Freiburg: JERUSALEM, 01.10.2016
Grand opéra in vier Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Alphonse Royer und Gustave Vaëz, nach Temistocle Soleras Libretto für Verdis Oper I LOMBARDI ALLA PRIMA CROCCIATA | Uraufführung: 26. November 1847 in Paris | Aufführungen in Freiburg: 1.10. | 3.10. | 9.10. | 14.10. | 22.10. | 27.10. | 19.11. | 30.11. | 8.12. | 11.12. 2016 | 7.1. | 22.1. | 27.1. | 21.4.2017
Kritik:
Verdis erste Grand opéra JERUSALEM erlebte gestern Abend am Theater Freiburg erst die zweite Aufführung in Deutschland, die deutsche Erstaufführung fand im Januar diesen Jahres in Bonn statt. Und wenn diese Produktion eines zeigte, dann dies: Verdis dem breiten Publikum wenig vertraute Oper verdient es, vermehrt in den Fokus der Musiktheater und deren BesucherInnen gerückt zu werden. Die Partitur bietet ein Füllhorn von melodischen Einfällen, konzis und effektvoll komponierten Szenen und Arien, mitreissenden Finali, grandiosen Chören. Sie ist dem weitaus populäreren NABUCCO durchaus ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Und gerade in den breit angelegten Chorszenen konnte die Aufführung musikalisch punkten: Der Opern- & Extrachor des Theater Freiburg sowie Studierende der Hochschule für Musik Freiburg leisteten klanglich Grossartiges (Einstudierung: Bernhard Moncaldo). Diese Leistung verdient ganz besondere Anerkennung, da von den Chorsängerinnen und -sängern in den Szenen vom Regisseur einiges auch an physischer Kraft abverlangt wurde (minutenlanges Erstarren mit ausgestreckten Armen!). Da der Chor oft von weit hinten auftreten und sich dann langsam nach vorne zur Rampe bewegen musste, war die Distanz zum Dirigenten oftmals ziemlich gross, was zu leichten rhythmischen Temporückungen führte. Dies wird sich im Verlauf der Aufführungen sicherlich noch einpendeln. Insgesamt auf sehr hohem Niveau bewältigten auch die Solisten ihre (dankbaren) Aufgaben. Allen voran Anna Jeruc als Hélène: Die polnische Sopranisten verfügt über einen echten Spinto-Sopran, lyrisch grundiert, mit fulminanter Durchschlagskraft in den dramatischen Passagen und den Massenszenen, sicherer Höhe, Agilität in den Koloraturen und ein wunderbar tragfähiges Piano, ein faszinierendes Singen in der mezza-voce Szene (Une pensée amère). Ihr tenoraler Partner war ihr ebenbürtig: Giulio Pelligra sang den Gaston mit biegsamem, angenehm und unangestrengt klingendem Tenor, leuchtender Strahlkraft in der (sicheren!) Höhe, differenziert in den dynamischen Abstufungen. Wunderbar in der Sonorität seines autoritären und markanten Baritons gestaltete Juan Orozco den herrischen, unnachgiebigen und erbarmungslosen Grafen von Toulouse und Vater von Hélène. Eine Gewaltsleistung, welcher vom Publikum verdientermassen enthusiastische Anerkennung gezollt wurde, vollbrachte Jin Seok Lee mit seinem schwarzen, voll und resonanzreich klingenden Bass als Roger: Eindringlich zeigte er die Wandlung vom Saulus (sein hart am Inzest vorbeischrammendes Begehren seiner Nichte, der geplante Mordanschlag auf Gaston) zum Paulus (als von den Sarazenen und den Christen als Heiliger verehrter Eremit in Palästina). Einzig in seiner grossen Arie zu Beginn des zweiten Aktes schlich sich etwas gar viel Vibrato ein, da nahm er die Zeile „ma voix tremble“ etwas gar zu wörtlich. Andrei Yvan sang einen schmierigen päpstlichen Legaten, Shinsuke Nishioka war der dienstfertige Raymond. Eine besondere szenische Aufwertung wurde der Rolle von Hélènes Vertrauter, Isaure, zuteil: Kim-Lillian Strebel vollbrachte geradezu eine athletische Spitzenleistung, musste oft pausenlos um den Chor herumrennen (warum?), stellte (als einzige Frau in einem farbigen, senfgelben Kleid) das ewig unterjochte Weib dar.
Verdi hat in seinen Opern oft grosses Welttheater aus der Keimzelle der familiären Konflikte heraus erschaffen – z.B. in seinem ebenfalls für Paris konzipierten DON CARLO und eben auch in JERUSALEM. Dieses Welttheater, das Allgemeingültige, Zeitlose aufzudecken, war die Intention des Inszenierungsteam um den Regisseur Calixto Bieito. Die Bühne von Aida Guardia war schwarz und praktisch leer. Einzig ein gigantischer, trockener Steinhaufen – der Ölberg - ab dem zweiten Akt, auf welchem Jin Seok Lee als sich selbst kasteiender Roger 80 Minuten lang als Gekreuzigter am Querbalken hängen (und singen) musste, gab ihr etwas Struktur. Im Hintergrund waren gigantische Scheinwerferbatterien aufgestellt, welche ihr erbarmungslos gleissendes Licht direkt und schmerzhaft in den Zuschauersaal warfen. (Wer es nicht mag, dauerhaft geblendet zu werden, sollte sich Plätze in der rechten Saalhälfte besorgen!) Calixto Bieito jedoch schien die Handlung nicht sonderlich zu interessieren. Jedenfalls lag ihm an der Individualität der Charaktere wenig. Auf der Bühne zu sehen war eine uniforme und amorphe Masse, aus welcher die Protagonisten zwar heraustraten, es nicht mit der Handlung vertrauten Besuchern aber trotzdem schwer machten, das Geschehen zu verstehen. Zumal die erstarrten Tableaux auch zu einem statischen Rampensingen führten. Bieito nahm die Oper Verdis also eher zum Anlass, symboltriefende, allegorische und nicht immer einfach zu entschlüsselnde Tableaux vivants auf die Bühne zu stellen, die teils wirklich eindrücklich und beklemmend ausfielen. Quälend langsam hob sich der schwarze Vorhang zu Beginn. Aus dem diffusen Bühnennebel zeichneten sich allmählich Figuren ab, die ebenso quälend langsam aus dem Hintergrund nach vorne rückten. Wenn dann endlich die Ouvertüre einsetzt, erkennt man, dass Männer und Frauen einheitlich in grünen Damenkleidern stecken (Kostüme: Rebekka Zimlich). Bieito entwickelt sein allegorisches Theater also quasi aus einer matriarchalischen Ursuppe heraus. Später dann sind Chor und Solisten (Herren und Damen) einheitlich in Massanzüge in Grau und Schwarz gekleidet (beim Aufbruch zum Kreuzzug wird dann noch in Kampfstiefel geschlüpft), das Patriarchat hat übernommen, die Weiblichkeit ist verdrängt und die Unterdrückung durch Religion, Machtstreben und sexuelle Ausbeutung hält Einzug. (Witzig der Zufall, dass der Zürcher TagesAnzeiger gerade vor einem Tag einen satirischen Artikel publizierte, welcher ein Verbot des Herrenanzugs forderte, da er ein Symbol sowohl für die Unterdrückung der Frau sei, als auch eines des männlichen Kastendenkens, und deshalb mit unseren Grundwerten als nicht vereinbar zu betrachten sei). Wie wäre es mit einem Anzugsverbot wenigstens erst mal auf der Opernbühne? ;-))
Selbstverständlich durften in diesen symbolhaften Bildern des Welttheaters auch Anspielungen auf die gegenwärtige Migrationskrise nicht fehlen: Im zweiten Akt tauchten sie auf, orange Rettungswesten über den Anzügen tragend (in der trockenen Wüste Palästinas ...). Diese Rettungswesten lagen dann verstreut herum und evozierten den Strand von Lesbos. Plakativ auch die Zurschaustellung des brutalen, machohaften Verhaltens des Grafen von Toulouse: Minutenlang zerrt und schleift er seine Tochter über die Bühne, bespuckt und schlägt sie, bis sie blutüberströmt (wenn man die roten Rinnsale an ihren Schenkeln sieht, weiss man, was in Bieitos Fantasie passiert ist) wieder an die Rampe torkelt. Eindringlich jedoch die „Steinigungs“- Szene, in der bewusst gemacht wird, dass sich die archaischen Rituale monotheistischer Religionen (Christentum, Judentum, Islam) kaum unterscheiden. (Nur dass sich die einen doch mehr um den Einzug des Humanismus und der Aufklärung in ihre Doktrin gekümmert haben als andere ...) Am Ende sind dann alle beschädigt, blutüberströmt - das Jerusalem-Syndrom, dieses vergebliche und verderbliche Streben nach Herrschaft, hat wieder gnadenlos zugeschlagen, der Skorpion sein tödliches Gift verspritzt (das Spinnentier beherrschte den ersten Akt als Videosequenz). Und nun findet Bieito tatsächlich zu seinem stärksten Bild: Am Bühnenhimmel werden ineinander verschachtelte Schriftzüge sichtbar, die man kaum entziffern kann. Allmählich senken sich sich, werden lesbar: Es sind Ausschnitte aus der heiligen Schrift oder dem Katechismus in verschiedenen Sprachen, die vom ewigen Licht, von Unterwerfung, von Seligkeit und Wahrheit handeln. Diese metallenen Schriftzüge senken sich zum Boden und bilden so eine Art Stacheldrahtverhau, hinter welchem das gemeine Volk gefangen ist. Gegen das Metall dieses Gefängnis der Gedanken schlagen die Eingesperrten wutentbrannt und vergeblich, während die Hymne „La cité du Seigneur“ erklingt. Klasse!
Passend zu den manchmal harten, manchmal abstossenden und manchmal unter die Haut gehenden Bildern die musikalische Lesart der Partitur (die Szene im Harem des Emirs von Ramla und das Ballett wurden leider gestrichen) durch Fabrice Bollon am Pult des Philharmonischen Orchesters Freiburg: Knallhart, unerbittlich, brutal drängen die martialischen Akzente des frühen Verdi ins Ohr, umso schöner ausmusiziert dann die wenigen kontrastbildenden, warmen und kammermusikalischen Phrasen. So hielt dann doch noch etwas vom Humanismus Verdis in die Produktion Einzug, denn Verdi war nicht nur der antiklerikale, sarkastische Kritiker und Beobachter menschlicher Abgründe. Gerade in seiner Musik klingt auch eine tief verwurzelte tröstliche und empathische Saite an, ein Aspekt, welchem in der szenischen Gestaltung in Freiburg kein Platz eingeräumt wurde. Und vielleicht deshalb gab es neben begeistertem Applaus für die Ausführenden des musikalischen Geschehens auch einige Missfallenskundgebungen gegenüber dem Inszenierungsteam.
Inhalt:
Die Oper spielt zur Zeit des ersten Kreuzzugs (1095 -1099) in Toulouse und Palästina
Der Graf von Toulouse hat in einem Krieg den Vater von Gaston de Barnim getötet. Zum Zeichen der Aussöhnung will er Gaston seine Tochter Hélène zur Gemahlin geben. Gaston ist einerseits noch von Hass auf den Grafen erfüllt, andererseits liebt er aber Hélène. Roger, der Bruder des Grafen, liebt Hélène ebenfalls und beabsichtigt, Gaston aus dem Weg zu räumen. Der päpstliche Gesandte tritt auf und ernennt den Grafen von Toulouse zum Heerführer der französischen Kreuzritter. Gaston will sich dem Kreuzzug anschliessen. Der Graf überreicht ihm seinen weissen Kreuzrittermantel. Roger hat nicht bemerkt, dass Gaston nun des Grafen Mantel trägt und der gedungene Mörder sticht anstelle von Gaston den Grafen nieder. Doch Roger und der Täter beschuldigen Gaston des Mordes. Wegen der alten Familienfehde glauben alle dieser falschen Anschuldigung. Nur Hélène hält zu ihrem Verlobten. Der päpstliche Gesandte verhindert die Lynchjustiz und belegt Gaston mit dem Kirchenbann.
Entgegen ersten Befürchtungen wurde der Graf jedoch bei dem Anschlag nicht tödlich getroffen und brach mit Hélène zum Kreuzzug auf. Roger, nun reuig geworden, pilgerte ebenfalls ins Heilige Land, wo er nun als Einsiedler lebt. Gaston befindet sich ebenfalls in Palästina. Er wurde jedoch vom Emir von Ramla gefangen genommen. Hélène und ihre Vertraute Isaura haben erfahren, wo Gaston gefangen gehalten wird und wollen ihn befreien. Raymond, ein Vertrauter Gastons, schliesst sich ihnen an. Unterdessen erreicht das Heer die Klause des Eremiten Roger. Roger erkennt seinen Bruder, doch der Graf erkennt Roger nicht. Roger segnet die Kreuzritter, welche nun zusammen mit dem päpstlichen Gesandten zu ihrem blutigen Feldzug aufbrechen.
Im Palast des Emirs treffen wir auf den gefangenen Gaston. Hélène ist aufgegriffen worden und wird zu Gaston gebracht. Der Emir belauscht das Gespräch der beiden. Als sie versuchen aus dem Palast zu fliehen, werden die Liebenden festgenommen.
Hélène wird im Harem verspottet. Bald schon naht das siegreiche Heer der Kreuzritter mit dem Grafen von Toulouse an der Spitze und dringt in den Palast des Emirs ein. Gaston wird zusammen mit Hélène entdeckt und soll nun hingerichtet werden. Der Graf verflucht Hélène als treulose Tochter. Gaston beteuert erneut seine Unschuld am damaligen Anschlag auf den Grafen. Vom päpstlichen Gesandten werden Gaston seine Adelstitel aberkannt, die Hinrichtung findet aber noch nicht statt.
Roger, der als heiliger Mann gilt, denkt an die Qualen von Christus auf dem Ölberg. Der Gesandt des Papstes verlangt von Roger, dem verurteilten Mörder Gaston, die Absolution zu erteilen. Roger erkennt Gaston und will mit ihm alleine bleiben. Roger übergibt Gaston ein Schwert. Damit solle er für Gottes Ehre kämpfen und die heilige Stätte Jerusalem für die Christen zurückzugewinnen.
Die Kreuzfahrer haben Jerusalem eingenommen. Der Graf erwartet die siegreichen Krieger. Unter ihnen ist Gaston, welcher die Fahne der Kreuzfahrer als erster in Jerusalem gehisst hatte. In diesem Moment wird der tödlich verletzte Roger hereingetragen. Er gibt sich seinem Bruder zu erkennen und bekennt seine Schuld am meuchlerischen Anschlag auf den Grafen. Sterbend erfüllt sich sein letzter Wunsch: Ein Blick auf die heilige Stadt Jerusalem.
Werk:
Paris war zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Mekka der Musik- und Opernwelt. Wer an der Pariser Oper reüssierte, war ein gemachter Mann. Die Franzosen waren begeistert von den Werken Meyerbeers, welche mit gigantischem Aufwand an Musik und Ausstattung die Menschen in ihren Bann zogen. Giuseppe Verdi hatte in Italien und anderen Ländern seit NABUCCO seinen Ruf als Opernkomponist gefestigt. Nun wollte auch die Pariser Oper ein Werk des Maestros herausbringen. Verdi entschloss sich, seine Oper I LOMBARDI ALLA PRIMA CROCIATA aus dem Jahr 1843 für Paris umzuarbeiten, da sie all das enthielt, was die Grand Opéra erforderte: Einen historischen Kontext (der Graf von Toulouse und Gaston de Béarn haben tatsächlich gelebt), wechselnde, effektvolle Schauplätze und Platz für ein (in Paris unerlässlich) Ballett in der Haremsszene.
Die Uraufführung der Oper JERUSALEM war ein Erfolg, Verdi wurde vom Bürgerkönig Louis-Philippe gar zum Chevalier del la Légion d'Honneur ernannt. Verdi hatte die Partitur der LOMBARDI gründlich überarbeitet, weiterentwickelt, neu instrumentiert und die Rezitative dramatisiert. Trotzdem konnte sich JERUSALEM in späteren Jahren und auch im 20. Jahrhundert nicht durchsetzen. Die Scala di Milano spielte JERUSALEM zwar in einer italienischen Übersetzung nach, kehrte dann aber wieder zu I LOMBARDI zurück.