Hamburg, Staatsoper: LILIOM (Hamburg Ballett John Neumeier), 27.04.2023
Ballettlegende von John Neumeier frei nach Ferenc Molnár | Musik: Michel Legrand | Uraufführung: 4. Dezember 2011 in Hamburg durch das Hamburg Ballett John Neumeier | Aufführungen dieser Wiederaufnahme: 12.4. | 13.4. | 27.4. | 1.5. | 7.5.2023
Kritik:
GENIALE VORLAGE - KONGENIALE ADAPTION
Aus Ferenc Molnárs Vorstadtlegende LILIOM aus dem Jahr 1909 hatte der Choreograf John Neumeier eine Ballettlegende geschaffen, die 2011 ihre Uraufführung feierte. Für seine Abschiedssaison als Direktor seines Hamburg Balletts John Neumeier hat er (neben vielen anderen seiner im Verlauf der letzten 50 Jahre entstandenen Schöpfungen) auch diesen Abendfüller wieder aufgenommen. Einmal mehr erweist sich Neumeier als (in meinen Augen) unumstrittener Meister des Handlungsballetts. Keiner kann Geschichten so packend, so emotionsgeladen und so stringent in Tanzsprache umsetzen wie er. So ist man auch bei LILIOM währen der knapp drei Stunden (inklusive einer Pause) dauernden Aufführung von Anfang an gefesselt, folgt dem nie abreißenden Spannungsbogen und fühlt mit den Figuren mit. Klugerweise hat Neumeier bei seiner Adaption nicht auf die Musik des Erfolgsmusicals CAROUSEL zurückgegriffen, das ebenfalls auf Molnárs Stück fußt (auch diese Partitur des Erfolgsduos Rodgers/Hammerstein ist an Genialität nicht zu übertreffen). Neumeier ließ sich vom Komponisten Michel Legrand eine komplett neue Partitur zu LILIOM schreiben. Der dreifache Oscar-Preisträger Legrand (YENTL, SUMMER'42, THE THOMAS CROWN AFFAIR), der neben Filmmusik auch Songs u.a. für Barbara Streisand, Kiri Te Kanawa, Jessye Norman, Frank Sinatra, Ella Fitzgerald schrieb und arrangierte, steuerte zu diesem Ballett eine vielschichtige, die Situationen und Charaktere grandios zeichnende Musik bei. Sie wurde nicht nur vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg aus dem Orchestergraben gespielt, sondern mit der NDR Bigband sass ein exzellentes Ensemble von fast 20 Jazzmusikern auf einer Empore im Bühnenhintergrund. Dazu gesellte sich auch noch ein wunderbarer Akkordeonist, der auf der Bühne zum farbenreichen musikalischen Kunstwerk beitrug. Unter der konzentrierten und präzisen Leitung von Nathan Brock machte die Musik gewaltigen Eindruck, von beschwingter Rummelplatzmusik bis zu intimen Szenen zwischen Liliom und Julie, Liliom und seinem Sohn Louis oder den Szenen im Himmel. Subtil schimmerte immer wieder das große Liebesthema durch, schlich ich als Leit- und Erinnerungsmotiv in den musikalischen Ablauf. Besonders eindringlich und in Erinnerung bleibend das sich dynamisch ähnlich wie Ravels BOLÉRO steigernde Ostinato der beiden Orchester im Bild vor der Job Agency, wo Neumeier die Frustrationen, die Wut und die Verzweiflung der Jobsuchenden in seiner Choreografie regelrecht explodieren ließ. Das ging unter die Haut, wie so vieles an diesem Abend.
MENSCHEN
Neumeier gelingt es, nicht bloß exzellente Tänzer*innen ihr hohes technisches Können (natürlich auch auf der Spitze!) demonstrieren zu lassen, sondern sie uns als Menschen mit ihrem Schicksal so nahe zu bringen, dass sie uns echt rühren. Edvin Revazov in der Titelrolle bringt alles mit, was es für diesen komplexen Charakter braucht: Aggressivität, Kraft, Sensibilität und unwiderstehlicher Sex Appeal. Ja, Liliom ist einer, der schnell mal dem Kontrollverlust anheim fällt, der echte Liebe in seinem Leben wohl nie erfahren hat, und deshalb auch die bedingungslose Liebe Julies nicht annehmen kann, sie gar schlägt. Erst in seiner Traumsequenz, wo er sich als Vater sieht und seinem noch ungeborenen Sohn all das schenken möchte, was er selbst nie erfahren hat, wird ihm klar, was Liebe bedeuten könnte. Diese Erkenntnis kommt zu spät, er begeht den Überfall, wird von der Polizei eingekesselt und verübt in der ausweglosen Situation Suizid. Wunderbar inszeniert Neumeier die Szenen im Himmel, wie Liliom aus einem Wolkenfenster heraus das Aufwachsen seines Sohnes beobachtet, vom Konzipisten (Lasse Caballero) geprüft, von sechs roten Teufeln verspottet wird. Der Ballonmann (Matias Oberlin), der ihn schon in den Himmel hochgezogen hat, begleitet ihn für einen Tag zurück auf die Erde. Doch Liliom schafft es nicht, die Zeit für die gute Tat zu nutzen, schlägt auch seinen Sohn. Einfühlsam zeigt Neumeier aber, wie diese Ohrfeige Julie und ihren Sohn Lilioms Nähe spüren lässt, seine eben doch vorhandene Liebe überhand nimmt. Ida Praetorius ist eine fragile und zugleich starke Julie, grazil, virtuos, mit traumhaft anmutiger tänzerischer Grazie. Patricia Friza zeigt eindringlich das sexuelle Begehren einer etwas älteren Frau als Lilioms Chefin Frau Muskat. Ihrem sexuellen Besitzanspruch auf LILIOM, ihrer Eifersucht auf Julie vermag Patricia Friza überwältigeden Ausdruck zu verleihen. Das " glückliche" Nebenpaar Marie und Wolf tanzen Yaiza Coll und Borja Bermudez. Sie zeigen den Aufstieg aus der Unterklasse zu Wohlstand, verkörpern eindrucksvoll den American Dream. Ihr Sohn Elmer (Ricardo Urbino) ist ein arroganter Schnösel, ganz das Gegenteil von Julies und Lilioms Sohn Louis, der zwar etwas verwildert in den Ruinen des Rummelplatzes PLAYLAND aufwächst, aber die Sensibilität seines Vaters Liliom geerbt hat. Francesco Cortese tanzt ihn mit enormer Ausdrucksstärke, zeigt die Verwirrungen des Teenagers zwischen kindlichen Gefühlen, Suche nach Geborgenheit und sturem Trotz. Aleix Martinez als hypernervöser Fiesling Ficsur, Lizhong Wang als betrunkener, übergriffiger Matrose, Illia Zakrevskyi als ein schüchterner Junge, Louis Haslach als trauriger Clown und Tristan Burawski-Borrmann als Louis als kleiner Knabe formten mit herausragendem Können und starker Bühnenpräsenz diese die Story bereichernden Charaktere.
SCHAUPLÄTZE
Das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer ist ein echter Hingucker, situiert die Spielorte von den bunten Lichtern und dem Pferdekarussell des Rummelplatzes über die Nachtszene vor dem PLAYLAND und zum Tor vor der Arbeitsvermittlung bis zur Gerichtsszene im Himmel und zurück zum nun verfallenen PLAYLAND mit subtil ausgearbeiteter Genauigkeit. Die Bühne bietet zudem viel Platz für die lebhaften und raffiniert choreografierten Massenszenen auf dem Jahrmarkt, bei der Hochzeit von Marie und Wolf und vor dem Arbeitsamt. Die Kostüme passen perfekt zur Wirtschaftskrise der 30er Jahre in den USA. Sie wie auch das stimmige Lichtdesign hat John Neumeier, wie meistens in seinen Kreationen, selbst entworfen. Wenn nach dem eindringlichen Pas de quatre (Julie, Liliom, Louis, Ballonmann) Liliom Julie am Ende zärtlich küsst und dann im verglimmendem Licht entschwindet, kommt man nicht umhin, eine Träne der Rührung zu verspüren. Ein Ballett, das bewegt.
Werk und Inhalt:
Die "Vorstadtlegende in 7 Bildern" des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár wurde dessen berühmtestes und erfolgreichstes Theaterstück. Noch erfolgreicher allerdings wurde das Musical CAROUSEL, dessen Autoren Rodgers und Hammerstein auf Molnárs Vorlage zurückgriffen. Erzählt wird bei Molnár und bei Rodgers/Hammerstein die tragische Geschichte des arbeitsscheuen Liliom, angestellt bei der Karussellbetreiberin Frau Muskat. Liliom verliebt sich sich in Julie, die beiden heiraten, Julie wird schwanger- doch das Glück auf Erden bleibt Liliom trotzdem versagt. Immer wieder gerät er in falsche Gesellschaft, macht zwielichtige Geschäfte, neigt zu Brutalität, auch gegenüber seiner Julie. Als ein Raubüberfall gründlich schief geht, ersticht sich Liliom noch vor der Verhaftung durch die Polizei. Sterbend kann er Julie noch um Verzeihung für sein verpfuschtes Leben bitten. Liliom kommt vor ein himmlisches Strafgericht für Selbstmörder. Nach 16 Jahren bekommt Liliom die Erlaubnis, für einen Tag auf die Erde zurückzukehren, um etwas Gutes zu tun. auf dem Weg zur Erde stiehlt er einen Stern. Auf der Erde trifft er seine nun schon fast erwachsene Tochter Louise. Er gibt sich als Bettler aus, der ihren Vater gut gekannt hätte und erzählt ihr die bittere Wahrhiet über ihren Vater Liliom. Als sie sich weigert, das zu glauben, erregt er sich so, dass er unbeherrscht sein Kind ohrfeigt. "Der Unterteufel triumphiert, die Engel haben es schon immer gewusst: Liliom ist ein unverbesserlicher Mensch! Erneute Strafe droht, doch die Tränen von Mutter und Tochter, die der Erinnerung an Liliom gelten, fallen auf die Waage der himmlischen Gerechtigkeit und geben den Ausschlag zu seinen Gunsten..Am Ende fragt Louise ihre Mutter, wie so etwas möglich sei, dass man geschlagen werde und keinen Schmerz spüre. Julie antwortet: "Es ist möglich, mein Kind, dass einen jemand schlägt, und es tut gar nicht weh.“( Henning Rischbieter)
Der Erfolg von LILIOM war so gross, dass selbst Giacomo Puccini auf den Stoff aufmerksam wurde und Molnár um die Rechte an einer Vertonung bat. Molnár lehnte mit der Begründung ab: „Wenn Sie mein Stück vertonen, wird alle Welt von einer Puccini-Oper sprechen. So aber bleibt es ein Stück von Molnár." Nachdem die Uraufführung in Budapest noch sehr verhalten aufgenommen worden war, erreichten die Aufführungen im Wiener Theater in der Josefstadt (in leichter Bearbeitung durch Alfred Polgar und Versetzung des Handlungsortes in den Wiener Prater) fantastische Auslastungszahlen, das poetische Mittelding zwischen Märchen und Sozialdrama trat seinen Siegeszug um den Erdball an, verlockte grosse Schauspieler zur Verkörperung des Liliom: Hans Albers, Harald Juhnke, Curd jürgens, Charles Boyer, Josef Meinrad u.a.m., die Julie wurde u.a. von Ingrid Bergman, Heidemarie Hatheyer und Hanna Schygulla verkörpert.
Für die Musical Adaption von 1945 durch Rodgers/Hammerstein wurde die Handlung nach Neu-England verlegt. Im arienhaften Aufbau scheint CAROUSEL eher an eine Oper angelehnt zu sein. Daraus stammt auch der Song You'll never walk alone, der als Fussballhymne der Fans des FC Liverpool weltweit bekannt wurde.
Eine Oper entstand schliesslich doch noch: 2016 wurde am Gärtnerplatztheater die Oper LILIOM von Johanna Doderer uraufgeführt.
In John Neumeiers 2011 entstandenem Ballett LILIOM trifft Liliom bei seiner Rückkehr auf die Erde seinen Sohn Louis, dem er den Stern schenken will. Louis weist ihn brüsk zurück, worauf er von Liliom geschlagen wird. Julie hebt den Stern auf und spürt die Nähe Lilioms und seine Liebe.