Frankfurt, Oper: DIE ERSTEN MENSCHEN, 15.07.2023
Oper in zwei Akten | Musik: Rudi Stephan | Libretto: nach dem gleichnamigen erotischen Mysterium von Otto Borngräber | Uraufführung: 1. Juli 1920 in Frankfurt | Aufführungen in Frankfurt: 9.7. | 12.7. | 15.7. | 17.7. | 20.7.2023
Kritik:
DIE ERSTEN MENSCHEN - DIE LETZTEN MENSCHEN?
Rudi Stephan hatte für seine Oper DIE ERSTEN MENSCHEN Otto Borngräbers pathetisch aufgeblasenen Text des "erotischen Mysteriums" wortwörtlich übernommen (übernehmen müssen). Einzig einige gar misogyne Passagen hatte er weglassen dürfen, welche Borngräber wahrscheinlich unter dem Einfluss des damals populären Machwerks GESCHLECHT UND GESELLSCHAFT aus der Feder Otto Weiningers übernommen hatte. Nichtsdestotrotz muss uns dieses Drama des Pazifisten, Monisten, Religionskritikers und Vegetariers Borngräber (der tragischerweise im Tessin einer Pilzvergiftung erlag) auch heute noch interessieren. Borngräber hatte nämlich erkannt, dass die Grundkonflikte der menschlichen Existenz bereits in der Keimzelle der Kleinfamilie angelegt sind - wenn schon hier keine Lösung gefunden werden kann, wie soll das dann erst im universalen Bereich möglich sein? Tobias Kratzer, der Regisseur der Produktion, sagt im Programmheft: "Wie soll eine Welt jemals glücklich, friedvoll, positiv beherrschbar werden und auf völkerrechtlicher Ebene zu einem geregelten Miteinander finden, wenn es schon im Mikrokosmos der Familie nicht klappt, vier Personen ohne Konflikt an einen Abendbrottisch zu bringen?"
Kratzer zeigt seine überwältigenden Produktion in Frankfurt, dem Ort der Uraufführung vor 103 Jahren. Bei ihm lebt die "biblische Urfamilie" in einem wohlausgestatteten Bunker, mit Einbauküche, Stromaggregat, Lebensmittelvorräten für mehrere Jahre. Denn das Leben auf der Erde muss unmöglich geworden sein; wenn Chabel oder Kajin mal durch die Ausstiegsröhre nach oben gelangen wollen, müssen sie Schutzanzüge und Gasmasken tragen. Aber ganz im Sinne der heutigen Prepper- Szene (prepared) hat sich die Familie der durch Krieg oder Umweltkatastrophe ausgelösten Apokalypse widersetzt, hat einen Weg des Überlebens gefunden. Die vier Charaktere Adahm (er ist nüchtern auf die Sachlichkeit des Überlebens durch harte Arbeit ausgerichtet), Chawa (sie ist naturverbunden, sucht körperliche Nähe, Sinnlichkeit, Erotik und möchte weitere Kinder), Chabel (er sublimiert seine erwachende Sexualität in religiösen Offenbarungen) und Kajin (ganz triebgesteuert hat er nur ein Ziel: die sexuelle Vereinigung mit einer Frau) haben sich in der Kernfamilie auseinandergelebt, zu lange auf zu engem Raum. Die Risse innerhalb dieses Haushalts verlaufen nicht nur zwischen den Brüder Kajin und Chabel, sondern werden besonders auch zwischen den Geschlechtern beinahe physisch greifbar, die Entfremdung zwischen Mann und Frau, das nachlassende oder gar inexistente körperliche Begehren droht die Beziehung zu zerreissen. Im ersten Akt gibt es eine Szene, in der Adahm plötzlich nostalgische Gefühle zeigt: Er holt einen alten Filmprojektor hervor und lässt einen mit Super 8 Kamera aufgenommenen Familienfilm laufen. Da sehen wir die glückliche Familie, die sie einst waren, oberer Mittelstand, Garten, aufblasbares Planschbecken, in dem sich die beiden Jungen friedlich vergnügen. Der Himmel färbt sich im Film plötzlich rot, Rauch, Wolken, Atompilz? Dann bricht der Film ab. Kratzer zeigt mit eindringlicher Intensität der Personenführung, wie sich die Konflikte innerhalb dieser komplett auf sich selbst gestellten Familie zuspitzen. Zu Beginn des zweiten Aktes befinden wir uns nun oberhalb des Bunkers auf der Erde, im Garten des Einfamilienhauses. Vom Haus sind nur noch der Kamin und die Metallrahmen der Eingangstüre übriggeblieben, der Rest ist verbrannte Erde. Das Plastikplanschbecken jedoch hat die Feuersbrunst erstaunlicherweise recht unbeschadet überstanden, nur die Luft ist raus. Der Volvo-Kombi steht ausgebrannt auf der riesigen Drehbühne (entworfen von Rainer Sellmaier, der auch für die Kostüme - 80er/90er Jahre - verantwortlich zeigt), die für die nun kommende brachiale Tragik des Familienzwists sinnfällige Spielorte bietet. Zuerst für Chawa, welche in Chabel den jungen Adahm sieht, den sie einst so begehrt hatte. Zusammen mit Chabel steigert sie sich in einen Taumel, der weit über religiöse Begeisterung hinaus geht. Kajin findet unterdessen im Volvo Pornohefte (die auch nicht verbrannt sind - und darauf hindeuten, dass es in der Ehe zwischen Adahm und Chawa wohl schon länger gekrieselt hatte ...) und beginnt zu masturbieren. Chabel kommt hinzu, die Brüder scheinen in einem langen, expressiven Dialog zueinander zu finden, mit Celesta und Glockenspiel untermalt zeichnet sich kurz eine friedliche Utopie ab, doch als Kajin kurz danach seine Mutter Chawa mit ihrem Sohn Chabel, also seinem Bruder, in körperlicher Vereinigung im Fond des Kombis entdeckt, brennen seine Sicherungen durch und er erschlägt Chabel. Ein Brudermord also nicht aus Neid über die Annahme des Opfers durch Gott (wie in der Bibel), sondern aus sexueller Eifersucht. In einer ergreifenden Offenbarungsszene schilder Kajin den Riesenwurm (gemeint ist wohl sein Penis), der in ihm nagt, sein ganzes Denken und Streben beherrscht. Er sieht in einer Vision nur noch Ströme von Blut und Menschenknochen. Als Ausweg öffnet sich für ihn nur noch der Weg zur Selbstkastration, da weit und breit kein anderes weibliches Wesen ausser seiner Mutter in Sicht ist. Adahm scheint über das Geschehen weitgehend unberührt, immerhin verspricht er Chawa, dass der Stern (als den Chawa Chabel bezeichnet) wiederkommen werde, sie also weitere Kinder kriegen werden. Und wie um seine Prophezeiung wahr zu machen, klettern aus der verbrannten Erde weitere Menschen (wohl Prepper allesamt) und mit Adahms Auf in den Tag in gleissenden E-Dur Klängen schliesst das Werk in einer versöhnlichen, nicht unumstrittenen, dystopischen Grundstimmung.
ATMOSPHÄRISCHE KLANGBLÖCKE
Die vier Familienmitglieder haben nicht bloss ein gerüttelt Mass an schwierig zu memorierendem, verquast symbolistischem Text zu transportieren, sie müssen auch gegen ein gewaltiges Orchester ansingen und diffizile, zum Teil sehr exaltierte Gesangslinien interpretieren. Alle vier machen das mit herausragender Darstellungs- und Gesangskunst, erwecken die Figuren zu prallem Leben. Der Bassist Andreas Bauer Kanabas singt den Adahm mit überragender Textverständlichkeit, wunderbar warmem, sonorem Klang. Ambur Braid erfüllt die Partie der Chawa mit Leidenschaft und gekonnt gesetzten, hochdramatischen Phrasen. Iain MacNeal zeigt einen erschütternden Kajin, wild und doch verletzlich, aggressiv und dann doch wieder nachdenklich und mit verblüffender Hellsichtigkeit die Hohlheit der religiösen Verzückung des Rests der Familie - und seinen Atheismus - offenlegend. Souverän meistert er seine schwierigen, gezackten Gesangslinien. Ian Koziaras Tenor verfügt durch sein helles Timbre über die Stimmfarbe, welche es für den religiös verblendeten Chabel braucht. Alle vier Künstler*innen verfügen neben dem musikalischen Können über die empathischen Fähigkeiten, um in die komlexen Charaktere ihrer Rollen glaubwürdig eintauchen zu können. Das ist - gerade in Tobias Kratzers intelligenter, nachvollziehbarer Lesart des Werks - von entscheidender Bedingung für einen exzellenten, aufwühlenden und manchmal vielleicht auch leicht verstörenden Opernabend. Theater muss und soll bewegen!
Von ebensolcher Bedeutung für die immense Wirkung dieser grandiosen Oper ist die Sprache des Orchesters. In spätromantischer Grossformation spielt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester Rudi Stephans schillernde Partitur, lässt die Klänge und Akkordschichtungen orgiastisch aufschäumen und entwickelt einen farbenreichen Klangrausch, dem sich keine und keiner entziehen kann. Noch GMD Sebastian Weigle (es ist dies seine letzte Neuproduktion nach 15 Jahren als musikalischer Chef in Frankfurt) ist selbstredend gerade für dieses Repertoire der allerbeste Anwalt für den Komponisten Stephan, der leider viel zu früh aus dem Leben gerissen worden war. Man lauscht mit offenen Ohren, möchte vieles mehrmals und vertiefter geniessen können, sich weniger auf den Text konzentrieren müssen als bei dieser ersten szenischen Begegnung mit dem - im Gegensatz zur Aufführung letzte Saison in Amsterdam - hier in Frankfurt ungekürzt gespielten Werk. Zur Vertiefung wird sich zum Glück bald die Gelegenheit bieten, denn das Label NAXOS hat die gestrige Aufführung mitgeschnitten. Aber besser vorher noch die beiden verbleibenden szenischen Aufführungen in Frankfurt besuchen. Die stehenden Ovationen gestern sind Beweis genug, dass Musiktheater auf diesem musikalischen und szenischen Niveau alle Altersschichten (empfohlen ab 16 Jahren) anzusprechen vermag!
Inhalt:
Das Drama Borngräbers, das als Grundlage für Rudi Stephans Oper diente, fusst auf der alttestamentarischen Episode aus der Bibel, nach der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies.
Adahm ist alt geworden, seine sexuelle Lust ist erlahmt, er sucht nur noch die Existenz zu sichern. Seine Frau Chawa hingegen sehnt sich zurück nach dem Paradies (auch dem erotischen Garten Eden), als noch keine bürgerlichen Moralbegriffe galten. Kajin ist auch getrieben von sexueller Unruhe, kein Wunder, ausser der eigenen Familie ist da niemand, er braucht dringend eine Frau. Auch sein Bruder Chabel ist auf der Suche, aber er sublimiert sein sexeulles Begehren in der Vergeistigung, entdeckt die Religion für sich. Adahm hofft, dass seine Frau und Kajin ebenfalls diesen Weg beschreiten werden. Kajin erwacht aus einem erotischen Traum, er stürzt sich auf Chawa. Diese weist ihren Sohn entsetzt ab. Adahm ermahnt Kajin, seine Erlösung bei Gott zu suchen, genau wie sein Bruder Chabel es mache. Kajin flieht wütend und sexuell frustriert in den Wald. Chabel, Chawa und Adahm opfern ein Lamm.
Zu Beginn des zweiten Aktes will Chawa ihren Mann noch einmal leidenschaftlich spüren, so wie in ihrer gemeinsamen Zeit im Paradies. Sie erblickt Chabel im Mondschein, der seinem Vater täuschend ähnlich sieht. Beide spüren ein Verlangen nacheinander, doch in diesem Moment kehrt Kajin aus dem Wald zurück. Chawa flieht, Chabel sucht seinen Bruder zu beruhigen. Kajin sucht Chawa, doch Chabel findet sie schliesslich und Mutter und Sohn klammern sich in Umarmung aneinander. Kajin kommt dazu und erschlägt seinen Bruder in rasender Wut und Eifersucht. Adahm kommt hinzu und befiehlt Kajin, seinen Bruder als Strafe auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, und danach jagt er ihn in die Welt hinaus. Chawa glaubt nach dem Mord an Chabel alles verloren zu haben, doch Adahm führt seine Frau mit Verheissungen auf Nachkommenschaft dem aufgehenden Tag entgegen.
Werk:
Rudi Stephan (1887-1915) galt als eines der vielversprechendsten Talente seiner Zeit. Seine Musik fusst natürlich auf dem Einfluss Wagners und der Spätromantik, doch entwickelte er daraus seinen eigenen, überaus üppigen, die Tonalität ausreizenden und stellenweise überwindenen, sich oftmals rauschhaft aufbäumenden Klang. Im Alter von nur 28 Jahren wurde Stephan 1915 im ersten Weltkrieg in der Nähe von Tarnopol an der Front erschossen. Seine 1914 fertiggestellte Oper DIE ERSTEN MENSCHEN wurde erst fünf Jahre nach seinem Tod in Frankfurt uraufgeführt. 1945 verbrannte bei einem Luftangriff zudem der gesamte Nachlass des jungen Komponisten, so dass nur die bis dahin gedruckten Werke Stephans der Nachwelt erhalten blieben. Leider erlitt die einzige Oper Stephans das Schicksal vieler Werke aus dieser Zeit (Schreker, Korngold, Zemlinsky u.a.m.) und geriet nach dem zweiten Weltkrieg leider in Vergessenheit. Langsam wagen sich die Bühnen zum Glück wieder an dieses Repertoire und stellen die Werke zur Diskussion. Gut so!
Der Schriftsteller Otto Borngräber (1874-1916), auf dessen gleichnamigem erotischen Mysterium die Oper fusst, studierte an diversen deutschen Universitäten Theologie und Philosphie, wandte sich nach seiner kurzen Ehe den Siedlern auf dem Monte Verità bei Ascona zu und starb ebenfalls recht jung in Lugano. DIE ERSTEN MENSCHEN verfasste er 1908, bald darauf wurde das Drama jedoch in Bayern verboten.