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Berlin, Deutsche Oper: TOD IN VENEDIG (DEATH IN VENICE), 28.04.2017

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Tod in Venedig - Death in Venice

copyright: Marcus Lieberenz, mit freundlicher Genehmigung Deutsche Oper Berlin

Oper in zwei Akten | Musik: Benjamin Britten | Libretto: Myfanwy Piper, nach Thomas Manns Novelle | Uraufführung: 16.Juni 1973 beim Aldeburgh Festival in Snape UK | Aufführungen in Berlin: 19.3. | 22.3. | 25.3. | 23.4. | 28.4.2017

 

Kritik:

 

Bevor man so wirklich in die Inszenierung von Brittens Schwanengesang-Oper TOD IN VENEDIG an der Deutschen Oper Berlin eintauchen kann, muss man sich erst einmal innerlich von Bildern befreien, von Bildern, die man sich selbst bei der (Pflicht-)Lektüre während der eigenen Schulzeit von Thomas Manns Novelle gemacht hat und erst recht von den allegorischen Bildern der morbiden Ästhetik der versinkenden Stadt Venedig in Luchino Viscontis grandioser filmischer Adaption. Denn der Regisseur Graham Vick , der Lichtdesigner (genial) Wolfgang Göbbel und der Ausstatter Stuart Nunn beschreiten einen ganz anderen Weg. Bei ihnen stellt die Oper einen Traum Aschenbachs dar, eine letzte gedankliche Reise kurz vor seinem Tod oder während des Sterbens, ein Rückblick auf ein nicht vollzogenes Ausleben des Dionysischen, ein Versagen in der sich selbst auferlegten Askese. Als Ausgangspunkt nehmen sie dabei die um die Kreuzsymbolik kreisenden vier Töne der am Anfang stehenden Zwölftonreihe Brittens. Aschenbach sieht sich als Grabredner an seiner eigenen Beerdigung. Im Hintergrund steht eine gerahmte riesige Fotografie des Künstlers, die sich vom Rand her jedoch auflöst, schwarze Stühle für die Trauergesellschaft, ein gigantischer liegender Strauss violetter Todesblumen, ein Kranz. Diese symbolhaften Elemente verbleiben den ganzen Abend über innerhalb der mal giftgrün, mal knallgelb erscheinenden Wände des Bühnengevierts sichtbar, werden als Requisiten und als Spielflächen genutzt. Im zweiten Teil der Oper ist dann die Fotografie aus dem Rahmen verschwunden, an die Rückwand ist mit dickem Pinselstrich und schwarzen Farbklecksern die Warnung ACHTUNG aufgemalt, eine Warnung nicht nur vor der drohenden Choleraepidemie in Venedig, eine Warnung auch, sein Leben nicht „ungelebt“ vorbeiziehen zu lassen. Und so macht dann das vom Regisseur abgeänderte Ende der Oper plötzlich Sinn, es stellt eine Einsicht in das totale Versagen dar, ein Versagen, welches sich in des Dichters Sprachlosigkeit gegenüber Tadzio äussert, ein Versagen, weil er nicht eingegriffen hat, als Tadzio von den anderen Jugendlichen misshandelt wurde. Hier bei Graham Vick liegt Tadzio nämlich ermordet auf dem Boden und agiert nicht wie im Film und der Novelle als imaginierter Todesbote, der den sterbenden Aschenbach in eine verheißungsvolle Erlösung winkt. Am Ende der Aufführung in der Deutschen Oper Berlin sitzt Aschenbach also nicht im Strandsessel und stirbt mit melancholischem Blick aufs Meer, nein, er muss fast verschämt als Versager durch die Seitentür abschleichen. Bis es zu diesem ungewohnten, aber in dieser Konzeption durchaus sinnfälligen Ende kommt, erlebt man einen starken Abend, der einen soghaft immer stärker in seinen Bann zieht. Das liegt zum einen natürlich an den starken Bildern, welche der Regisseur und sein Ausstatter in diesem Einheitsbühnenbild gefunden haben, zum anderen natürlich an der suggestiven, mit minimalistischen Elementen doch so stimmungsvoll die Seelenlandschaft des alternden Künstlers zeichnenden musikalischen Sprache Brittens – und damit an der Umsetzung der Partitur durch die Ausführenden dieser Produktion. Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper Berlin lassen mit ungemein zarten, beinahe süchtig machenden Klängen aus dem Graben ebenso aufhorchen wie die Pianistin Adele Eslinger auf der Bühne, welche die Secco-Rezitative Aschenbachs, seine Selbstreflexionen, so gekonnt und dezent begleitet. Und dann ist da natürlich der Interpret des Gustav von Aschenbach, Paul Nilon, welcher den ganzen Abend auf der Bühne steht und quasi ununterbrochen zu singen hat. Sein weicher, lyrischer Tenor zeigt dabei keinerlei Ermüdungserscheinungen, fasziniert mit der stimmlichen und darstellerischen Präsenz genauso, wie mit seiner ausgeklügelten stimmlichen Farbgebung - vom gebrochen klingenden Beginn bis zu vehementer vorgetragenen Selbstzweifeln (What’s this path I’ve taken?)- und der dosierten, nie forcierten Dynamik. Sein Gegenspieler ist der in sieben „Masken“ als mephistophelischer Todesbote und Verführer auftretende Seth Carico. Er kann seinen sonor strömenden Bariton einschmeichelnd, charmant, witzig falsettierend, aber auch bedrohlich oder leicht obszön und lasziv klingen lassen. Der blendend aussehende Sänger – ein veritabler Barihunk - wirkt dabei stets als überaus attraktiver Verführer, der von Anfang an, wenn er sich aus der Gesellschaft der Trauergäste der Beerdigung erhebt und Aschenbach zur Reise in den Süden animiert, die Seite des Lustbetonten, Triebhaften, Dionysischen verkörpert. Die andere Seite, das Apollinische, das Schöngeistige, verkörpert der amerikanische Countertenor Tay Oney in seinen beiden Auftritten. Hervorragend besetzt sind die vielen kleinen und kleinsten Rollen durch Ensemblemitglieder der Deutschen Oper Berlin und diverse Stipendiaten, gespenstisch und auf seltsame Art erotisch verführerisch erklingen die „Serenissima“ –Einwürfe des Chors der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Raymond Hughes). Britten hatte die Rollen Tadzios (hier ganz intensiv dargestellt durch Rauand Taleb, der zwischen selbstbewusster Schönheit und beinahe kleinkindlich die Nähe der Mutter suchendem Adoleszenten pendelt) und seiner Strandkumpane, welche eine so erotische Anziehungskraft auf Aschenbach ausüben, eigentlich für Tänzer vorgesehen, wollte deren Auftritte vollkommen losgelöst von jeglichem Naturalismus stilisieren, auch durch die Verwendung des Vibraphons und der balinesischen Gamelan-Musik eine ätherische Distanz zum Realismus schaffen. In der Inszenierung Graham Vicks werden diese Rollen jedoch jungen Schauspielern anvertraut, welche mit ihren anzüglichen Posen von Prollboyz mit Baseballcaps und Trainingshosen doch sehr realistisch wirken – und dadurch, dass der Rest der Handlung als beinahe grotesker Albtraum daher kommt, wirken ihre sexualisierten sportlichen Körperspiele dann auch wieder „exotisch“ innerhalb des verfremdeten Bühnenraums, und damit ist das Gleichgewicht, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, auch wieder hergestellt.

TOD IN VENEDIG bildete den Abschluss eines kleinen Britten-Zyklus unter Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin – diese Oper führte eigentlich (zu) lange ein Mauerblümchen-Dasein innerhalb von Brittens Werken für die Bühne. Nun scheint sich eine Art Renaissance dieser wichtigen Oper anzukündigen (z.B. folgt Stuttgart mit einer Neuinszenierung am 7. Mai 2017) – und der ziemlich voll besetzte Saal der DOB und das konzentriert mitgehende und am Ende begeistert reagierende Publikum sind hierfür die beste Referenz.

Inhalt:

Ein Künstler mitten in einer Lebens- und Schaffenskrise: Der Schriftsteller Gustav von Aschenbach zweifelt an seiner Berufung zum Schriftsteller. Auf einem Friedhof in München trifft er einen Fremden, der ihm zu einer Reise nach Venedig rät. Im Verlauf der Reise begegnet ihm immer wieder eine Art Gegenfigur zu seinem Selbst in der Gestalt eines aufdringlich geschminkten alten Gecks, eines Gondoliere, der an den mythischen Charon erinnert (der Fährmann, der die Todgeweihten über die Flüsse Lethe und Styx in den Hades geleitet), eines schleimigen Hotelmanagers, eines geschwätzigen Friseurs und eines zudringlichen Strassensängers. Im Hotel am Lido begegnet Aschenbach zum ersten Mal einem polnischen Knaben, dessen Schönheit ihn fasziniert und verunsichert. An einem anderen Tag beobachtet Aschenbach spielende Kinder am Strand, darunter auch den polnischen Knaben. Aschenbach erfährt nun, dass der Knabe Tadzio heisst. Aschenbach sieht sich in seiner Arbeit blockiert und will abreisen, doch versehentlich wird sein Gepäck falsch aufgegeben. Aschenbach wehrt sich gegen die aufkeimenden Gefühle, welche er wegen Tadzios schöner Erscheinung in sich aufsteigen spürt. In einer Traumsequenz verklärt er Tadzio zum griechischen Gott und klassizistischen Schönheitsideal. Nach dem Traum kommt es zu einer realen kurzen Begegnung mit Tadzio. Doch Aschenbach ist wie gelähmt, erst als sich Tadzio entfernt, ruft ihm Aschenbach sein Liebesgeständnis nach: I LOVE YOU!

Im zweiten Akt erfährt Aschenbach vom Friseur, dass sich die Cholera in der Stadt ausbreite. In der Stadt nimmt Aschenbach den Geruch von Desinfektionsmitteln wahr, sieht Aufrufe der Behörden und findet die Bestätigung des Cholera-Ausbruchs in einer Zeitung. Auf dem Weg durch die Stadt verfolgt er Tadzios Familie. Abends im Hotel tritt eine Truppe von Sängern auf, Aschenbach fühlt sich von ihnen verspottet, seine Gedanken kreisen um den schönen Knaben. Sie entwickeln sich zu Begierden. In einem Traum kämpfen Apollo und Dionysos gegeneinander: Vernunft gegen Genuss, Ordnung gegen die wilde Lust. Apollo unterliegt. Aschenbach gibt sich im Traum, dem Liebesrausch, der Orgie hin. Müde konstatiert er, dass er die früheren Leitlinien seines bisherigen Lebens aufgegeben hat, Ideale und Selbstdisziplin weichen der auch sexuellen Begierde. Nach einem weiteren Tag am Strand mit Beobachtungen der spielenden Knaben lässt sich Aschenbach vom Friseur „verjüngen“. Noch einmal kommt es zu einer Begegnung mit Tadzio, doch erneut findet Aschenbach keine Worte, fühlt sich als alter Lüstling, wie der alte Geck, dem er zu Beginn begegnet war. Die polnische Familie will nun abreisen. Noch einmal sieht Aschenbach den spielenden Knaben am Strand zu. Tadzio wird von ihnen gedemütigt, doch Aschenbach hat nicht die Kraft einzuschreiten. Aschenbach bleibt in seinem Strandstuhl sitzen, die Cholera hat ihn im Griff. In einer Vision sieht er Tadzio aufs Meer hinausschreiten und ihm gleich des Todesboten Hermes das Zeichen zu geben, zu folgen.

Werk:

DEATH IN VENICE war Benjamin Brittens (1913-1976) letzte Oper. Um sie fertig zu stellen, schob er gar eine wichtige Herzoperation auf. Er verstarb denn auch nur drei Jahre nach der Uraufführung des Werks an Herzversagen. Wie in all seinen Werken für die Bühne und die Stimme ist auch in DEATH IN VENICE (und hier besonders ausgeprägt) Brittens eigene Biographie verarbeitet, der Künstler, der an seiner Veranlagung leidet, sie mit rationellen Gedanken zu verdrängen, zu bekämpfen sucht und letztendlich scheitert. Das Leiden an der (damals besonders in England) tabuisierten Lust findet Ausdruck in einer Musiksprache, die sehr wohl noch tonal gestaltet ist, bei der die Tonarten auch wichtige Bedeutungen im Kontext haben, die aber auch allen zwölf Tönen ihre eigenständige Bedeutung zumisst. Leonard Bernstein hat einmal sehr treffend bemerkt: „Wenn man Brittens Musik nicht nur nebenbei hört, wenn man ihr richtig zuhört bemerkt man ihre dunklen Seiten. In ihrem Getriebe wechseln die Gänge nicht butterweich, vielmehr knirschen sie und bereiten grosse Pein.“ Die unterschwellige Leitlinie des Leidens an homosexuellen (gar päderastischen) Gefühlen, deren Verdrängung, die inneren Kämpfe und Krämpfe ziehen sich von PETER GRIMES über BILLY BUDD und THE TURN OF THE SCREW bis DEATH IN VENICE durch das Schaffen des ORPHEUS BRITANNICUS II, wie Britten auch genannt wurde, war er doch der erste Komponist nach Henry Purcell (ORPHEUS BRITANNICUS I), welcher dem britischen Opernschaffen wieder zu Weltgeltung verhalf. Die überaus schwierige und umfangreiche Rolle des Aschenbach hat Britten für seinen langjährigen Lebensgefährten, den Tenor Peter Pears, geschrieben, der sie auch in der Uraufführung verkörperte. Das Orchester für die 17 durchkomponierten Szenen der Oper ist relativ klein gehalten, das Schlagwerk aber ziemlich umfangreich, kommt jedoch sehr dezent und fast „intim“ zum Einsatz, zum Beispiel für die Auftritte Tadzios (eine stumme Rolle). Oft wird die Handlung durch vom Klavier begleitete Secco-Rezitative unterbrochen, in denen Aschenbach sein Agieren und die äusseren Umstände reflektiert. Nach Aufführungen an Covent Garden, La Fenice und an der Met folgte die deutsche Erstaufführung von TOD IN VENEDIG 1974 an der Deutschen Oper Berlin.

Zwei Jahre vor der Uraufführung von Brittens Oper entstand die Verfilmung der Novelle von Thomas Mann durch Luchino Visconti. Dirk Bogarde feierte in der Rolle des Aschenbach einen grossen Triumph. Viscontis Adaption (Aschenbach ist bei ihm ein Komponist, gleicht Gustav Mahler) mit der Musik Mahlers fand allgemein grosse Anerkennung, auch beim Literaturpapst Reich-Ranicki und bei Thomas Manns Sohn Golo Mann.

Karten

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