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Hamburg, Staatsoper: HÄNSEL UND GRETEL, 11.12.2022

Erstellt von Kaspar Sannemann |

copyright: Hans Jörg Michel

Oper in drei Akten | Musik: Engelbert Humperdinck | Libretto: Adelheid Wette, nach Brüder Grimm | Uraufführung: 23. Dezember 1893 in Weimar | Aufführungen in Hamburg: 27.11. | 29.11. | 1.12. | 6.12. | 11.12.2022

Kritik:

Die Hamburger Produktion von Humperdincks Märchenoper HÄNSEL UND GRETEL ist der beste Beweis dafür dass man (auch aus Gründen der Nachhaltigkeit) das Standardrepertoire nicht alle zehn Jahre neu zu inszenieren braucht. Sage und schreibe 50 Jahre sind seit der Premiere dieser wunderschönen Inszenierung von Peter Beauvais vergangen (Dezember 1972) und sie bereitet Jung und Alt immer noch großes Vergnügen. Alles ist da, was man von dieser wunderbaren Oper erwartet: Ein stimmiges Bühnenbild (Jan Schlubach) mit der ärmlichen Behausung der Familie, einem poetischen Waldbild im zweiten Akt und einer leckeren Knuspervilla samt Holzverschlag und großem Ofen für den dritten Akt. Die Kostüme (Barbara Bilabel/Susanne Raschig) sind genau passend zu den Lebensdaten der Gebrüder Grimm (Biedermeier), wobei dezent darauf verwiesen wird, dass die Hexe im Wald schon länger Kinder zu Lebkuchen bäckt, indem bei den erlösten Kindern auch ein Rokoko-Pärchen auszumachen ist. Die gemalten Hintergrund - Kulissen sind ein echter Hingucker, so schöne Landschaftsbilder im Stil der Frühromantik hat Schlubach dazu entworfen. Wenn wir in der Vorweihnachtszeit mit Kindern, Enkeln, Patenkindern in die Oper gehen, brauchen wir keine verwahrlosten Gestalten, die in Trailerparks aufwachsen und von Pädophilen missbraucht werden. Beauvais' großartige Inszenierung ist für diese Wiederaufnahme sorgfältig neu einstudiert worden und die Darsteller*innen überzeugen mit facettenreichem Spiel. Allen voran der Hänsel von Jana Kurucová, die diese Hosenrolle mit umwerfend komischer und exakter Darstellungskunst ausfüllt und mit ihrem ebenmässigen, herrlich timbrierten Mezzosopran die Lieder, Phrasen und Ensembles aufs Schönste ausleuchtet. An ihrer Seite macht die Gretel von Olivia Boen mit ihrem hell leuchtenden Sopran und  ihrem ebenso engagierten, rollengerechten Spiel ganz ausgezeichnete Figur. Der "Abendsegen" der beiden betörte zum Dahinschmelzen. Was für eine Freude empfand ich, als ich erfuhr, dass die Knusperhexe in der von mir besuchten Aufführung von einer Sängerin gesungen werden würde und nicht von einem Tenor. Das ist heutzutage leider selten geworden, auch in  Hamburg wechseln sich der Tenor Jürgen Sacher und die Hamburger Kammersängerin Hellen Kwon ab. Frau Kwon (fast schon solange an der Staatsoper tätig wie die Inszenierung alt ist) gestaltet die Hexe vortrefflich. Nur ein kleines bisschen zum Fürchten, aber immer augenzwinkernd und nicht chargiert. Der Besenritt war vortrefflich inszeniert (Szenenapplaus) und stimmlich ein Hochgenuss. Hellen Kwon scheint die Partie seh- und hörbar Spaß zu machen, möge das noch lange so bleiben. Entgegen der Grimmschen Vorlage, ist Gertrud (die Mutter von Hänsel und Gretel) keine selbstsüchtige, zutiefst böse Stiefmutter. Die Librettistin (Humperdincks Schwester Adelheid Wette) zeichnete sie als strenge, aber besorgte Mutter, die ob ihrer Armut an den Rand des Erträglichen gelangt. Katja Pieweck singt sie deshalb nicht mit der Stimme einer kreischend-hysterischen Hochdramatischen, sonder lässt neben vehementer Schimpftiraden auch mit weicher Innigkeit aufhorchen. Chao Deng als Vater Peter ist ganz der joviale Sympathieträger. Claire Gascoin als Sandmännchen und Yeonjoo Katharina Jang als Taumännchen ergänzen auf bezaubernde Art das spielfreudige Ensemble.

Die Vorstellung war bereits die zweite an diesem dritten  Adventssonntag. Nur Hänsel und die Knusperhexe waren mit anderen Sängerinnen besetzt als in der Nachmittagsvorstellung. 
Große Dirigenten wissen die Qualitäten von Humperdincks Partitur zu schätzen: Kein geringerer als Richard Strauss leitete die Uraufführung und lobte das Werk in den höchsten Tönen (Brief an Humperdinck: "Mein lieber Freund, du bist ein großer Meister, der den Deutschen ein Werk beschert, das sie kaum verdienen, trotzdem aber hoffentlich recht bald in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen wissen werden.") Bei der ersten Hamburger Auffürung dirigierte übrigens Gustav Mahler!
Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters stand gestern nun Mark Wigglesworth. Er bevorzugte eher rasche Tempi, es schien er wolle jegliches schwere Pathos vermeiden, das in der reichhaltig orchestrierten Partitur des Wagner-Schülers Humperdinck natürlich da ist. Für mein Empfinden gerieten jedoch die Ouvertüre und die ausladenden orchestralen Zwischenstücke (Traumpantomime, Einleitungen zu den Akten II und III) zu fahrig, zu wenig gerundet und es fehlten mir die wohligen Schauer, welche diese wunderbaren Musikstücke in ihrer Emphase zu erregen verstehen.
Allen im Publikum vertretenen Generationen schien die Aufführung sehr gefallen zu haben, die vielen Kinder waren erstaunlich ruhig, ganz im Gegensatz zu einigen älteren Damen hinter mir, die glaubten alles kommentieren zu müssen. Erst meine bösen Blicke brachten sie zum Verstummen. Trotzdem überließ ich den Gliederstarre-Zauber lieber der fantastischen Hexe von Hellen Kwon ... .

Inhalt:

Die beiden Kinder des Besenbinders Peter und seiner Frau Gertrude leben in Armut und leiden Hunger, es gibt nichts anderes als trockenes Brot zu essen. Doch von der Nachbarin hat die Familie einen Topf mit Milch erhalten. Aus lauter Vorfreude auf etwas Abwechslung im Speiseplan, beginnen die Kinder ausgelassen zu tanzen. Die Mutter kehrt erschöpft von der Arbeit zurück, schilt die Kinder als Faulpelze und will sie bestrafen. Dabei fällt der Milchtopf vom Tisch und zerbricht. Nun jagt die Mutter die Kinder hinaus in den Wald, um Beeren zu suchen. Der Vater kehrt angesäuselt nach Hause zurück. Heute liefen die Geschäfte nicht schlecht und er hat einen Korb mit Lebensmitteln mitgebracht. Als er jedoch erfährt, dass die Kinder im Wald sind, schlägt seine aufgeräumte Stimmung in Besorgnis um, da er weiss, dass eine Hexe im Wald wohnt, welche den Kindern gefährlich werden könnte. Die Eltern machen sich auf, um nach den Kindern zu suchen.

Die Kinder haben unterdessen ihren Korb mit Waldbeeren gefüllt, doch kurz darauf die Beeren selber gegessen. Langsam wird es dunkel, sie finden den Heimweg nicht mehr, sie bekommen Angst. Das Sandmännchen erscheint und beruhigt Hänsel und Gretel. Bevor sie einschlafen, sprechen sie ihr Abendgebet. Vierzehn Engel steigen herab, um die Kinder im Schlaf zu beschützen. Am nächsten Morgen werden sie vom Taumännchen geweckt. Da erscheint vor ihren Augen auch schon ein Lebkuchenhaus. Sie naschen davon. Die Hexe will sie hineinlocken. Widerstand ist zwecklos, der Zauberstab der Hexe bannt die Kinder. Während Hänsel im Käfig gemästet wird, muss Gretel im Haus der Hexe helfen und alles für den kannibalischen Genuss der Hexe herrichten. Gretel hat sich jedoch den Zauberspruch der Hexe gemerkt und befreit ihren Bruder aus dem Käfig, während die Hexe in grausam-gieriger Vorfreud auf dem Besen durch die Lüfte tanzt. Durch eine List gelingt es den Kindern, die Hexe in den Ofen zu schieben, der Ofen stürzt zusammen, die Lebkuchenkinder, die einen Zaun um das Grundstück der Hexe darstellten, erwachen durch Gretels Berührungen und Hänsels Hilfe mit dem Zauberstab der Hexe zum Leben. Von ferne ertönt die Stimme des Vaters. Die Eltern schliessen die Kinder in die Arme. Alle stimmen ins Gebet des Vaters ein: „Wenn die Not auf's Höchste steigt, Gott, der Herr die Hand uns reicht.“ Unterdessen ist die Hexe selbst zum Lebkuchenfrauchen geworden.

Werk:

Engelbert Humperdinck (1854-1921) gehört zu der tragischen Gruppe von Komponisten, deren Name mit einem einzigen Werk verbunden ist – bei ihm ist es seine Oper HÄNSEL UND GRETEL. Humperdincks Schwester, Adelheid Wette, schrieb den Text als Märchenspiel für den Hausgebrauch und bat ihren Bruder, die Verse zu vertonen. Da dieses häusliche Singspiel auf so grosse Begeisterung stiess, arbeitete Humperdinck es zu einer abendfüllenden Oper um. Humperdinck hatte Richard Wagner bei der Einstudierung der Uraufführung von PARSIFAL in Bayreuth assistiert und Wagner hatte einen unüberhörbaren Einfluss auf den jungen Komponisten ausgeübt, vor allem was die Behandlung des Orchestersatzes und die Instrumentation anbelangt. Doch gerade in HÄNSEL UND GRETEL wirkt dieses grosse Orchester erstaunlicherweise nie zu dick oder zu schwer, der Wagnersound verbindet sich in entzückender Art mit dem volksliedhaften Duktus der Gesangsstimmen und führte dazu, dass das Werk seit seiner Uraufführung (dirigiert hatte kein Geringerer als Richard Strauss) nichts an seiner Popularität bei gross und klein eingebüsst hat. Für viele spätere Aficionados der Oper stand HÄNSEL UND GRETEL am Anfang einer langen Liebesbeziehung zur Opernwelt.

Humperdinck hatte zwar noch ein knappes Dutzend weiterer Werke für die Bühne komponiert (neben Schauspielmusiken, Kammermusik und Orchesterwerken), von denen aber höchstens KÖNIGSKINDER ab und an noch auf den Spielplänen auftaucht. Auch als Lehrer war Humperdinck sehr gefragt, die Liste seiner Schüler ist lang und prominent: Wagners Sohn Siegfried, Robert Stolz, Kurt Weill und Friedrich Hollaender gehörten dazu.

Karten

 

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