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Hamburg Ballett John Neumeier: ANNA KARENINA, 07.05.2022

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Anna Karenina

copyright der Bilder: Kiran West, mit freundlicher Genehmigung Hamburg Ballett John Neumeier

Ballett von John Neumeier, inspiriert von Leo Tolstois gleichnamigem Roman | Musik: Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Alfred Schnittke, Cat Stevens/Yusuf Islam | Uraufführung: 2. Juli 2017 in Hamburg | Aufführungen in Hamburg (Wiederaufnahme): 6.5. | 7.5. | 13.5. | 15.5.2022 | 27.6. | 28.6. 2023

Kritik

Thomas Mann bezeichnete Leo Tolstois "Anna Karenina" als den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur. Dieses literarische Meisterwerk umfasst über 1200 Seiten und nur schon die Komprimierung dieses gewaltigen Romans auf eine Choreografie von gut 150 Minuten Spieldauer stellt eine mutige Tat dar. Wenn sich dann das Ergebnis auch noch dermaßen stringent, packend und die Handlungsstränge und Haupttehmen so klar und in grandioser erzählerischer Dichte herausgearbeitet präsentiert, fühlt man nur noch tiefe Dankbarkeit dafür, dass man diesen intensiven Ballettabend erleben durfte, und man hat allergrößten Respekt vor dem genialen choreografischen Geschichtenerzähler John Neumeier.

Der Hamburger Ballettdirektor John Neumeier (seit 1973(!)in dieser Position) untertitelte seine Choreografie mit "inspiriert von Leo Tolstoi". Damit machte er klar, dass es ihm nicht darum ging, einen historischen Ausstattungsschinken zu produzieren, sondern bewusst den Stoff auf zeitlose Themen und Konflikte zu hinterfragen, ohne die Grundgedanken Tolstois zu negieren. Das gelang ihm in dieser Koproduktion mit dem Moskauer Bolschoi Ballett und dem National Ballet of Canada (die Uraufführung fand 2017 in Hamburg statt) auf eindringliche Art. 

Neumeier fokussierte seinen Blick natürlich auf die Titelfigur. Anna Laudare MUSS man in dieser für sie kreierten Rolle erlebt haben: An ihrer Interpretation verblüffen neben den tänzerischen Qualitäten ihre ungemein starke Bühnenpräsenz und ihre ausdrucksstarke Mimik. Da stimmt einfach jeder Blick, jede kleinste Bewegung, jede Reaktion des Körpers auf die jeweiligen Partner*innen. Die interfamiliäre Beziehung zu ihrem politisch engagierten Mann Alexej Karenin und dem gemeinsamen Sohn Serjoscha wird mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Sehr schnell wird klar, dass Anna an der Seite des im Rampenlicht stehenden Alexej (mit rollengerechter Gefühlskälte getanzt von Ivan Urban) nicht glücklich werden kann. In intensiven Szenen wird jedoch ihre Liebe zu dem heranwachsenden Sohn Serjoscha herausgearbeitet (Marià Huguet tanzt ihn mit verspielter Virtuosität, ganz wunderbar). Von spannungsgeladener Intensität geprägt ist Annas erste, zufällige Begegnung mit dem Grafen Wronski am Bahnhof. Diese Blicke der beiden vergisst man nicht so schnell. Anlässlich dieser Begegnung erleidet ein einfacher Arbeiter, ein Muschik, einen tödlichen Sturz. Davon ist Anna schwer betroffen, immer wieder im Verlauf der Geschichte sucht sie dieser Muschik albtraumhaft heim. Karen Azatyan tanzt ihn mit einer geheimnisvollen Präsenz. Wronski, das ist Testosteron pur. Seinen Körper stählt er im Lacrosse-Training, dieser schnellsten und härtesten Mannschaftssportart. Edvin Revazov zeigt neben testosteronstrotzendem Sexappeal aber auch empfindsame und fürsorgliche Seiten des Grafen, seine Gefühle zu Anna scheinen echt und tief empfunden zu sein. Erst nachdem Anna durch die Trennung von Serjoscha immer depressiver wird und wegen ihrer außerehelichen Affäre und der Schwangerschaft von der Gesellschaft verstoßen wird, wendet er sich einer neuen Geliebten zu (Prinzessin Sorokina: die anmutige Greta Jörgens). Die Szenen mit den Lacrosse-Spielern sind mit atemberaubender Kraft choreografiert und werden von den Tänzern des "Hamburg Balletts John Neumeier" mitreißend umgesetzt. Phänomenal wird die zweite Begegnung Annas mit Wronski anlässlich von Kittys Verlobungsfeier mit eben diesem Wronski in Szene gesetzt. Wronski und Anna werden intim, ein grandioser, auch schmerzerfüllter Pas de deux. Kitty erleidet einen Nervenzusammenbruch, ihre seelische Befindlichkeit im Sanatorium wird mittels einer genialen Videosequenz und Live-Tanz bewegend in Szene gesetzt. Emilie Mahon tanzt die Kitty mit fantastischer Eindringlichkeit, gibt einen tiefen Einblick in die verletzte Seele. Der aristokratische, aber das einfache Leben auf dem Lande bevorzugende Lewin ist schon länger in Kitty verknallt und schafft es, sie aus dem Sanatorium zu holen, sie zu heiraten und ein glückliches Familienleben aufzubauen. Aleix Martínez tanzt den Lewin mit überbordender Verspieltheit, manchmal auch mit gekonnt tollpatschiger Naivität, er wird zu einem Sympathieträger beim Publikum. Ganz anders als der Mann Dollys im dritten Handlungsstrang der Geschichte: Stiwa, Annas Bruder, kann Dolly nie treu sein, hat Affären mit dem Kindermädchen und mit Ballettratten. Florian Pohl stellt diesen Frauenheld mit einer Unschuldsmiene und tänzerischen Machotum dar, als wäre Fremdgehen die natürlichste Sache der Welt. Darunter leidet seine Gemahlin Dolly (Kittys Schwester) natürlich enorm. Sie hat zusammen mit Stiwa bereits sechs Kinder, trotzdem entschließt sie sich, die Familie zu verlassen. Patrizia Friza stellt die Dolly mit grosser Ausdruckskraft dar. Die Szene, in der die fünf schon etwas älteren Kinder ihre Mutter umstimmen, doch bei der Familie zu bleiben, gehört zu den eindringlichsten Momenten des gefühlsintensiven Abends. Die jungen Tänzer*innen der Ballettschule Hamburg Andrej Urban, Emilia Koleva, Linnea Heikilla, Eva Eichler und Frederik de Haas begeistern mit Präzision und darstellerischer Ausstrahlung. Bravi!

Wunderbar und von reichhaltigem Bewegungsvokabular geprägt sind die Gruppenszenen, so bei Kittys Verlobung, beim Lacrosse-Spiel, in der Oper, am Bahnhof. Die Compagnie des Hamburg Balletts setzt diese Szenen mit eindrücklicher Prägnanz um.

John Neumeier hat sich für diese Schöpfung Musik von Tschaikowski, Alfred Schnittke und Songs von Cat Stevens ausgesucht. Jedes Musikstück ist haargenau passend für die jeweilige Szene eingesetzt, das führt zu einer geradezu einmaligen szenischen Gesamtstimmigkeit. Tschaikowski steht eher für Leidenschaft, Verführung, die repräsentativen Szenen, Schnittke erklingt bei schmerzerfüllten Vorahnungen, dem Unfall des Arbeiters, seelischer Zerrissenheit, Cat Stevens singt für Lewin und Kitty. Die klug ausgewählten Werke von Tschaikowski und Schnittke werden natürlich live vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der einfühlsamen Leitung von Nathan Brock gespielt, die Songs von Cat Stevens werden via Lautsprecher übertragen. Das kongeniale Bühnenbild mit seinen unglaublich geschickt arrangierten und reibungslos ablaufenden, ultraschnellen Szenenwechseln wurde ebenso vom Choreografen John Neumeier entworfen, wie auch das Licht und die Kostüme. Doch nicht die Kostüme für Anna Karenina, denn die stammen vom Schweizer Modedesigner Alfred Kriemler (AKRIS). Damit erhält die Titelfigur eben noch eine ganz besondere, zentrale Position innerhalb des an Beziehungen reichen Dramas, das auch mit ihrem Selbstmord nicht zu Ende ist. Es gibt unzählige wunderschöne und berührende Momente in dieser Choreografie: Die anfänglich glückliche Zeit Annas und Wronskis in Italien (untermalt von Tschaikowskis Souvenir de Florence), Lewins erster Auftritt mit Traktor und Strohballen (Cat Stevens: Moonshadow), die Szene in der Oper (Fragmente von Tatjana Briefszene aus EUGEN ONEGIN), die Schmerzen der Geburt von Annas und Wronskis Kind, die Wahnvorstellungen Annas, die Versöhnungsversuche mit der Familie, das Leben auf dem Lande nach Kittys mentaler Genesung (Cat Stevens: Morning has broken), die Art, wie Lewin den am Boden zerstörten Serjoscha nach dem Suizid seiner Mutter tröstet (das geht wirklich unter die Haut). Wenn heutzutage noch einer packende und ergreifende Handlungsballette choreografieren kann, dann ist es John Neumeier.

Ja, und soviel sei noch verraten: Selbst die berühmte Dampflokomotive aus dem Roman und den Verfilmungen ist präsent - auf sehr subtile Art ist auch diese Erwartungshaltung erfüllt!

 

Werk:

Der Roman Tolstois entstand in den Jahren 1873-1878 und erzählt die ineinander verwobene Geschichte dreier russischer Familien des Adels: den Oblonskis, der Lewins und der Karenins. Anna Karenina ist mit dem Staatsbeamten Alexej Karenin verheiratet. Doch ihre Affäre mit dem Grafen Wronski führt zum Bruch der Ehe und ihrem Selbstmord. Als Kontrast und Ergänzung zur zentralen Geschichte der Karenins stehen die Ehen und Beziehungen von Kitty (Schwägerin Annas) mit Lewin und die von Stiwa Oblonski (Annas Bruder) und seiner Gemahlin Dolly (Kittys Schwester). Szenen also nicht nur einer, sondern dreier Ehen. Neben der realistischen Schilderung der Seelenzustände und der Figurenkonstellationen behandelt Tolstois meisterlicher, umfangreicher Roman auch politische Probleme des Zarenreiches: die Bauernbefreiung, der rechtliche Status von Geschiedenen, die Dekadenz des Adels.

Die Vorlage Tostois wurde mehrfach für die Ballettbühne adaptiert. Es existieren Choreografien u.a. von Christian Spuck (Ballett Zürich, 2014), Boris Eifman (Eifman Ballett St.Petersburg, 2005)

ANNA KARENINA wurde über ein Dutzend Mal verfilmt, u.a. mit Greta Garbo, Vivien Leigh, Jacqueline Bisset, Sophie Marceau und Keira Knightley in der Titelrolle.

Szenenfolge in der Choreografie von John Neumeier:

Alexej Karenin hält in St.Petersburg eine politische Kundgebung ab und kämpft für seine Wiederwahl. Seine Gemahlin Anna ist an seiner Seite.

Graf Wronski trainiert in Moskau für ein Lacrosse - Spiel.

Annas Bruder Stiwa bittet Anna um Hilfe in einem Ehestreit. Er hat seine Gemahlin Dolly mit dem Kindermädchen betrogen. Anna reist nach Moskau. Sie begegnet dem Grafen Wronski. Ein schwerer Unfall eines Arbeiters wird von Anna als böses Omen gedeutet.

Auf dem Land träumt der Gutsbesitzer Lewin von Kitty, Dollys Schwester. Doch Kitty verlobt sich in Moskau mit dem Grafen Wronski, einem narzisstischen Schürzenjäger. Bei diesem Fest begegnen sich Anna und Wronski zum zweiten Mal.

Anna spielt mit ihrem Sohn Serjoscha und hängt dabei leidenschaftlichen (erotischen) Gedanken an den Grafen Wronski nach.

Anna und Alexej schauen zusammen mit Serjoscha einem Lacrosse - Spiel zu, in dem Wronski unkonzentriert spielt, da Anna ihm vor dem Spiel erzählt hat, dass sie von ihm schwanger sei. Wronski erleidet einen Unfall. Anna hegt Schuldgefühle.

Kitty hat einen Nervenzusammenbruch und wird in ein Sanatorium eingewiesen. Lewin besucht sie.

Stiwa vergnügt sich mit Tänzerinnen des Bolschoi-Balletts. Seine eheliche Treue war von kurzer Dauer.

Anna bringt Wronskis Kind zur Welt, das Mädchen wird auch Anna genannt. Die Versöhnung mit Alexej Karenin gelingt nicht, Anna zieht zu Wronski, Kitty heiratet Lewin.

Anna ist mit Wronski glücklich in Italien, denkt aber immer intensiver an ihren Sohn Serjoscha. Die Bilder des Unfalls des Arbeiters bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Wronski verfolgen Anna.

Anna kehrt anlässlich des Geburtstags von Serjoscha nach St.Petersburg zurück. Karenin tröstet sich mit Lydia Iwanowa.

Kitty und Lewin geniessen das Landleben.

Die Beziehung zwischen Anna und Wronski verschlechtert sich zusehends. Anna besucht eine Aufführung der Oper EUGEN ONEGIN. Sie sieht Wronski mit der Prinzessin Sorokina. Anna fühlt sich von der Gesellschaft ausgestossen. Nur Dolly hält zu ihr.

Anna begeht mit gebrochenem Herzen Selbstmord.

Wronski betrauert Annas Tod, das Leben an den Schauplätzen Moskau, St.Petersburg und auf dem Lande geht weiter.

Karten

 

 

 

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