Berlin, Philharmonie: BRUCKNER, 9.SINFONIE, 08.02.2012
Anton Bruckner: 9. Sinfonie in d-Moll | Uraufführung: 11. Februar 1903 in Wien (Fassung Löwe) , Originalfassung der ersten drei Sätze: 2. April 1932 | Aufführungen in Berlin: 7. - 9. Februar 2012 unter Sir Simon Rattle, mit dem rekonstruierten 4. Satz
Kritik:
Schon eine fragmentarische (mit den von Bruckner eigenhändig vollendeten ersten drei Sätzen) vermag zu erschüttern. Nun wurde in langer, detektivischer und forensischer Forschungs- und Rekonstruktionsarbeit auch noch der vom Komponisten eigentlich beabsichtigte vierte Satz von einem Team von Wissenschaftlern, Dirigenten und Publizisten fertiggestellt – und man ist nach der Aufführung von der Monumentalität, dem „kathedralen“ Charakter des Werks geradezu erschlagen. Das ist nicht negativ gemeint, ganz im Gegenteil. Die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle unternahmen alles, um die grandiose Architektur des Werks transparent zu machen, das weit in die Zukunft reichende wurde genauso spannend herausgearbeitet wie die reichen Zitate aus eigenen und fremden Werken. Man lauscht der knapp 90minütigen Aufführung beinahe atemlos, entdeckte immer wieder Stimmen aus dem Diesseits und dem Jenseits, die man glaubte, mit solcher Intensität noch nie gehört zu haben. Atemberaubend zum Beispiel die Präzision der (relativ schnell angegangenen) Pizzicati der Streicher im Scherzo, gefolgt von dem zwar zu Recht stampfenden, doch irgendwie durch den Dirigenten mit einem abfedernden Touch versehenen diabolischen Hauptmotiv des Satzes. Oder die geradezu zu himmlischen Sphären aufsteigenden Posaunenklänge im Adagio, zart umflort von Flöte und Piccolo. Zum Niederknien waren nicht nur die spielerische Eleganz, die Souplesse und Genauigkeit der Ausführung durch die herausragenden MusikerInnen des Orchesters sondern auch die fantastisch differenziert und subtil angegangenen dynamischen Abstufungen, mit welchen Sir Simon das Werk von schmerzerfüllten Phrasen, über infernalische Passagen zu lichterfüllten Höhen trieb und den grossen Spannungsbogen trotz des langen Weges durch zerklüftete Landschaften nicht abbrechen liess.
Den nun neu zu entdeckenden Finalsatz wird man sich wohl zunächst noch einige Male anhören müssen, um in richtig einschätzen zu können. Bei dieser ersten Begegnung höre ich darin zwar einiges an brucknerschen Klangmassierungen, daneben aber auch fremdartig nervöse Streicherfiguren und beinahe zerhackte Motive (das nennt man wohl Dekonstruktion). Bruckners Opus zeichnet sich ja nicht durch subtil und variantenreich erfundene Melodien, sondern durch die Verarbeitung seines motivischen Materials aus. In diesem vierten Satz erschien mir das Motivische an einigen Stellen etwas gar simpel geraten zu sein, einiges ist verstörend – aber wie gesagt, das muss man sich bestimmt mehrmals anhören, um eine definitive Wertung vornehmen zu können.
Ein grosser, ein bewegender und ungemein spannender Abend!
Werk:
Von seiner 9. Sinfonie in d-Moll hat Anton Bruckner (1824-1896) nur die ersten drei Sätze vollständig selbst fertiggestellt. Der Finalsatz liegt nur in Fragmenten und Bearbeitungen anderer Komponisten vor. Die nach den Manuskripten vervollständigten Aufführungsfassung des 4. Satzes von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca (1985-2008/rev. 2010) wird nun von Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern aufgeführt werden. Die zwar nur mündlich überlieferte Widmung der Sinfonie „an den lieben Gott“ ist angesichts der Frömmigkeit des Komponisten durchaus als glaubhaft anzusehen. Bruckner arbeitete die letzten 10 Jahre seines Lebens an diesem Fragment.
Der zerklüftet wirkende erste Satz (Feierlich, misterioso) zitiert einige Werke berühmter Komponisten, so Beethovens EROICA, Mozarts Requiem und Liszts Dante-Sinfonie, aber auch Motive aus Bruckners eigenem Schaffen können erkannt werden. Die Themen sind kunstvoll, manchmal schroff übereinandergeschichtet und polyphon verarbeitet. Mit beinahe 30 Minuten Dauer ist er einer der längsten Sätze einer Bruckner-Sinfonie. Das anschliessende Scherzo lässt durch dissonante Bläserakkorde und ein spannendes Wechselspiel von Pizzicati der Streicher aufhorchen. Das Adagio, der letzte Satz, der vollständig aus Bruckners Feder stammt, weist in seiner die Tonarten umkreisenden Schreibweise weit in die Zukunft. Erst gegen Schluss lichtet sich die Chromatik. Über den vierten Satz schreibt einer der Verfasser, der Dirigent und Musikforscher Benjamin-Gunnar Cohrs im Programmheft dieses Konzerts: „Das hier präsentierte Endergebnis umfasst 653 Takte. 440 Takte entsprechen Bruckners Partiturbogen. 208 davon hat er bereits vollständig instrumentiert; vom Rest lag zumindest der Streichersatz nebst etlichen Vorskizzierungen geplanter Bläserstimmen vor. Der Verlauf weiterer 117 Takte konnte aus Skizzen und ausgeschiedenen Bogen rekonstruiert werden. 96 Takte mussten durch musik-forensische Techniken wiedergewonnen werden, doch nur für 37 davon war überhaupt keine Musik Bruckners mehr vorhanden. Die Aufführungsfassung des Finales ist damit von Fremdzutaten weitaus freier als beispielsweise die von Mozarts Requiem.“