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Berlin, Komische Oper: DER JAHRMARKT VON SOROTSCHINZI, 22.04.2017

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Der Jahrmarkt von Sorotschinzi

copyright: Monika Rittershaus, mit freundlicher Genehmigung Komische Oper Berlin

Komische Oper in drei Akten | Musik: Modest Mussorgski, Aufführungsfassung von Wissarion J. Schebalin | Libretto: vom Komponisten, nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai Gogol | Uraufführung: 1911 in St.Petersburg (konzertant), 8. Oktober 1913 in Moskau (szenisch) | Aufführungen in Berlin: 2.4. | 9.4. | 14.4. | 22.4. | 13.5. | 10.6. | 16.7.2017

 

Kritik:

Die von Modest Mussorgski als Fragment hinterlassene Oper DER JAHRMARKT VON SOROTSCHINSKI erwacht in der Komischen Oper Berlin zu prallem Leben, zum Abbild oder Bilderbuch einer dörflichen Gemeinschaft, in welcher Elemente des Aberglaubens, der Enge, der Melancholie, der Komik, der sexuellen Begierde und Frustration, des Alkoholkonsums, der Religion und der grotesken Komik den Alltag bestimmen. Das ist von den Verantwortlichen dermaßen grandios umgesetzt, dass man aus dem Schwärmen für diese Produktion kaum mehr herausfindet und einen Besuch allen Musikliebhabern und Theaterfreunden nur wärmstens empfehlen kann. Nicht nur weil diese Oper des Autodidakten Mussorgski im Westen ein ziemlich seltener Gast auf den Bühnen ist, sondern auch weil das Inszenierungsteam (Regie:Barrie Kosky, Bühne und Kostüme: Katrin Lea Tag, Dramaturgie: Ulrich Lenz, Lichtgestaltung: Franck Evin), der Dirigent Henrik Nánási und der Chorleiter David Cavelius eine Fassung erarbeitet haben, die schlicht atemberaubend ist. Dabei bedienen sie sich der Rekonstruktion durch Pawel Lamm und Wissarion Schebalin, welche 1932 in Moskau uraufgeführt wurde und ergänzen diese mit drei Liedern aus Mussorgskis LIEDER UND TÄNZE DES TODES, zwei davon für Chor arrangiert durch David Cavelius, eines (Wiegenlied) in der Originalfassung für Gesangsstimme und Klavier, von Grizko zu Beginn der Traumsequenz vorgetragen. Als Klammer schließlich wählte man das Hebräische Lied op.7 Nr.2 von Rimsky-Korsakow, welches vom Chor so wunderbar intoniert und nur von einer Bandura (ukrainisches Zupfinstrument) begleitet wurde. Mit dieser stimmungsvollen Introduktion wurde die melancholische Seelenlandschaft Kleinrusslands geöffnet, das wehmütige Lied (Ich schlafe, aber mein Herz ist wach) beschließt nach dem feurigen Hopak auch die Oper. Kosky entwickelt das bilderbuchartige Geschehen ganz aus den Personen und der vortrefflichen Führung des Chores heraus, braucht weder aufwändiges Bühnenbild noch Requisiten für den ersten Akt (Jahrmarktszene). Da genügen eine nach vorne abfallende Schräge, ein fahrbarer, breiter Balken (der im zweiten Akt als Küche und dann als Tafel für den satanischen Sabbat dient), die gekonnt mit folkloristischen Klischees spielenden Kostüme von Katrin Lea Tag und das überaus stimmungsvoll ausgeklügelte Lichtdesign von Franck Evin. Der zweite Akt in der Küche der Chiwrja, in welcher die sexuell frustrierte Gemahlin Tscherewiks auf ihren Liebhaber, den Popensohn Afanassi wartet und all ihre Koch- und Backkünste anwendet, da Liebe bekanntlich durch den Magen geht, gehört zum Köstlichsten, was ich seit Langem auf einer Opernbühne gesehen habe. Das ist Urkomisch, ja richtig guter Schwank, mit Elementen aus MR. BEAN versetzt (Liebhaber muss seinen Kopf im Bauch des Truthahns verstecken) und umwerfend gut gespielt und gesungen. Agnes Zwierko als streitsüchtig keifende Chirwja (ihr Gemahl Tscherewik singt einmal: „Ach Gott, es gibt schon genug Dreck auf der Welt, warum hast du auch noch die Weiber erschaffen ...“) hantiert mit Lust am Ofen, bereitet Quarkklößchen, Torten, Suppen und eben den riesigen Truthahn vor. Sie spielt und singt das mit umwerfender Komik (und die versteckte Tragik, die im ganzen Werk angelegt ist, schimmert auch in dieser Szene immer wieder durch). Bevor sie aber den Liebhaber empfangen kann, muss sie ihren daueralkoholisierten Gatten Tscherewik aus dem Haus werfen. Jens Larsen mit seiner gewaltigen Bassstimme ist als dauerbesoffener Tscherewik eine Wucht. Großartig ist auch sein Saufkumpan, der Gevatter, dem Tom Erik Lie mit seinem sonoren Bariton eindrückliches Profil verleiht. Er ist es auch, der die von Mussorgski als Kern des Werks bezeichnete Erzählung vom Teufel vorträgt, der alljährlich das Dorf in Schweinegestalt heimsucht, um vom Juden seinen roten Kittel zurückzuverlangen. In der Traumsequenz Grizkos (zur überwältigenden Chorfasssung von Mussorgskis EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE) verleiht Tom Erik Lie dann auch dem Oberschwein (Oberteufel) seine kraftvolle Stimme, während der Kinderchor als Frischlinge auf der Bühne herumwuselt, die Schweine sich rund um den Oberteufel an der reichlich gedeckten Tafel gütlich tun, eine Armee von Kosaken sich dazu gesellt. Grizko und seine geliebte Parasja müssen dabei gruselige Prüfungen durchlaufen (Pamina und Tamino lassen grüßen), werden von gigantischen Schweinen auf Stelzen bedroht. Das ist Gogol pur, grotesk, misanthropisch – und doch zum Schmunzeln. Alexander Lewis ist ein überaus sympathischer Grizko, schlicht und mit beinahe erstickter Stimme die traurige Dumka im ersten Akt und das erwähnte Wiegenlied zwischen dem zweiten und dritten Akt gestaltend. Mirka Wagner beglückt als seine Geliebte Parasja in ihrer Dumka im dritten Akt mit ihrer warmen, von zauberhaft feinem Vibrato und Wehmut umflorten Sopranstimme, um dann am Ende in einen fröhlichen Hopak zu münden. Hans Gröning als Zigeuner ist der mit beinahe unheimlicher Präsenz agierende Strippenzieher, der sich immer mal wieder aus dem Hintergrund mitten ins Geschehen einmischt. Als tollpatschiger Popensohn Afanassi Iwanowitsch darf Ivan Turšíc alle Register seines komödiantischen (und sängerischen) Talents ziehen, während zwanzig Minuten mit seinem Kopf im Bauch der Pute agieren, um schließlich - nachdem er von Chriwja kurzerhand in den Ofen gesteckt (versteckt) worden war - als rauchender Truthahnbraten die abergläubische Dorfgemeinschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Herrlich!

Diese Dorfgemeinschaft spielt natürlich die eigentliche Hauptrolle in dem pausenlos gespielten, kurzweiligen Stück: Die von David Cavelius einstudierten Chorsolisten und der Kinderchor der Komischen Oper Berlin, unterstützt vom Vocalconsort Berlin, nehmen die gewaltigen und dankbaren Herausforderungen mit eindrücklicher Spielfreude, Lust und Enthusiasmus an, überzeugen mit ausgefeilter klanglicher Balance und sattem Wohlklang.

Alle Fäden der begeistert akklamierten Aufführung im vollbesetzten Haus laufen natürlich beim Dirigenten Henrik Nánási zusammen – er und das fabelhaft spielende Orchester der Komischen Oper Berlin erwecken Mussorgskis Intentionen zu dem erwähnten prallen Leben, es blitzt, faucht und brodelt aus dem Graben, aber es öffnen sich auch die Tore zur groß- und kleinrussischen Seele mit ihrer Sehnsucht und Melancholie. Die Musikerinnen und Musiker malen mit mal zarteren, mal mit derberen Farben, zeichnen den Mikrokosmos der Befindlichkeiten mit differenziert geführtem Pinselstrich.

Und auch dies darf man einmal positiv erwähnen, nämlich die herausragende Gestaltung des Programmhefts durch die Dramaturgie (Ulrich Lenz). Wichtige Informationen zum Stück, zur Inszenierung, zur Historie in einer klaren Sprache auf den Punkt gebracht, flüssig und gut lesbar geschrieben – und nicht vollgepackt mit philosophischen, verkopft-geschwätzigen Ergüssen, welche kein Normalsterblicher verstehen, geschweige denn dem Werk zuordnen kann (wie manchmal an anderen Opernhäusern). Bravi tutti!

Inhalt:

Der Bauer Tschewerik will auf dem Markt von Sorotschinzi seinen Weizen verkaufen. Seine Tochter Parasja und sein streitsüchtiges Weib Chiwria begleiten ihn. Ein Zigeuner erzählt von dem Teufel, der in der Gestalt eines Wildschweins jedes Jahr den Jahrmarkt durcheinander bringt und das Volk erschreckt. Grizko, ein Bauernbursche verliebt sich in Parasja. Tschewerik hat nichts gegen die Verbindung Grizkos mit seiner Tochter und ordnet (schon leicht angesäuselt) gleich die Verlobung an. Doch er hat die Rechnung ohne sein Weib gemacht, welche Grizko für nicht gut genug hält, ihn als zukünftigen Schwiegersohn ablehnt und ihren betrunkenen Mann mitnimmt. Grizko klagt dem Zigeuner sein Leid. Dieser verspricht ihm Hilfe, wenn Grizko ihm einen Ochsen zu einem vorteilhaften Preis verkaufe.

Tscherewik schläft seinen Rausch aus. Seine Frau wirft ihn aus dem Zimmer, da sie ihren heimlichen Liebhaber, Afanassi, den jungen Sohn des Popen, zu einem Schäferstündchen empfangen will. Doch das Liebesspiel wird durch ein Klopfen an der Tür gestört. Schnell versteckt Chiwria ihren Liebhaber. Tscherewik kehr mit Saufkumpanen zurück. Man hat wieder vom Teufel gehört, der seine „rote Jacke“ suche. Plötzlich springt ein Fenster auf, ein Schweinekopf blickt in den Raum. Der versteckte Popensohn fällt vor Schreck aus seinem Versteck, Chiwria ist ertappt. Sie kann nun der Verbindung zwischen Grizko und Parasja nicht mehr im Wege stehen. Die Hochzeit wird mit einem „Hopak“ , einem fulminanten ukrainischen Volkstanz, gefeiert.

Werk:

Der Autodidakt Modest Mussorgski (1839-1881) war der radikalste Vertreter des „Mächtigen Häufleins“, jener Gruppe von fünf Musikern (neben Mussorgski gehörten Balakirew, Cui, Borodin und Rimsky-Korsakow dazu), die der Verwestlichung der russischen Musik (durch u.a. Tschaikowski und Rachmaninow) ablehnend gegenüber standen und welche einen eigenen, russischen Weg in ihren Werken suchten. Mussorgskis Leben schwankte zwischen Genie und Wahnsinn, seinen Lebensunterhalt verdiente er als Beamter, doch das Geld löste sich im Alkoholdunst auf. Im Alter von nur 42 Jahren verstarb an den Folgen seiner Alkoholsucht. Die meisten seiner Opern sind nur als Fragmente überliefert und wurden von Freunden und anderen Komponisten in aufführungsgerechte Fassungen gebracht, so auch DER JAHRMARKT VON SOROTSCHINZI. Als erster versuchte sich Anatoli Ljadow (unter Anleitung von Rimsky-Korsakow) an der Orchestrierung einiger Nummern, danach erstellt Cesar Cui eine spielbare Fassung.Nikolai Tscherepnin überarbeitete die vorangehenden Fassungen und erstellte seine Version 1923, die heutzutage gängigste Bearbeitung entstand 1930 durch Wissarion Schebalin. Nichtsdestotrotz stellt DER JAHRMARKT VON SOROTSCHINZI ein pralles, von Volkstümlichkeit und kühnen Harmonien geprägtes Stück dar. Höhepunkte sind die melancholische Dumka (slawisches Volkslied) Grizkos, die Traumsequenz (mit der vom Chor interpretierten Musik von Mussorgskis Orchesterdichtung EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE), Parasjas Arie (ebenfalls im Duktus einer Dumka) und der Hopak. Auffallend die Fagottlinie, welche Grizkos Melancholie und Romantizismus bricht und ein Abgleiten in süsslichen Kitsch verhindert (ähnlich wie bei Donizettis Una furtiva lagrima aus L'ELISIR D'AMORE). Strawinski griff diese Phrase des Fagotts für den Beginn seines SACRE DU PRINTEMPS auf. In Berlin stand diese Oper übrigens letztmals vor knapp 70 Jahren (1948) auf dem Spielplan, ebenfalls in der Komischen Oper.

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