Frankfurt, Oper: LA JUIVE; 06.07.2024
Oper in fünf Akten | Musik: Jacques Fromental Halévy | Libretto: Eugène Scribe | Uraufführung: 23. Februar 1835 in Paris | Aufführungen in Frankfurt: 16.6. | 20.6. | 23.6. | 28.6. | 6.7. | 11.7. | 14.7.2024
Kritik:
ZUTIEFST BEWEGENDE GRAND OPÉRA
Es ist schon erstaunlich: Von der Uraufführung 1835 bis in die Zeit der Weimarer Republik gehörte Halévys LA JUIVE zu den meistgespielten Opern. Sogar Richard Wagner besprach diese Oper lobend. Natürlich wurde das Werk (jüdischer Komponist, Juden als Protagonisten) dann von den Nazis von den Spielplänen verbannt - und von diesem Bann hat es sich trotz einiger Rettungsversuche (u.a. an der Wiener Staatsoper und am Opernhaus Zürich) immer noch nicht richtig erholt. Der Weg zurück ins Kernrepertoire blieb ihm weitestgehend versagt. Ein Grund dafür ist sicher, dass es Grand Opéras generell schwer haben, sich zu behaupten (lange Spieldauer, riesiger Aufwand, schwierig zu besetzen). Auch der vor wenigen Jahren z, B. an der Deutschen Oper Berlin versuchten Meyerbeer- Renaissance blieb ein dauerhafter Erfolg versagt.
Die Oper Frankfurt wagte sich nun verdienstvoller Weise an Halévys LA JUIVE (Premiere war am 16. Juni 2024). Die Reaktion des Publikums auf die von mir gestern Abend besuchte, ganz wunderbare Vorstellung im voll besetzten Haus fiel geradezu enthusiastisch aus. Der Oper Frankfurt ist es gelungen, alle Partien mit herausragenden und souverän gestaltenden Sängerdarsteller*innen zu besetzten (dazu gehörte auch eine äusserst kurzfristig notwendig gewordenen Umbesetzung der Partie des Léopold: Gerard Schneider war erkrankt und die Vorstellung wurde durch Francisco Brito gerettet). Der packende Abend wurde aber auch vom hervorragend spielenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester getragen, das unter der Leitung von Henrik Nánási all die prächtige Farbigkeit, die aufwühlende und mitreißende Pracht der Partitur erklingen ließ, sowohl in den auch monströsen klanglichen Ballungen der ungemein effektvollen Massenszenen, als auch in den intimeren Einblicken in die Seele der Protagonisten, wo einzelne Instrumente rührende Phrasen zu interpretieren hatten (z.B. die Englischhörner in der Einleitung zu Éléazars großer Arie im vierten Akt). In den fulminanten und manchmal auch verstörenden (primitiver Mob) großen Chortableaux bewiesen der Chor und der Extrachor der Oper Frankfurt einmal mehr ihre differenziert eingesetzte Klangqualität und auch ihre überragende Spielfreude (Choreinstudierung: Tilman Michael, der ab der nächsten Spielzeit als Chordirektor an die Met in New York wechselt).
Der Erfolg dieser Produktion ist aber nicht zuletzt auch dem Inszenierungsteam rund um Regisseurin Tatjana Gürbaca zu verdanken. Diesem Team ist eine meisterhafte Inszenierung gelungen. Es hat zu Recht schon gar nicht erst versucht, die Grand Opéra Halévys auf ein Kammerspiel zu reduzieren. Diese Große Oper lebt nämlich von den Volksmassen, den Katholiken, aber auch den Juden. Das Einheitsbühnenbild von Klaus Grünberg zeigt einen dreigeschossigen Turm. Nach oben ist er offen, wirkt wie unfertig. Ähnlich wie der Turmbau zu Babel soll er wohl das Streben zu immer Höherem symbolisieren. Doch die Menschen sind in ihrer Beschränktheit und leichten Verführbarkeit nicht zu Höherem oder gar zur Gestaltung einer humaneren Welt in der Lage. So bleibt der Turm unvollendet, führt nach oben bloß in ein beängstigendes schwarzes Loch. Unten und auf den Geschossen herrschen denn auch schon bald babylonische Zustände, die Bühne wird zu einem Ort der Verwirrung, der Regellosigkeit, der Unzucht, der Unterdrückung, der Xenophobie - genau so, wie man sich den Handlungsort der Oper (Konstanz während des Kirchenkonzils von 1414-1418) vorzustellen hat. Allerdings bleiben Gürbaca und ihr Team nicht im Mittelalter haften, sondern verwenden Kostüme und Symbole aus verschiedenen Epochen. Damit gerät die Inszenierung gekonnt zu einer Art dystopischen Mahnmals. Die Kostüme des Konstanzer Volkes von Silke Willrett sind erst in sehr harmonischen Pastelltönen gehalten, auch ziemlich bieder und ärmlich im Schnitt. Der Bürgermeister Ruggiero wirft dem Pöbel Geld zu, um die Konstanzer für seine reaktionären und antisemitischen Bestrebungen gefügig zu machen. Viele tragen nun gelbe Gummihandschuhe (eine Anspielung auf Dürrenmatts DER BESUCH DER ALTEN DAME, wo die Bevölkerung von Güllen sich mit dem Geld teure, gelbe Schuhe kauft?). Im Verlauf des Abends werden die Kostüme immer schriller, glitzernder, gewagter, die Gesichter sind nun immer stärker geschminkt, rund um die Augen ist alles schwarz. Die Welt gerät vollends aus den Fugen,es kommt quasi zu einem über drei Akte angelegten, makaberen Totentanz. Kreuze werden auf die Oberbekleidung gemalt, der Jude Éléazar wird in ein Narrenkostüm gezwängt und es wird ihm eine mit Teufeln verzierte Narrenkappe aufgesetzt. Auch die Jüdin Rachel wird zutiefst gedemütigt: Sie wird von der Prinzessin Eudoxie in ein billiges, obszönes Nuttenkostüm gesteckt, während Eudoxie sich die einfachen Kleider Rachels anzieht, um damit ihren Ehemann Léopold zurückzugewinnn.. Das ist wie alles an diesem Abend mit stupender Virtuosität in Szene gesetzt. Gürbacas Führung der Chormassen ist geradezu exemplarisch: Der Chor wird in keinem Moment als amorphe Masse eingesetzt, sondern da geht einiges an individueller Aktion ab. Selbstredend führt Tatjana Gürbaca diese genaue Arbeit in der Charakterisierung der Protagonisten fort: Vom ehrgeizig servilen, aber auch brutalen Begleiter des Fürsten Léopold, Albert (eindrücklich dargestellt und gesungen von Danylo Matviienko), über den boshaften Bürgermeister Ruggiero (meisterhaft verkörpert von einem der wandlungsfähigsten Sänger des Frankfurter Ensembles: Sebastian Geyer), bis zu den fünf Hauptpersonen. Éléazar ist der starrköpfige, stolze Jude, verfolgt und ausgegrenzt, man kann seine Rachegefühle verstehen. Er ist aber auch der liebende Ziehvater seiner als Christin geborenen Tochter, die er einst aus dem Feuer des Hauses von Brogni gerettet hatte. Seinem Gefühlschaos gibt John Osborn in der großen Szene des vierten Aktes innigsten Ausdruck. Osborn verfügt über die notwendige Kraft, die Spannung und die stimmliche Agilität, um dieser so anspruchsvollen Partie gerecht zu werden. Hochklassig! In keinem Moment hört man gequälte oder gequetschte Töne (wie bei einem berühmten Rollenvorgänger z. B. in Zürich). Osborns Gesang strahlt Souveränität und Stärke aus, neben wenigen Einblicken in die eben doch vorhandene Verletzlichkeit dieses komplexen Charakters. Als Rachel leistet Ambur Braid ebenso Gewaltiges: Die stimmliche Fülle ihres dunklen Soprans und ihr engagiertes Spiel machen sie eindeutig zur ganz großen Sympathieträgerin. Ihr Märtyrertod geht unter die Haut - umso mehr, als Tatjana Gürbaca diesen mit einem veritablen Schockeffekt in Szene setzt: Nachdem Brogni zum wiederholten Male Éléazar nach dem Aufenthaltsort seiner eigenen Tochter gefragt hat, zeigt Éléazar zum schwarzen Himmel hoch, aus welchem der Körper Rachels zur Erde stürzt. Was für ein grausamer Gänsehaut Moment. Simon Lim ist ein bassgewaltiger Kardinal Brogni und bleibt (wie alle anderen der Protagonisten) der anspruchsvollen Tessitura nichts an überzeugender Kraft schuldig. Seine bombensichere Tiefe ist bis in die Extreme meisterhaft intoniert und ausdrucksstark. Monika Buczkowska als Prinzessin Eudoxie verkörpert die zweite Sopranrolle der Oper. Ihre Stimme ist heller gefärbt als diejenige von Ambur Braid. Zudem würzt Buczkowska ihren virtuosen, koloraturverzierten und lockend verführerischen Gesang mit einer kleinen Beimischung von spitzer Schärfe, was den berechnenden Charakter dieser Frau aus reichem Hause perfekt unterstreicht. Mit eiskaltem Kalkül schreckt sie nicht davor zurück, ihre Kinder als Waffe der Erpressung einzusetzen, um Léopold zurückzugewinnen, um Rachel zum Widerruf der Anklage gegen Léopold zu bewegen. Gürbaca hat auch hier dieses Familienleben mit enormer Genauigkeit gezeichnet, sogar jedes der beiden Kinder erhielt seine eigene Persönlichkeit. Großartig! Als Léopold sprang Francisco Brito nur wenige Stunden vor Vorstellungsbeginn ein. Das ist kaum zu fassen. Zwar hat der renommierte Rossini- und Donizetti- Spezialist in seiner Karriere die Partie bereits gesungen (in Sydney z. B.), aber das war auch nicht gerade gestern. Zudem gibt es - wie oft bei Opern solchen Ausmaßes - Fassungen mit unterschiedlichen Strichen. Francisco Brito sang einen wunderbaren Léopold: Sein heller Tenor bildet einen wirkungsvollen Gegensatz zu Osborns leicht schwererer Tenorstimme und beglückt mit einem einnehmenden Timbre. Trotz des dermaßen kurzfristigen Einspringens singt er die Partie nicht etwa von der Seite her und mit Noten, sondern agiert völlig natürlich auf der Bühne, wie wenn er bereits im Probenprozess mit dabei gewesen wäre. Chapeau!!!
Es gäbe noch so viel an Gelungenem, an psychologischen Einblicken in die Seelen, vor allem der beiden Frauen, zu berichten, auch davon, wie die Klippe der damals obligaten Balletteinlage im dritten Akt gekonnt mittels eines Videos von Nadja Krüger über Léopolds menschenverachtende “Heldentaten” - gemeint ist die Schlacht gegen die Hussiten und die Enthauptung von Jan Hus - umschifft wurde. Am besten, man schaut und hört sich das selber an und lässt sich mitreißen in diese Spirale von Ausgrenzung und Unversöhnlichkeit, die wohl im Hier und Jetzt leider mindestens so aktuell ist, wie zur Zeit des Konstanzer Konzils oder zur Entstehungszeit der Oper.
Werk:
Die Juli-Revolution im Jahre 1830 in Paris, die den endgültigen Sturz der Bourbonen und die erneute Machtergreifung des Bürgertums zur Folge hatte, blieb nicht ohne Auswirkungen auf Musik und Kunst. In ihrem Sog entstanden Werke, die sich kritisch mit der Rolle der katholischen Kirche im Staat und ihrem abstossenden Umgang mit Minderheiten auseinander setzten. Dazu gehören u.a. Meyerbeers „Hugenotten“ und Halévys „Jüdin“. Gustav Mahler zählte die einst so erfolgreiche Oper zu dem „Höchsten, was je geschaffen worden ist“.
LA JUIVE ist unbestreitbar ein Haupt- und Meisterwerk des 19. Jahrhunderts!
Synopsis:
Die Handlung spielt im Mittelalter in Konstanz. Der jüdische Goldschmied Éléazar und seine Tochter Rachel werden vom christlichen Mob immer wieder bedrängt; von geistlichen und weltlichen Herrschern wegen Ketzerei und Rassenschande angeklagt und verurteilt. Der Kardinal bietet Éléazar an, Rachel zu retten, wenn er und seine Tochter zum Christentum konvertieren. Doch beide nehmen lieber den Märtyrertod in Kauf. Im Augenblick der Hinrichtung Rachels enthüllt Éléazar, dass diese in Wirklichkeit des Kardinals verloren geglaubte Tochter war. Während der Kardinal zusammenbricht, geht Éléazar triumphierend in den Tod.
Musikalische Höhepunkte:
Brognis Plädoyer Si la rigueur et la vengence, 1. Akt
Léopolds Serenade Loin de son amie, 1. Akt
Rachels Romanze Il va venir, 2. Akt
Boléro der Eudoxie Mon doux seigneur, 3. Akt
Duette Rachel – Eudoxie, 3. und 4. Akt
Éléazars Arie Rachel, quand du Seigneur, 4. Akt