Dresden: NOTRE DAME, 21.04.2010
Romantische Oper in zwei Akten |
Musik: Franz Schmidt |
Libretto: Leopold Wilk und Franz Schmidt, nach dem Roman von Victor Hugo |
Uraufführung: 1. April 1914 in Wien
Kritik: (besuchte Aufführung: 21. April 2010)
Vollmundig schreibt Dirigent Gerd Albrecht im (ansonsten hervorragend und informativ gestalteten) Programmheft zu NOTRE DAME von der “Verpflichtung, das Fragen stellen nicht zu verlernen“, Werke jenseits der gegenwärtigen Eventkultur auf ihre heutige Bühnentauglichkeit zu hinterfragen, lobt das Werk Schmidts über den grünen Klee - und überlässt es dann doch nicht dem Publikum, über das Werk zu richten, sondern kürzt die Partitur eigenmächtig um gut 25% der Spieldauer. Selbstverständlich geschieht das in der hehren Absicht, die Qualitäten der Oper in dieser amputierten Version herauszuarbeiten. Doch das schießt am Ziel vorbei: Entweder man glaubt an Schmidts NOTRE DAME, dann aber bitte vollständig - oder man lässt es bleiben. Sonst kommen wir zu einer Beliebigkeit im Umgang mit Kompositionen, die kürzlich schon in Berlin mit einem verstümmelten RIENZI Urständ feierte. Persönlich finde ich auch gewisse Passagen in PARSIFAL, dem RING oder Mahlers 7. Sinfonie zu lang geraten, käme aber nie auf den Gedanken, davon nur Highlights-Aufführungen zu fordern. So lobenswert die Ausgrabung ist, die Chance auf eine Befragung des Werks wurde mit diesen Kürzungen vertan.
Was man jedoch in der Semperoper zu hören bekam, war vor allem ein orchestrales Ereignis. Albrecht und die Sächsische Staatskapelle brachten die spätromantische, üppig und farbenprächtig instrumentierte Partitur aufs Schönste zum Klingen. Nicht nur der satte Streicherklang im zügig und jenseits allen Kitsches dirigierten Intermezzo überzeugte; das an allen Pulten herausragend besetzte Orchester schwelgte regelrecht in Schmidts Klangmagie. Manchmal überdeckte es gar die Stimmen der Protagonisten etwas zu stark. Ob dies mit meinen Parkettplatz oder den zu leise singenden Sängern zusammenhängt, vermag ich nicht zu beurteilen. Mit sauber geführtem Sopran singt Camilla Nylund die Esmeralda. Sie vermeidet trotz des wuchtig aufspielenden Orchesters das Forcieren, bleibt stimmlich ausgeglichen und überzeugt sowohl in den deklamatorischen als auch in den operettenhaften Passagen (jawohl, Schmidt hat seinen Johann Strauss wohl gut gekannt … ). Sie wurde von Regisseur Günter Krämer ein wenig einfallslos als männerverzehrender, platinblonder Vamp á la Monroe gezeichnet. Zu Beginn sitzt sie auf dem elektrischen Stuhl, es ist 5 vor 12, sie erwartet ihre Hinrichtung. Ihr Leben als Projektionsfläche männlicher Begierden (Hure und Heilige … was denn sonst) läuft nochmals vor ihren Augen ab, sie schält sich aus dem orangen Gefängnisoverall, eine knallrote Korsage wird darunter sichtbar (Kostüme: Falk Bauer). Die Bühne (Herbert Schäfer) stellt in PopArt Manier die Hinrichtungskammer dar, mit knallgelben und türkis gestreiften Wänden. Langsam fährt diese Kammer nach hinten, auf der schwarzen Vorderbühne entwickelt sich das tragische Spiel, tauchen die Männer auf. Robert Gambill (eine luxuriöse, heldentenorale Besetzung für die kleine Rolle) als Phoebus klingt in der Höhe stellenweise etwas angestrengt und gaumig und auch darstellerisch nimmt man ihm sein Begehren nicht ganz ab. Oliver Ringelhahn ist mit seinem leichteren Tenor ein exzellenter Gringoire und glänzt zudem mit akrobatischen Einlagen. Jan-Hendrik Rootering gleicht als Quasimodo eher einem verhärmten Buchhalter als dem missgestalteten Glöckner. Es scheint, man wollte auf Teufel komm raus jeglichen Vergleich mit den filmischen Vorgängern Anthony Quinn und Charles Laughton aus dem Weg gehen. So bleibt Rootering trotz hervorragender Diktion in der Rolle etwas blass. Der Akzent liegt eindeutig auf dem Archidiakon: Markus Butter begeistert mit seinem geschmeidigen, tragfähigen Bariton, seiner Phrasierungskunst und der ebenfalls vortrefflichen Diktion. Man kann gut nachvollziehen, dass sich dieser blendend aussehende Kirchenmann wegen seiner sexuellen Gelüste ständig selbst kasteien muss und immer wieder seinen blutüberströmten Oberkörper entblößen darf. Dass er sich auch noch die Scherben der von Quasimodo zerschmetterten Madonnenstatue in den Schritt drücken muss, ist dann doch geschmacklich eher fragwürdig. Nach der Pause sieht man riesige Buchstaben auf der Bühne N O T R E D A M E. Außerdem deuten die große Madonnenstatue und einige Kerzen an, dass wir uns in der Kathedrale befinden. Esmeralda flüchtet vor der Lynchjustiz natürlich auf das E. Wenn Quasimodo die Kathedrale einstürzen lassen will, fahren die Buchstaben ein wenig nach oben. Na ja, man wollte halt auf keinen Fall Disney oder Hollywood oder dem neuen Musical nacheifern - doch so hat man es sich hier ein wenig gar einfach und billig gemacht.
Esmeralda wird hingerichtet, der Mob (hervorragend und klanggewaltig singend der Chor der Sächsischen Staatsoper) triumphiert.
Fazit:
Schmidts Oper verdient aufgeführt zu werden - aber bitte nicht so stark gekürzt. Die Sächsische Staatskapelle spielt phänomenal, die Inszenierung überzeugt nicht ganz. Markus Butter als Archidiakon ist der Star des Abends.
Inhalt:
Gleich vier Männer sind der schönen Zigeunerin verfallen und bestimmen auch ihr Schicksal: Ihr Ehemann Gringoire, der von ihr jedoch keine körperliche Liebe erfahren darf, der Offizier Phoebus, der sie zu einem geheimen Rendez-vous überredet und dabei von Gringoire angeschossen wird, der Archidiakon der Kathedrale Notre-Dame, welcher als dem Zölibat unterworfener Priester seine Gefühle und fleischlichen Begierden nicht zulassen kann und darf und Quasimodo, der körperlich entstellte Glöckner von Notre-Dame, für den die schöne Esmeralda sowieso unerreichbar scheint.. Der Archidiakon liefert Esmeralda aus Hassliebe und Selbstschutz für den Mord an Phoebus an den Henker aus, sie wird zum Tode verurteilt. Da Gringoire Selbstmord begangen hat, steht kein Entlastungszeuge zur Verfügung. Quasimodo versucht Esmeralda Kirchenasyl zu gewähren, doch der Archidiakon zwingt ihn, sie herauszugeben. Die schaulustige und sensationsgeile Menge bejubelt ihre Hinrichtung. Quasimodo tötet den Archidiakon.
Werk:
Franz Schmidt (1874-1939), musikalisches Wunderkind, mit 22 Jahren bereits Mitglied der Wiener Philharmoniker als Cellist, Musikpädagoge, Direktor der “Gegenwärtigen Universität für Musik“, Solist, Kammermusiker, Dirigent, Komponist. Gemobbt bei den Philharmonikern durch den Konzertmeister und Schwager Gustav Mahlers, Arnold Rosé. Deshalb kam Schmidts Oper NOTRE DAME, obwohl bereits 1906 vollendet, erst zur Uraufführung, als Mahler nicht mehr Hofoperndirektor war. Die Uraufführung war ein großer Erfolg, doch dann kam der erste Weltkrieg, die Neue Wiener Schule (Berg, Webern, Schönberg), der zweite Weltkrieg. Schmidts Werk geriet zunehmend in Vergessenheit, nur das Intermezzo aus dem ersten Akt konnte sich als Wunschkonzert-Dauerbrenner halten. Zudem warf man Schmidts Oper das schwache Libretto und den zu sinfonisch gehaltenen Kompositionsstil vor. Grosse Teile der Oper schien er vertont zu haben, ohne im Besitz des Textes zu sein. Weite Teile des Werks sind von - allerdings äußerst kunstvoll instrumentierten - orchestralen Nummern geprägt, der Gesang verharrt deklamatorisch, dramatische vokale Zuspitzungen sind selten, die Ekstase kommt eindeutig aus dem Graben - aber wie!!! Spannend jedoch die beinahe oratorienhaft anmutenden, wuchtigen Choreinschübe und die ländlerhafte (als Hommage an oder Schmeichelei für Gustav Mahler?) Begleitung der Liebesszene Esmeralda-Phoebus.