Berlin, Philharmonie: GRENZWEGE, 22.04.2012
SUOR ANGELICA | Oper in einem Akt |: Giacomo Puccini | Libretto: Giovacchino Forzano | Uraufführung: 14. Dezember 1918 in New York | SANCTA SUSANNA | Oper in einem Akt | Musik: Paul Hindemith | Libretto: August Stramm | Uraufführung: 26. März 1922 in Frankfurt | POÈME DE L'EXTASE | Sinfonische Dichtung in einem Satz | Musik: Alexander Skrjabin, fussend auf einem von ihm selbst verfassten Gedicht | Uraufführung: 10 Dezember 1908 in New York | Aufführungen in Berlin: 22. und 23. April 2012 in der Philharmonie
Kritik:
Ein wahres Wechselbad der (religiös fundierten) Gefühle wurde gestern Abend in der Philharmonie beim ungemein spannend konzipierten Konzert des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin durchschritten: Von schuldbeladener Frömmigkeit und zu Tränen rührender, jedoch hart am Erlösungskitsch vorbeischrammender, herrlich aufblühender Melodik (SUOR ANGELICA) über mystisch – sehrendes, sündiges Verlangen voller Expressivität zu einer alle Grenzen überwindenden, bombastischen Sinnlichkeit mit einer triumphierenden Explosion aufgestauter und sich nun in einem gewaltigen Crescendo freie Bahn verschaffenden Sexualität (LE POÈME DE L´EXTASE).
Puccinis klösterliches, reines Frauenstück fristet zu Unrecht ein Mauerblümchen-Dasein. Dies wurde einem bei dieser halbszenischen Aufführung unter dem einfühlsamen Dirigat von Hans Graf und mit dieser exzellenten Besetzung wieder einmal bewusst. In der Titelrolle begeistert die Einspringerin für Barbara Frittoli, Maria Luigia Borsi, mit ihrer fantastisch geführten, wunderschön timbrierten Sopranstimme. Sie verfügt über ein äusserst nuanciert eingesetztes Ausdrucksspektrum, bewältigt selbst die exponierten fortissimo Ausbrüche in der langen Schlussszene ohne zu viel Druck auf die Stimme und bleibt so stets kontrolliert und gerundet. Zum Niederknien. Als Zia Principessa setzt Lioba Braun einen gewichtigen Gegenpol zur unschuldigen Reinheit der Angelica. Sie schafft es vorzüglich, ihrem ausdrucksstarken Mezzosopran die Farbe der Kälte und Gefühllosigkeit zu verleihen ohne scharf zu klingen. Exemplarisch hier im Italienischen (wie auch im zweiten Werk im Deutschen) ist auch ihre Diktion. Selbst beim Zusammenbruch Angelicas, nachdem sie ihr das „Penitenza“ entgegengeschleudert und den Tod ihres Kindes verkündet hat, bleibt sie starr und aufrecht wie eine Säule, zeigt keinerlei Emotion, im Gegenteil, sie wirft einen kurzen, vernichtenden Blick auf die „Sünderin“. Grossartig. Gerade in dieser Szene zeigen sich die Vorteile der schlichten und dezent ausgeleuchteten halbszenischen Lösung – die Sängerinnen agieren konzentriert, aber sparsam, das Drama wird auf stille Art nachvollziebar. Für die Nonnen hat man neben dem wunderbaren Frauenchor des Cantus Domus und des Ensemberlino Vocale ein fantastisches Aufgebot an herausragenden Sängerinnen zur Verfügung. Aufhorchen lassen vor allem die mit zarter, kindlicher Unschuld singende Heidi Stober als Suor Genovieffa, die warme Stimme von Jana Kurucová als Suor Zelatrice, der gewaltige Alt von Ewa Wolak als Maestra delle novizie und die prägnante Stimme von Liane Keegan als Badessa. Nach dem mit himmlischer Schönheit musizierten und von Hans Graf so friedvoll dirigierten Intermezzo sinfonico singen die überirdischen Chöre und spielen die Fanfaren zum Teil aus dem Off, was zu kleineren Koordinationsproblemen führte. Doch die verklärenden Klänge und die Intensität des Hinübergleitens in die Arme der verzeihenden Mutter Gottes lassen diese schnell vergessen. Das Publikum war so ergriffen, dass das eintrat, was man sich des Öfteren wünschte: Einige Sekunden der absoluten Stille, bevor begeisterter Applaus losbrach.
Nach der Pause dann das mysteriöse, expressive Drama Hindemiths, SANCTA SUSANNA. Sinnlich und zart weben die Holzbläser ein begehrendes Gewebe, herrlich gespielt. Die wichtigen Flöten erhalten dann (wie schon die Piccoloflöte in Suor Angelica) einen erhöhten Platz auf dem Orchesterpodest. Hindemith geht sparsamer mit Personal und Melodik um als Puccini – das Geheimnisvolle, Rätselhafte überwiegt. Doch die Intensität des Ausdrucks und der Spannungsaufbau sind aussergewöhnlich. Melanie Diener in der Titelrolle und Lioba Braun als Klementia sind schlicht atemberaubende Sängerpersönlichkeiten, welche ihre reinen Stimmen mit klarer Textverständlichkeit hervorragend in den Fluss und die Farbigkeit des Orchesterklangs einbetten. Brauns Gestaltungskraft in der Erzählung vom Schicksal der Beata ist ungemein plastisch, Diener gestaltet ihre Faszination und ihr erotisches Verlangen mit einer sich grandios zur Vision und zur Selbstentblössung steigernden Eindringlichkeit. Einen spannenden Kontrast bildet die kurze Sprechszene mit der Magd und ihrem Geliebten (Elisabeth-Marie Leistikow und Bastian von Bömches). Ewa Wolak als alte Nonne und die Damen des Cantus Domus und des Ensemberlino Vocale führen mit ihren Satanas – Rufen das kurze Werk zu seinem schauerlichen Gänsehaut-Abschluss.
Bei Skrjabins auf einen explosiven Schluss hin zusteuerndem Werk konnte das Orchester aus dem Vollen schöpfen – und tat dies unter der die Klangmassen stets transparent und kontrolliert haltenden Leitung von Hans Graf mit einer geradezu überwältigenden Sogwirkung auf die ZuhörerInnen. Besondere Erwähnung verdienen die Solo-Trompeter, welche ihre exponierten Motive immer wieder mit bewundernswerter Sauberkeit aus den Wogen aufscheinen liessen. Ein hoch spannender Abend ging damit mit einem orgiastischen Finale zu Ende. Ein Abend mit musikalischen Handschriften, welche, obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb von 18 Jahren entstanden, unterschiedlicher kaum sein könnten. Jede weist jedoch eine eigene Faszinationskraft auf und hätte auf Wege jenseits der seriellen Kompositionsweise führen können.
Inhalt und Werke:
SUOR ANGELICA
Seit einigen Jahren lebt Angelica in einem Kloster, weil sie unverheiratet schwanger geworden war und ihre wohlhabende Familie die Schande so kaschieren wollte. Das Familienoberhaupt ist die Tante Angelicas, eine strenge Fürstin. Sie sucht nun Angelica im Kloster auf, um von ihr die Unterschrift unter eine Erbverzichtserklärung zu erhalten. Dabei erwähnt die kaltherzige Fürstin auch, dass Angelicas unehelicher Sohn gestorben sei. Diese Nachricht zerstört die Seele der jungen Frau. Sie bricht zusammen und unterschreibt. Die Tante entfernt sich wortlos. Angelica vergiftet sich. Sterbend sieht sie die Gottesmutter mit ihrem Kind. Engelsstimmen verzeihen der Sterbenden ihre Todsünde.
SUOR ANGELICA ist Teil eines Tryptichons, wobei die beiden anderen, stilistisch völlig anders gearteten Werke, IL TABARRO (hartes, veristisches Dreiecks-Drama) und vor allem die Komödie GIANNI SCHICCHI, weitaus populärer geworden sind. SUOR ANGELICA wird oft des Religionskitsches verdächtigt und eher selten aufgeführt. Es ist ein reines Frauenstück. Der vorherrschende Sakralton ändert sich mit dem Auftritt der Fürstin in eine hochdramatische Tonsprache, in welcher es Puccini eindrücklich gelingt, die Unbarmherzigkeit und psychische Grausamkeit der Fürstin zu unterstreichen. Nach einem kurzen Intermezzo sinfonico folgt das erschütternde Senza mamma, in welchem Angelica das traurige Schicksal ihres Kindes beklagt, eine der ergreifendsten Sopranarien des italienischen Meisters. Was danach noch folgt, wird gerne als „Kitsch“ bezeichnet (Engelschöre, Orgel, aufwühlendes Orchester), verfehlt aber die berührende Wirkung nicht!
SANCTA SUSANNA
Vor dem Altar einer Klosterkirche knien zwei Nonnen, Susanna und Klementia. Susanna hat religiös-erotische Visionen, sie sieht ein Liebespaar im Beischlaf. Klementia erzählt ihr von einer Mitschwester, welche sich einst nackt an den Gekreuzigten geschmiegt hatte. Die Täterin wurde seinerzeit bei lebendigem Leibe eingemauert. Susanna entledigt sich bei Klementias Erzählung ihrer Kleider und geht nackt auf das Kruzifix zu. Klementia versucht vergeblich, Susanna zurück zu halten. Andere Schwestern eilen herbei und verwünschen Susanna als vom Satan Besessene.
Hindemiths (1895-1963) kurzer Einakter ist faszinierendes Werk des Expressionismus. Er versucht darin, die Antipoden der Jungfräulichkeit und des sexuellen Begehrens auszuloten. SANCTA SUSANNA ist (wie Puccinis SUOR ANGELICA) Teil eines Tryptichons. Die weiteren Werke sind MÖRDER; HOFFNUNG DER FRAUEN und DAS NUSCH-NUSCHI. Selbstverständlich zeigte sich das Publikum der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts über die Thematik ziemlich verstört. Angesichts der Schrecken des ersten Weltkriegs war die Moral der Welt quasi explodiert, die Künstler suchten nach Ausdrucksmöglichkeiten jenseits aller bis anhin geltender Normen. Die musikalische Sprache wird bis an die Grenze der Tonalität getrieben – und doch geht von dem konzentrierten Werk eine beachtliche Sogwirkung aus, zieht diese ausdrucksstarke, mit abgebrochenen Phrasen ausgestattete musikalische Sprache in ihren Bann. Fritz Busch, der einige frühere Werke Hindemiths zur Uraufführung gebracht hatte, weigerte sich, diese amoralische Oper zu dirigieren – und bis heute ziehen christliche Kreise dagegen zu Felde.
Beide Opereinakter handeln von Protagonistinnen, die trotz ihres Klosterlebens keine wahre Erlösung erlangen. Skrjabins Tondichtung ›Le poème de l'extase‹, die in Klängen völlige Entgrenzung schaffen möchte, ist den klanggewaltigen Musikdramen gegenübergestellt.
POÈME DE L'EXTASE
Das einsätzige Orchesterwerk wird auch als Skrjabins 4.Sinfonie bezeichnet. Skrjabin legte seiner Musik ein selbstverfasstes, symbolistisches Gedicht zu Grunde, welches von der Auseinandersetzung eines freien Geistes mit Schreckensgestalten handelt und am Ende mit dem Ruf Ich bin! die Menschheit in Ekstase versetzt.
Der Geist, vom Lebensdurst beflügelt, schwingt sich auf zum kühnen Flug (Beginn)
Und es hallte das Weltall vom freudigen Rufe: Ich bin! (Ende des Gedichts)
Der Komponist setzte einen gewaltigen Orchesterapparat ein, vergleichbar mit den Tondichtungen eines Richard Strauss. Das ca. 20 minütige Werk gipfelt in einem unglaublichen orchestralen Crescendo. Der US Schriftsteller Henri Miller beschrieb den Eindruck, welcher Skrjabins Komposition auf ihn machte, mit diesen Worten: Es war wie ein Eisbad, Kokain und Regenbogen.
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