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Hamburg, Elbphilharmonie: RAVEL, DEBUSSY, STRAWINSKY: 25.02.2025

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Le Sacre du Printemps | Falling Angels | Il Giornale della Necorpoli

Bild: K. Sannemann

Klaus Mäkelä und das Orchestre de Paris mit Werken aus dem frühen 20. Jahrhundert

Maurice Ravel: Le tombeau de Couperin (Fassung für Orchester) | Uraufführung der Orchesterfassung: 28. Februar 1920 | Claude Debussy: Nocturnes, Sinfonisches Triptychon für Orchester und Frauenchor | Uraufführung der ersten beiden Teile ). November 1900, des kompletten Triptychons am 27. Oktober 1901 in Paris | Igor Strawinsky:

Le sacre du printemps | Uraufführung: 29. Mai 1913 in Paris

Kritik: 

Als Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS 1913 uraufgeführt wurde, kam es zu einem tumultartigen Skandal: Es wurde schon während der Aufführung gegrölt, gelacht gepfiffen und gebuht ohne Ende. Gestern Abend in der Elbphilharmonie, gut hundert Jahre später, steigerte sich der Applaus am Ende fast so orgiastisch wie die Musik: Es kam zu einem Skandieren der gut 2000 Zuhörer*innen im Unisono (mag ich eigentlich nicht sonderlich, es hat so was von Herdentrieb), Bravi-Rufen ohne Ende, viele erhoben sich. Natürlich war die Begeisterung verdient – aber galt sie wirklich dem Werk, nicht eher dem gehypten jungen Superstar im Dirigentenhimmel, Klaus Mäkelä? Er ist noch keine dreissig Jahre alt, hat Chefpositionen in Oslo und Paris inne, ist designierter Chefdirigent des Concertgebouw Orchesters Amsterdam und des Chicago Symphony Orchestra. Und er weiss sich zu inszenieren: Mit in Andacht gebetsartig aneinandergefügten Händen steht er nach der Pause auf dem Podest, lauscht der traurigen Eröffnungsphrase des Solofagotts. Erst danach breitet er die Arme langsam aus, gibt Einsätze, beginnt mit dem ganzen Körper zu gestalten. Das Ergebnis ist erschütternd, ergreifend, stellenweise berührend, aber vor allem streicht er die geniale, durch Mark und Bein gehend Brachialgewalt und Modernität von Strawinskys bahnbrechendem Meisterwerk heraus. Ja, vieles ist mit überwältigender Effekthascherei gespickt, aber es verfehlt seine aufwühlende Wirkung nicht. Da ist nichts Weichgespültes zu vernehmen; schrill, grell und sehr scharf klingen die Holzbläser, gleisst das Blech. Die besondere Akustik des Saals trägt dazu bei, dass man jede Stimme ausgezeichnet in der ihr eigenen Klangfarbe vernehmen kann. Die teils hackenden oder motorisch sägenden Rhythmen der Streicher, die knalligen Paukenschläge und Akzente der grossen Trommel in ihrer asymmetrischen Archaik, entwickeln eine Sogwirkung, von der es kein Entrinnen gibt. Mäkelä und das hervorragend disponierte Orchestre de Paris bleiben der Partitur nichts an Rasanz und an brachialer Gewalt schuldig. Das stampft und wütet, dass man darüber die inhaltliche Tragik des Frühlingsopfers der jungen Frau beinahe vergisst. Denn die wenigen einfühlsamen Phrasen gehen im rhythmischen, gewaltigen und knallharten Klangstrudel unter. Mit „It's all about sex“ hatte Leonard Bernstein die Musik einst charakterisiert. Das Publikum schien sich daran nicht zu stören, im Gegenteil!

So wie Strawinsky mit dem SACRE ein Fanal für die Moderne gesetzt hatte, hatte Debussy 20 Jahre früher mit seinen NOCTURNES den Impressionismus eingeleitet. Wie ein impressionistischer Maler seine Bilder im Freien malte, um die Farben der Natur einzufangen, experimentierte Debussy mit den Farben der Instrumente, um die Stimmungen der Gemälde Whistlers in Musik zu übersetzen. Dem Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä gelang es vorzüglich, das Fahle, Mystische des ersten Satzes, NUAGES betitelt, herauszuarbeiten. Wie sich das Englischhorn so wunderschön verhalten auf dem sanften Streicherteppich aufschwang, bezauberte mit fantastischer Innigkeit. Der zweite Satz, FÊTES, begann mit einer grellen Introduktion des Blechs; wie Paare beim Tanz huschten in der Folge Phrasen des Holzes, der gedämpften Trompeten vorbei, kurz steigerte sich das Fest zum Rauschhaften, bevor alles sanft verhallte. Für den letzten Satz hatte das Orchestre de Paris die Damen des Singvereins der Musikfreunde in Wien engagiert, die mit ihren wunderschön intonierten Vokalisen über dem sanften Wellenschlagen des Orchesters lockten; mal vordergründig, dann wieder verhaltener, wie wenn sich ein Schiff den verhängnisvollen Klippen nähern und sich wieder entfernen würde. Eine klangliche, fast hypnotische Sternstunde! In der Elbphilharmonie sind diese Schattierungen mit wunderbar kristalliner Klarheit zu vernehmen, bis an den Rand der Unhörbarkeit im ppp. Mäkelä verstand es ausgezeichnet, den Applaus lange genug zurückzuhalten, um dem Ohr die notwendige innere Ruhe nach dieser wunderbaren Musik zu gönnen.

Auch Maurice Ravel folgte Strawinsky noch nicht ganz in die Moderne. Sein zu Beginn des Konzerts gespieltes, viersätziges Stück LE TOMBEAU DE COUPERIN ist ein hervorragend instrumentierter Rückgriff auf die Kunst und eine Ehrerbietung an seinen gut 200 Jahre zuvor verstorbenen Compatriote, den bedeutenden Barockmeister François Couperin. Im PRÉLUDE begeisterten die Holzbläser*innen des Orchesters, Mäkelä vermittelte wunderbar den wiegenden, tänzerisch-federnden Gestus. In der FORLANE bevorzugte er mit dezenter Zeichengebung die leicht verschattete (wie oftmals bei Ravel) Luftigkeit des Tanzes, die daneben aber trotzdem gut geerdet klang. Sehr fein hingetupft erklang das Menuett (Oboe!), atmosphärisch fein gesponnen mit subtil gesetzten, kaum wahrnehmbaren Ritardandi und mit sanften Crescendi im liedhaften Teil. Markant und lebhaft erklang der RIGAUDON in der Exposition und der kurzen Reprise, dazwischen ein lyrischer Mittelteil, geprägt von den virtuosen Passagen der Flöte, der Oboe und des Englischhorns.

Es war ein wunderbares Programm, das natürlich vor allem vor der Pause die Bereitschaft zum intensiven Zuhören abverlangte, während man sich nach der Pause mit Haut und Haar den durch Mark und Bein gehenden Synkopen und archaischen Rhythmen hingeben konnte!

Werke: 

LE TOMBEAU DE COUPERIN wurde zwischen 1914 und 1919 von Maurice Ravel (1875-1937) als Suite von sechs Stücken für Klavier solo geschrieben. 1919 wählte Ravel vier Stücke daraus aus und orchestrierte sie als Orchestersuite. Mit seiner Komposition ehrte Ravel die grossen Komponisten Frankreichs aus der Zeit des Barocks, wie Couperin oder Rameau. Der ruhig voranschreitende Charakter des Werks kontrastiert mit den tumultösen Kriegserfahrungen des Komponisten. Jeder Satz ist einem gefallenen Freund gewidmet, die Toccata z.B. Dem Musikwissenschaftler Joseph de Marliave, dessen Witwe, Marguerite Long, die Klavierfassung zur Uraufführung brachte.

Die drei NOCTURNES von Claude Debussy (1862-1918) zählen zu den Hauptwerken des Impressionismus. Inspirieren liess sich Debussy von drei ebenfalls als “Nocturnes” betitelten Gemälden von James Abbott Whistler. Debussy schrieb in einem Kommentar zur Uraufführung: „Der Titel Nocturnes will hier in allgemeiner und vor allem in mehr dekorativer Bedeutung verstanden werden. Es handelt sich also nicht um die übliche Form des Nocturno, sondern um alle Eindrücke und speziellen Beleuchtungen, die in diesem Wort enthalten sein können. […]“ Mit seinem gewohnt fantastisch feinen Gespür für Instrumentierung arbeitete Claude Debussy die Schilderung der unterschiedlichen Stimmungen der drei Stücke heraus: In NUAGES düster, amorph, in FÊTES mit einer eindringlichen Solokantilene der Trompete, welche uns in den Wirbel eines nächtlichen Festes im Bois de Boulogne versetzt, in SIRÈNES schliesslich fühlt man sich mit den Vokalisen des Frauenchors direkt in die Dämmerung über einem lockenden Felsenstrand hineingezogen.

Die Uraufführung von Igor Strawinskys (1882 - 1971) LE SACRE DU PRINTEMPS im Jahr 1913 unter der Leitung von Pierre Monteux geriet zu einem wahren Tumult; Gelächter, Zwischenrufe und Gebuhe arteten in einen Hexenkessel aus, inklusive Handgemenge. Das Publikum war von der erbarmungslosen Motorik der Musik schockiert. Die Urklänge werfen den Hörer zurück in seine eigene unterschwellige Triebhaftigkeit, konfrontieren ihn mit verborgenen Lüsten an Gewalt. Strawinsky arbeitet mit scharfen Kontrasten, kraftvolle, mit häufigen Taktwechseln untermauerte Rhythmen dominieren über das Melos. Das Orchester ist mit 110 Musikern sehr gross besetzt. Jean Cocteau sprach von den „Geburtswehen der Erde“. Der zum Teil archaisch anmutenden Musik fehlt im Gegensatz zu PETRUSCHKA jede tänzerische Geste, sie ist erfüllt von der unheimlichen Kraft der verzwackten Rhythmen, nur wenige melodische Einsprengsel durchdringen das ostinate Chaos. Die Orchesterbesetzung ist aussergewöhnlich gross, ähnlich wie bei Schönbergs GURRELIEDERN. Diese reichhaltige Orchesterbesetzung führt in der komplexen und zukunftsweisenden Partitur auch zur unentrinnbaren, soghaften Kulmination von barbarisch anmutenden Klangmassen.

 

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