Divertissement. Doch widersprach dies natürlich fundamental Racines Dramenvorlage. Deshalb ist es auch richtig, dass in Luzern die meisten Tanzszenen gestrichen sind und das ursprüngliche, grausame Ende beibehalten wurde.
Mark Foster und das Luzerner Sinfonieorchester lassen die wirklich überraschend lebhafte, energiegeladene Musik Grétrys mit viel Temperament erklingen. Sie kaschieren zu Recht auch die manchmal abrupt endenden Arien- und Szenenschlüsse nicht. So kommt der teilweise fragmentarische, episodenhafte und sehr „moderne“ Charakter der Komposition voll zur Geltung. Vielleicht könnte man noch etwas subtilere dynamische Abstufungen einbringen. Das ständige Musizieren unter Hochdruck wirkt zwar sehr effektvoll, hat auf Dauer aber auch etwas Ermüdendes.
Fazit:
Spannende, überraschende und streckenweise elektrisierende Musik in einer auf ihr unerbittliches Ende zustrebenden griechischen Tragödie, dargeboten von einem überzeugenden Sängerquartett.
Inhalt:
Orest liebt vergeblich die Prinzessin Hermione, diese aber ist leidenschaftlich entbrannt für Pyrrhus, welcher den Griechen zum Sieg über Troja verholfen hat und nun die Frau des gefallenen Herrschers Hector, Andromaque, als Kriegsbeute begehrt. Andromaque jedoch ist lediglich um die Zukunft ihres Sohnes Astyanax besorgt. Hermione schürt bei der Bevölkerung Angst, wegen der von dem Königssohn ausgehenden Gefahr und Pyrrhus stellt Andromaque vor die Wahl: Entweder seine Gemahlin zu werden oder das Kind endgültig zu verlieren. Die Konstellation steuert unaufhaltsam auf Wahnsinn, Mord und Totschlag zu, wie es sich für eine echte Tragödie gehört.
Werk:
Der belgisch-französische Komponist Grétry (1741-1813) erzielte vor allem mit seinen Opéras-comiques grosse Erfolge in Frankreich und zählte zur Zeit Ludwigs des XV. und Ludwigs des XVI. zu den populärsten Opernkomponisten. Im Nachgang zu den Revolutionswirren verlor er nicht nur seine Besitztümer, sondern auch seinen Einfluss. Erst Napoléon würdigte den Komponisten und seine Arbeit wieder und verlieh ihm das Kreuz der Ehrenlegion. Heutzutage sind seine unzähligen Opern beinahe vergessen. Einzig eine Szene aus RICHARD, COEUR DE LION hat überlebt: Sie wird von der Gräfin in Tschaikowskys PIQUE DAME intoniert. Das Theater Biel-Solothurn brachte vor wenigen Jahren Grétrys GUILLAUME TELL auf die Bühne.
Musikalisch steht Grétry mit ANDROMAQUE den Reformopern Glucks sehr nahe: Die Rezitative, Arien und Chöre stellen keine eigentlichen Nummern mehr dar, sondern sind gekonnt ineinander verschmolzen. Ebenfalls weggelassen hat Grétry hier die grossen Tänze und Ballett-Aktschlüsse. Die tragische Handlung wird unerbittlich vorangetrieben, kommentiert vom Chor. Diese weit ins 19. Jahrhundert vorausweisende Kompositionstechnik überforderte 1780 das Pariser Publikum, welches mehr Wert auf Unterhaltung, Ballett und Bühnenzauber legte, denn auf tragische Verstrickungen. So ist es zu erklären, dass Grétrys ANDROMAQUE 230 Jahre in den Archiven schlummerte, bevor die Oper 2009 konzertant in Paris und 2010 szenisch in Schwetzingen wieder zur Diskussion gestellt wurde. Diese Produktion ist nun in Luzern zu sehen.
Auch Rossini hat sich mit Racines Drama beschäftigt und auf dessen Grundlage seine Oper ERMIONE komponiert (UA 1819 in Neapel).