CD-Besprechung: DER FERNE KLANG, 26.03.2023
Der ferne Klang | Orchestral works and songs by Franz Schreker | Konzerthausorchester Berlin | Christoph Eschenbach | Chen Reiss | Matthias Goerne | Deutsche Grammophon | März 2023
Kritik:
Es ist ein Trauerspiel: Selbst beinahe 80 Jahre nach der Gewaltherrschaft der Nazionalsozialisten in Deutschland, welche Franz Schreker aller seiner Ämter enthoben und seine Werke als "entartet" bezeichnet hatten (nur weil er einen jüdischen Vater hatte), sind seine Opern immer noch eher Raritäten auf den Spielplänen der Opernhäuser und sein orchestrales Oeuvre sowie seine Lieder und die Kammermusik sind in Randbezirken des gängigen Repertoires hängen geblieben. Dabei hatten seine Opern in den 1920er Jahren teilweise höhere Aufführungszahlen erreicht als beispielsweise diejenigen seines Zeitgenossen Richard Strauss. Doch es gibt noch Hoffnung: Opern wie DER FERNE KLANG oder DIE GEZEICHNETEN erfuhren in jüngster Vergangenheit Jubelstürme und begeisterte Aufnahmen in Frankfurt, Zürich, Stuttgart oder Berlin. Immerhin.
So kommt nun die neue Doppel-CD des Konzerthausorchesters Berlin unter der Leitung seines Chefdirigenten Christoph Eschenbach gerade zur rechten Zeit. Diese beiden CDs geraten zu einem überwältigenden Plädoyer für den Komponisten Schreker, den genialen Orchestrierungsmagier, den Balanceartisten zwischen spätromantischer Tradition und Moderne, ein Komponist, der die Tonalität an ihre Grenzen führte und trotzdem Süffigkeit und Rezeptionsleichtigkeit für die Hörer garantierte.
Am Beginn der ersten CD dieses Doppelalbums steht das grosse Interlude, genannt NACHTSTÜCK, aus Schrekers Erfolgsoper DER FERNE KLANG, dieser autobiographisch angehauchten, rastlosen Suche eines Komponisten nach dem idealen Klang. Das Konzerthausorchester Berlin und Christoph Eschenbach loten das mystische Schweben dieser entrückt hereinwehenden "fernen Klänge" farbenreich aus, heben das immer wieder, auch unterschwellig aufschimmernden Hauptthema sorgfältig hervor, lassen organisch aufgebaute Steigerungen ohne allzu dicken Sound mit sehrender Wucht zu Herzen gehen. Die transparente Balance des Klangs ermöglicht Einblicke in die Orchestrierungskunst Schrekers.
Mit wunderbarer Fragilität und zart musiziert erklingt danach das Orchesterstück VALSE LENTE.
Eine Preziose stellt Schrekers KAMMERSYMPHONIE dar. Was für ein wunderbares Werk, entstanden etwa zeitgleich wie die Oper DER FERNE KLANG. Und wenn man genau hinhorcht, hört man auch in dieser Sinfonie den "fernen Klang" feenhaft aus der Ferne hereinschweben. Die Instrumentation ist nie zu dick oder zu bombastisch, und Eschenbach und das an allen Pulten ausgezeichnet disponierte Konzerthausorchester Berlin lassen diese hörenswerte Sinfonie zu einem packenden Ereignis werden. Von den effektvollen Emphasen des ersten Satzes über das nie überhastet interpretierte Vivace im Scherzo, vom kompakten dritten Satz, mit der prominenten Pauke zum entrückten Finale, voll lichter Intensität, mit schimmerndem Streicherteppich und schönen Farbtupfern der Holzbläser entsteht ein Klangkosmos, den man gerne öfter mal im Konzertsaal erleben möchte.
Den Schlussteil der ersten CD bilden die beiden Lieder VOM EWIGEN LEBEN, basierend auf zwei Gedichten von Walt Whitman. Die Sopranistin Chen Reiss interpretiert sie mit silbernem Glöckchenklang, ihre feine Intonation integriert sich aufs Schönste in den reichaltig instrumentierten Orchesterklang, der mit Celesta, Xylophon, Harfe und Flöte so stimmungsvoll angereichert ist - und eben auch wieder diesen "fernen Klang" heraufbeschwört, welcher dem Doppelalbum seinen Titel gab. Chen Reiss' Tongebung ist besonders im zweiten Lied ganz exquisit, das "gekräuselte Gras" evoziert sie fantastisch und tiefsinnig.
Mit der Komposition FÜNF GESÄNGE mit einem Text aus der Märchensammlung AUS TAUSENDUNDEINER NACHT und vier lyrischen Texten der symbolistischen Dichterin Edith Ronsberger beginnt die zweite CD. Die Texte der Lieder handeln von Trennung, Sehnen, Verzweiflung, Hoffnung und Erlösung im Tod. Der Bariton Matthias Goerne interpretiert sie mit wundervoller Stimmgebung, gekonnter Voix mixte in der Höhe, grossartiger Ausdruckskraft und exemplarischer Phrasierung im Zusammenfügen von Text und Musik. Trotzdem tut man gut daran, die Texte durch vorheriges Lesen zu verinnerlichen oder wenigsten beim Hören mitzulesen, das Miterleben wird dadurch noch intensiver. Gerade im letzten Lied ist Goerne zutiefst ergreifend mit seiner Interpretation. Eschenbach und das Konzerthausorchester Berlin steuern die empfindsame und wo geboten düstere Klangmagie zu diesen fünf Kunstliedern bei. Grossartig.
Es folgen nun noch zwei Suiten, die KLEINE SUITE für Kammerorchester, eine Auftragskomposition für den Rundfunk (1928), und die ROMANTISCHE SUITE, op. 14, eine Komposition Schrekers aus dem Jahr 1903. Während die KLEINE SUITE in einem klaren, dem neoklassizistischen Klangbild der Moderne entprechenden Duktus gehalten ist, mit Transparenz in den solistischen Passagen, Verspieltheit und Klarheit aufwartet, taucht die ROMANTISCHE SUITE nochmals ins spätromantisch, leicht Melancholische ein, mit viel aufwühlender, auch pastoser Emphase im ersten Satz, exzellent ausgeführten Streicherfiguren im zweiten, fliessender Bewegung ohne Rührseligkeit im dritten und tänzerischer Akkuratesse (mit luftigen Holzbläsern) und kurzer Kulmination mit fulminantem Schluss im letzten Satz.
Fazit: Für Liebhaber von Schrekers Musik UND für solche, die mit seiner genialen Kompositionsweise noch nicht so vertraut sind ein MUSS!
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