Frankfurt, Oper: LE POSTILLON DE LONJUMEAU; 12.04.2025
Einst ein grosser Hit, dann leider etwas in Vergessenheit geraten: Die Oper Frankfurt bringt Adolphe Adams herrliche Opéra comique auf die Bühne
Opéra comique in drei Akten | Musik: Adolphe Adam | Libretto: Adolphe de Leuven und Léon-Lévy Brunswick | Dialogfassung von Hans Walter Richter und Mareike Wink | Übernahme einer Produktion der Tiroler Festspiele Erl | Uraufführung: 13, Oktober 1836 in Paris | Verbleibende Aufführungen in Frankfurt: 9.4. und 12.4.2025
Kritik:
Seit Kindertagen ist mir die grosse Arie des Postillons (Mes amis, écoutez l'histoire) im musikalischen Gedächtnis haften geblieben: Es war die Zeit, als es nur wenige lokale Radiosender und kaum Fernseher gab, Wunschkonzerte mit klassischer Musik wurden zur Hauptsendezeit ausgestrahlt und Nicolai Geddas Interpretation des Lieds des Postillon (auf deutsch gesungen) gehörte quasi zu den Dauerbrennern. Doch noch nie hatte ich Gelegenheit, dieses musikalische Lustspiel (ein veritabler Leckerbissen) auf der Bühne zu erleben. Was für eine grosse Freude war es nun, gestern Abend dies anlässlich der Derniere in der Oper Frankfurt erleben zu dürfen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Das war ein Riesenspass – denn die Oper besteht nicht nur aus dem einen Hit, sondern jede ihrer zahlreichen Nummern ist ein Ohrwurm, der Genuss und sorgenfreies Amüsement bereitet.
Diese Koproduktion mit den Tiroler Festspielen Erl stand unter der szenischen Leitung von Hans Walter Richter. Er hatte sich entschieden, die Handlung dort zu verorten, wo der Komponist und seine Librettisten es vorgesehen hatten: im Rokoko Mitte des 18. Jahrhunderts zur Regierungszeit von Louis XV. Vom Bühnen- und Kostümbildner Kaspar Glarner liess er sich eine barocke Guckkastenbühne mit ihren Gassen und der Theatermaschinerie auf die Drehbühne stellen, die an den Längsseiten sichtbar wurde, wenn sie sich drehte (atmosphärisch stimmig ins Licht gesetzt von Jakob Bogensperger). Die Rückseite diente als Gemeindescheune in Lonjumeau, die Vorderseite war der Schauplatz auf der Theaterbühne in Versailles/Paris. So nahm die turbulente Handlung ihren rasanten Lauf, das war witzig, spritzig, einfallsreich und teils urkomisch. Hans Walter Richter verstand es hervorragend, den Protagonisten Profil zu verleihen, gab sie aber in keinem Moment der Lächerlichkeit oder der Schadenfreude preis, zeigte sie mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen. Der Chor spielt in diesen Vaudevilles ja auch immer eine bedeutende Rolle. Auch hier versuchte Richter, den einzelnen Sänger*innen individuelles Profil zu verleihen. Schon in der Eröffnungsszene, wo sich eine in den Postillon verliebte Choristin betrinkt, weil eine andere (Madeleine) ihn sich geangelt hatte und ein in Madeleine verliebter, aber nicht zum Zuge kommender Chorist sich dann halt ebendiese Choristin regelrecht auf offener Bühne explizit sexuell „nimmt“. Am Ende, wenn der Postillon und Madeleine sich nach der Entkräftung der Bigamie-Vorwürfe endlich ehelichen dürfen, werden auch gleich noch weitere Verbindungen besiegelt: Choristin und Choristin, der auf den Postillon Chapelou eifersüchtige Schmied Bijou bekommt am Ende gar den Kaplan Bourdon zum Mann und der Adelige Talentscout Marquis de Corcy, der sich eigentlich auch Hoffnung auf Madame de Latour (Madeleine) gemacht hatte, bekommt deren Sister in Crime, Rose. Diese Rose wird von keinem Geringeren verkörpert als vom Choreographen dieser Aufführung, Gabriel Wenka. Er verkörpert diese Sprechrolle quasi als Transvestit, was der Handlung zusätzliche Würze verleiht. Dazu legt er in seiner Rokoko – Robe eine Tanzeinlage aufs Parkett, die sich gewaschen hat, inklusive fulminanter Pirouetten und einem perfekt hingelegten Spagat! So ist durchs Band weg eine immense Spielfreude aller Beteiligten zu geniessen, welche der Aufführung Schwung verleiht. Ein wichtiger Bestandteil der Gattung der komischen Opern (Vaudevilles) dieser Zeit waren die ausführlichen Dialoge. Hans Walter Richter und die Dramaturgin Mareike Wink haben eine neue, konzise Dialogfassung erstellt, die alles Notwendige zum Vorantreiben und zum Verständnis des Geschehens beinhaltet, aber nie ausufernd wird. Dazu kommt ein kurzer, gesprochener Prolog mit keinem Geringeren als Louis XV persönlich (wunderbar majestätisch polternd: Wolfgang Gerold) und dem Marquis de Corcy, dem Jarrett Porter fantastisches Profil verleiht. Seinem angenehm timbrierten Bariton hört man ausnehmend gerne zu. Barnaby Rea gibt einen herrlich eifersüchtigen Schmied Bijou, lässt seine wuchtige Bassstimme mit Vehemenz fliessen, auch als späterer Streikführer Alcindor, der in der Pariser Oper seine Chorkollegen aufwiegelt und für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. Immerhin kriegt er dann in dieser Inszenierung als Lohn den Kaplan Bourdon an seine Seite (mit schöner Bassstimme: Morgan-Andrew King). Hier zeigt sich deutlich, dass Adams Werk nicht bloss ein bedeutungsloser Schwank ist, sondern durchaus satirische, parodistische (der Blick auf die Theaterwelt) und kritische Züge hat und vor allem auch philosophische Fragen aufwirft: Was ist uns lieber, der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach, inwieweit sind wir bereit, persönliches Glück dem Traum nach Karriere und Reichtum zu opfern? Haben Eitelkeit und Egoismus in der Liebesbeziehung Platz? Wird Reue zur Stabilität einer Beziehung führen? Wie weit kann Verzeihen gehen? Dieser Themenkreis prägt vor allem die Beziehung der beiden Hauptpersonen der Oper: Der Postillon Chapelou (später als Saint-Phar Startenor der Pariser Oper) und Madeleine, die sich, nachdem sie ihre Tante beerbt hatte, Madame de Latour nennt. Francesco Demuro ist eine absolute Wucht in der Titelpartie. Mühelos erreicht er strahlend das hohe D, meistert all die vielen Arien und Ensembles, die er zu singen hat mit stupender Bravour und Souveränität. Gerade auch in der Höhe verliert seine agile Tenorstimme nie an Strahlkraft und Schönheit des Klangs. Zudem ist er ein begnadeter Schauspieler. Ava Dodds klangschön und ausgeglichen fliessender Sopran passt wunderbar zu Demuros Stimme. Frau Dodd meistert die Koloratur – Girlanden mit perlender Leichtigkeit, bleibt stets spritzig, präsent und überaus einnehmend. Sie ist (wie es Frauen auch im richtigen Leben meist sind) die reifere, tiefer liebende Seele der beiden, kann aber, wenn ihre Gefühle verletzt werden, durchaus ihre Krallen zeigen und (zusammen mit Rose) eine weibliche, augenzwinkernd fiese Durchtriebenheit an den Tag legen. Die Szene, wo sie den Postillon mit ihren beiden Identitäten als Madeleine und als Madame de Latour verwirrt, legt davon beredtes Zeugnis ab.
Zum runden Gesamteindruck des Abends trugen neben dem erwähnten spielfreudig agierenden und exzellent singenden Chor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Álvaro Corral Matute) und der witzigen Choreografie von Gabriel Wenk natürlich auch das spritzige, klangschöne Spiel des Franfurter Opern- und Museumsorchesters unter Takeshi Moriuchi entscheidend bei. Die Musiker*innen sorgten nicht bloss für mitreissende Rhythmen, sondern gaben auch den poetischen, ruhigen Momenten der Partitur den gebührenden Raum (wer GISELLE kennt, weiss welch wunderbare Meldodien aus der Hand des talentierten Vielschreibers Adolphe Adam fliessen konnten).
Fazit: Einfach wunderbar! Lustig, aber nicht blöd, die Musik süffig, aber nicht banal! Gerne wieder!
Werk und Inhalt:
Adolphe Adam (1803-1856) ist den meisten Musikliebhabern als Komponist der Ballettmusik zu GISELLE ein Begriff. Von seinen Opern kennt man zwar die Namen von LE POSTILLON DE LONJUMEAU mit der bekannten Tenorarie des Titelhelden, die bis zum hohen d aufsteigt, und die Oper SI J'ÉTAIS ROI. Dass er innerhalb seines relativ kurzen Lebens aber isgesamt über 50 Opern und Ballette komponierte, dazu einige Bühnenmusiken, dürft weniger bekannt sein. Bekannt hingegen ist sein wunderschönes Weihnachtslied MINUIT CHRÉTIEN. Adam gründete auch das dritte Opernhaus in Paris, die Opéra-National, die leider in den Wirren der Revolution von 1848 bankrott ging; dabei verlor Adam sein gesamtes Vermögen.
LE POSTILLON DE LONJUMEAU könnte man als eine Art Operette aus der Zeit des “ancien régime” bezeichnen. Die turbulente Handlung verspricht viel Spass, enthält zahlreich Ohrwürmer, allesamt apart instrumentiert und von mitreissender Spritzigkeit.
Handlung: Der singende Postillon Chapelou wird vom Intendanten der königlichen Oper zufällig entdeckt. Er ist so angetan von Chapelous herrlicher Tenorstimme, dass er auf der Stelle ein Angebot unterbreitet, dem Chapelou nicht widerstehen kann, obwohl an dem Tag ausgerechnet sein Hochzeitstag ist. Chapelou verlässt also seine Braut noch vor der Hochzeitsnacht.
Zehn Jahre später: Chapelou ist ein gefeierter Sänger, tritt unter dem Namen St.Phar auf. Seine verlassene Braut Madeleine hat unterdessen eine grosse Erbschaft gemacht und wohnt auf Schloss Latour. Dort trifft Chapelou wieder auf Medeleine, erkennt sie nicht und verliebt sich in sie. Er heiratet Madelein, die mit ihm ein Doppelspiel treibt, indem sie mal als Madeleine, dann wieder als Frau von Latour erscheint. Der Marquis von Corcy hat sich ebenfalls Hoffnungen auf Frau von Latour gemacht. Als er erfährt, dass Chapelou bereits verheiratet war, klagt er Chapelou der Bigamie an. Darauf steht die Todesstrafe. Doch Frau von Latour rettet Chapelou, indem sie den Gendarmen erklärt, es könne doch kein Verbrechen sein, zweimal dieselbe Frau zu heiraten.