Berlin, Staatsballett: TSCHAIKOWSKY, 09.02.2013
Ballett in zwei Akten | Musik: Peter I: Tschaikowsky | Choreographie: Boris Eifman | Uraufführung: 12. September 1993 in St.Petersburg | Aufführungen in Berlin: 9.2. | 224.4. | 26.4. | 27.4. | 3.5. | 11.5. | 20.5.2013
Kritik:
Künstlerdramen gibt es unzählige, dasjenige von Piotr Iljiitsch Tschaikowsky ist besonders beklemmend. Ein Komponist, dem der Erfolg wahrlich nicht in die Wiege gelegt wurde – und als er ihn sich erarbeitet hatte, zerbrach er am Dilemma zwischen Schein und Sein, wurde aufgerieben von seinem unbändigen Streben nach Anerkennung und seiner zwanghaft unterdrückten Homosexualität (deren offenes Ausleben hätte im zaristischen Russland des 19.Jahrhunderts sowohl seinen gesellschaftlichen wie auch seinen finanziellen Ruin bedeutet). Ein Mensch, der nie frei sein konnte, finanziell abhängig war von einer rätselhaften - vielleicht gar neurotischen – Gönnerin (Nadeshda von Meck), mit welcher ihn wahrscheinlich eine platonische Hass-Liebe verband, sich in eine desaströse Ehe (mit Antonina) flüchtete, sein sich hingezogen Fühlen zum eigenen Geschlecht in einer oft zutiefst melancholisch anmutenden Musik sublimierte und auf dem Höhepunkt seines Ruhms im Alter von nur 53 Jahren eines bis heute nicht restlos geklärten Todes starb. Trank er das mit Cholera verseuchte Wasser absichtlich, war es schlicht Unachtsamkeit oder wurde er gar erpresst und sah keinen anderen Ausweg mehr?
Der renommierte russische Choreograph Boris Eifman hat das tragische Schicksal Tschaikowskys als Ballett verarbeitet, nennt es im Untertitel das MYSTERIUM VON LEBEN UND TOD. Nur ganz selten gibt Eifman eigene Werke für andere Compagnien frei. Dem Intendanten des Staatsballetts Berlin, Vladimir Malakhov, ist es seinerzeit gelungen, die Rechte für TSCHAIKOWSKY zu erhalten. Und seit der Premiere in Berlin im Jahr 2006 hat es die Produktion auf stolze 36 Vorstellungen gebracht. Malkhov selbst tanzt noch immer die Titelrolle – und wie er das macht, ist von einer geradezu schmerzhaften Intensität. Mit jeder Faser seines Körpers wirft er sich glaubhaft in die Rolle, durchlebt vom Sterbebett aus in einer fast schon filmischen Rückblende einzelne Episoden seines qualvollen Lebens, aber auch kurze Moment der Freude, des Erfolgs. Da wechseln Momente des Selbstzweifels, der Selbstverleugnung mit überbordenden Fluchten in Exzesse am Spieltisch und Trinkgelagen unter Männern. Zu diesen Ausschnitten aus dem Leiden des Künstlers gehören natürlich der unsägliche Schnellschuss der Ehe mit der sich an ihn klammernden Antonina, welche er in nymphomanische Verzweiflungstaten und schliesslich in den Wahnsinn treibt und die erniedrigende Abhängigkeit von Nadeshda (denn Frau von Meck ist auch der Geist der bösen Fee Carabosse und die den Spieler höhnisch verspottende Gräfin aus PIQUE DAME!). Sehr geschickt hat Eifman dem leidenden Künstler Tschaikowsky ein Alter Ego zur Seite gestellt, quasi ein Spiegel seiner Seele, seines Empfindens. In ihn projiziert Piotr Illjiitsch seine Sehnsüchte, erkennt darin aber auch sein tragisches Scheitern. Wieslaw Dudek tanzt dieses Alter Ego mit grosser Eleganz, die spiegelbildlichen Aktionen und die Zweitänze mit Malakhovs von Pein und Qualen gezeichnetem Tschaikowsky sind fesselnde Momente virtuosen Ausdruckstanzes. Eine ergreifende Charakterstudie gelingt Nadja Saidakova als Antonina: Vom den jungen Komponisten anhimmelnden Teenager entwickelt sie sich zur dominanten Ehefrau, welche Tschaikowsky das Leben zur Hölle macht und seine schöpferische Kraft zum Erliegen bringt. Sexuell logischerweise unbefriedigt, gibt sie sich wahllos anderen Männern hin, verfällt dem Wahnsinn. Die Szene mit der kahlgeschorenen Antonina im Irrenhaus gehört zu den eindringlichsten des Abends. (Da erreicht die beklemmende Choreographie schon beinahe Ken Russels filmisches Meisterwerk THE MUSIC LOVERS, mit Richard Chamberlain und Glenda Jackson.) Quasi als Gegenspielerin agiert die fantastische Beatrice Knop als geheimnisvolle Nadeshda von Meck: Sie verkörpert die Mäzenin, welche sich in den Komponisten (sie gibt vor in seine Musik) verliebt, ihm jedoch nie begegnen will, doch durch ihre finanziellen Zuwendungen, ihre Briefe, einen unheimlich psychischen Druck auf ihn ausübt, ihn in eine unangenehme Abhängigkeit treibt. Kein Wunder, dass Nadeshda in Tschaikowskys wildesten Albträumen auch als Gräfin oder Carabosse erscheint. Beatrice Knop verleiht auch diesen Figuren eine beängstigende Präsenz. Kevin Pouzou ist der strahlende, muskulöse Prinz (aus SCHWANENSEE oder DORNRÖSCHEN); so einem Prinzen wäre der Komponist gerne begegnet, allein es war ihm nicht vergönnt. Eine kurze Annäherung an einen jungen Mann (Nicola Del Freo) im Ballettsaal verläuft für ihn frustrierend – dieser wendet sich lieber zärtlich seiner Tänzerin (Iana Balova) zu. So bleibt Tschaikowsky nur die Flucht in dubiose Männergesellschaften am Spieltisch. Doch trotz eines fulminant tanzenden Jokers (Vladislav Marinov) verwandeln sich auch diese Kreaturen wieder in schwarze Schicksalsvögel, vermengen sich mit den immer wieder auftauchenden weissen Schwänen. Die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts brillieren in unterschiedlichen Rollen, stellen sich immer wieder als bedrohliches Kollektiv (St.Petersburger/Moskauer Gesellschaft) dem scheiternden Individuum gegenüber.
Einiges an dieser Choreographie und vor allem an der Behandlung des Bühnenraums (viele Nebelschwaden, schwarze Vorhänge) mag etwas antiquiert, ja geradezu museal wirken. Doch im Zusammenklang mit Tschaikowskys Musik entsteht doch eine stimmige Einheit (verwendet wird KEINE Ballettmusik, sondern die komplette 5.Sinfonie, das Lamentoso aus der 6., zwei Sätze aus der Serenade für Streicher, ein kurzer Ausschnitt aus einer Liturgie und das Capriccio Italien, welches zum Glück nicht als Illustrierung von Tschaikowskys Aufenthalt in Italien benutzt wird, sondern für eindringliche Szenen ausschweifenden Verhaltens von Antonina und Tschaikowsky). Die Staatskapelle Berlin unter Robert Reimer bleibt dieser Musik nichts an Leidenschaftlichkeit und Melancholie der russischen Seele schuldig.
Inhalt:
Erster Akt
Der Komponist Peter I. Tschaikowsky liegt im Sterben. Schreckliche Bilder ziehen an ihm vorüber: die böse Fee Carabosse (aus seinem Ballett DORNRÖSCHEN), seine dem Wahnsinn verfallene Ehefrau, sein verdrängtes Alter Ego.
Rückblende: Die Einsamkeit des jungen Komponisten in St. Petersburg. Die Abhängigkeit von seiner Mäzenin Nadeshda von Meck.
Tschaikowsky gelingt es nicht, seine Homosexualität zu verleugnen. Er möchte wie die anderen Männer sein, welche Antonina umschwärmen und nähert sich ihr an.
Er sublimiert seine Gefühle in der Kunst, weisse Schwäne geben ihm Hoffnung. Antonina drängt sich immer mehr in sein Leben, sein Alter Ego führt ihm seine Zerrissenheit vor Augen.
Die schwarzen Gedanken nehmen Überhand. Antonina wird zur Qual, behindert seine künstlerische Entfaltung. Nadeshda von Meck bildet einen Hoffnungsanker.
Zweiter Akt
Inmitten tanzender Paare bleibt Tschaikowsky ein Aussenseiter. Er strebt nach Schönheit und Jugend, ist fasziniert von Männerkörpern, bleibt aber einsam. Während Nadeshda von Meck ihn weiterhin finanziell unterstützt, verfällt seine sexuell unbefriedigt gebliebene Gattin Antonina dem Wahnsinn. Tschaikowsky erliegt dem Reiz des Kartenspiels. Stets gewinnt Pique Dame. Nadeshda von Meck wendet sich von ihm ab. Erlösung bringt allein der Tod.
Werk:
In seinem Ballett TSCHAIKOWSKY spürt der profilierte russische Choreograph Boris Eifman dem Seelenleben des Künstlers nach, zeichnet eindrücklich seine innere Zerrissenheit, ein sich Unverstanden-Fühlen inmitten einer moralisch strengen Umgebung. Besonders genau analysiert werden Ausgangspunkte und Prozesse künstlerischen Schaffens welche in Schönheit, aber auch Pein, Wut und Schmerz münden. Eifman bleibt dabei den Ausdrucksformen des klassischen Tanzes verpflichtet, hat aber das Ziel vor Augen „den Menschen nicht nur eine Augenweide zu präsentieren, sondern vielmehr ihre Empfindungen und Gefühle anzusprechen, um ein gemeinsames lebendiges Ritual zu initiieren.“