Berlin, Deutsche Oper: EDWARD II. (Uraufführung), 19.02.2017
Musiktheater in zehn Szenen | Musik: Andrea Lorenzo Scartazzini | Libretto: Thomas Jonigk | Uraufführung: 19. Februar 2017 in Berlin | Aufführungen in Berlin: 19.2. | 24.2. | 1.3. | 4.3. | 9.3.2017
Kritik:
Allzu oft kommt es ja nicht vor, dass man nach der Aufführung einer zeitgenössischen Oper das Bedürfnis hat, das Werk gleich nochmals zu hören und zu sehen. Doch genau dieses Bedürfnis hatte ich gestern Abend nach der gut 90 Minuten dauernden Uraufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis neuer Oper EDWARD II. an der Deutschen Oper Berlin. Die vom Premierenpublikum heftig umjubelte und gefeierte dritte Oper (nach WUT und DER SANDMANN) des Schweizer Komponisten ist ein bedeutender Wurf geworden und verfügt über all die notwendigen Ingredienzien, welche das Werk hoffentlich über das Leben einer Eintagsfliege (das Schicksal vieler zeitgenössischer Opern) hinausführen werden: Aufgebot eines riesigen Apparats mit Chor, großem Orchester, Einspielungen ab Band, dankbare Rollen für die Solisten, ein brisantes, aktuelles Thema im historisierenden Stil einer Grand Opéra daherkommend – und last but not least ein überragendes Libretto von Thomas Jonigk. Ja, um den alten Streit unter Opernschaffenden aufzuwärmen, war man beinahe versucht zu sagen „Prima le parole poi la musica“ – und gerade deshalb wird es lohnenswert sein, sich mit dem Werk nochmals auseinanderzusetzen, damit man sich eben vermehrt auf die musikalische Struktur konzentrieren und diese entsprechend würdigen kann. Doch bereits beim ersten Anhören war man beeindruckt von den atmosphärisch dichten Schichtungen des Gesamtklangs, der Mixtur aus Live-Orchesterklang und Einspielungen ab Band, welche eine überwältigende Raumwirkung evozierten, der Behandlung der Stimmen der Solistin, der Solisten und des Chors. Es ist eine musikalische Sprache, die erotisch aufgeladen daherkommen kann, dann auch wieder brutal schneidend, grotesk oder fiebrig ist, gehetzt, sich in geisterhafte Visionen verästelnd. Doch obwohl das Orchester groß besetzt und mit aufwändigem Schlagapparat ausgestattet ist, werden die Stimmen nie überdeckt, die (wichtigen) Worte und Schimpfwörter („Arschficker, Schwanzlutscher“ hat man so deutlich auf der Opernbühne wohl noch kaum je gehört) waren stets deutlich zu verstehen. Thomas Søndergård am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin vermochte die Fäden (Solisten, Chor, Orchester, elektronische Einspielungen) stets zusammenzuhalten und sorgte für ein ausgewogenes, transparentes Klangbild, die Dissonanzen, die Reibungen waren zwar präsent, doch nie schmerzend oder das Ohr zu stark quälend.
Der Regisseur Christoph Loy sorgte im sakral angehauchten Einheitsbühnenbild von Annette Kurz (mit drehbarem Altar in der Mitte, auf dem sich die Leichen zeitweise häuften) und mit den Kostümen von Klaus Bruns (vornehmlich – wie heutzutage üblich – smarte Designeranzüge, offene weiße Hemden, ein Brautkleid, Alltagskleider für den Chor) für eine packende Inszenierung. Die zehn pausenlos ineinander übergehenden Szenen zeigten mit bewegender Intensität den Gefühlsstrudel, welchen die Protagonisten durchlaufen. Gekonnt hatte der Librettist die shakespeareschen Brechungen durch die beiden komischen Figuren eingefügt. Markus Brück und Gideon Poppe konnten dabei ihr komödiantisches Talent zeigen, kommentierten und konterkarierten das Geschehen als schwule Soldaten, ledertuntige Wärter, als über Massenhinrichtungswaffen debattierende Geistliche, Räte, die Penisvergleiche anstellten und am Ende abgestumpft die auswendig gelernten Phrasen als Tourguides im Schloss abspulten. Klasse! Die letzte Szene spielt nämlich in der Gegenwart (wobei die Kostüme schon vorher in der Gegenwart beheimatet waren ...). Während der dem Tod geweihte Edward mit dem Engel über das Jenseits philosophiert, werden Besucherströme durch Berkeley Castle geleitet und die ergötzen sich voyeuristisch am grausigen Tod Edwards II., welchem eine glühende Lanze durch ein abgesägtes Kuhhorn in den Anus gestoßen wurde. Dies wurde auf der Bühne erzählt und leicht stilisiert dargestellt. Krass auch der Bericht vom Tod von Edwards Geliebtem Gaveston: Der Prinz Edward (später als König Edward III. Regent von England) singt die Erzählung vom grausamen Mord an Gaveston in hellstem, reinstem Knabensopran ins Ohr seines erschütterten Vaters. Überhaupt ist die Darstellung des 12jährigen Prinzen von gewaltiger Eindringlichkeit: Mattis van Hasselt spielte und sang den Jungen herausragend, agierte zwischen Naivität, Vorwitzigkeit und altklugem Touch. Eindringlich auch die Szene, in welcher der Ersatzgeliebte des Königs, der langhaarige, durchtriebene Jüngling Spencer (in einer stummen Rolle aber mit beeindruckender Bühnenpräsenz: Grigorij Puchalski), den Prinzen in Frauenkleider steckte und ihn so den Geliebten seiner Mutter, Mortimer (mit kraftvollem, gerundeten Bass: Andrew Harris), verführen ließ. So ist es dann nicht weiter verwunderlich, dass der Prinz als späterer König den pädophilen Mortimer hinrichten ließ. Ja, die Königin Isabella hatte es wahrlich nicht einfach mit ihren Männern: Vom schwulen Ehemann aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verbannt und dann vergeht sich der Geliebte auch noch an ihrem Sohn. Agneta Eichenholz porträtierte diese Frauenfigur mit grandioser stimmlicher und darstellerischer Eindringlichkeit. Zwar erklingt auch bei ihr die Gesangslinie als eine Art hysterischen Sprechgesangs, doch dieser erste Eindruck bedarf einer Überprüfung durch ein nochmaliges, genaueres Hören. Interessant der Ansatz, Isabella ab der fünften Szene - der Jagd des Mobs auf Gaveston im Cruisingpark - wie Kaiserin Sisi (Romy Schneider in Viscontis LUDWIG II.) zu kostümieren, auch sie eine Frau mit Gefühlen der Zuneigung zu einem schwulen König. Der hasserfüllt gegen Homos geifernde Bischof von Coventry wurde hervorragend dargestellt und schneidend gesungen von Burkhard Ulrich. Unter seinem eh schon obertuntig daherkommenden Bischofsgewand trug er Frauenunterkleider und offenbarte damit die Verlogenheit und die Hypokrisie dieser hetzerischen Kreise. James Kryshak verlieh dem gedungenen Mörder Lightborn einen schon beinahe komischen, intellektuellen Anstrich. Der Chor der Deutschen Oper Berlin bewältigte seine Aufgabe als Höflinge und als aufgehetzter Mob hervorragend (Einstudierung: Raymond Hughes) und zeigte die Verführbarkeit und den Wankelmut der ungebildeten Massen.
Und dann sind da natürlich noch die drei Hauptpersonen: König Edward II., sein Geliebter Piers de Gaveston und die eingefügte Kunstfigur des Engels, welcher den König auf seinem Leidensweg begleitet. Diese drei Figuren und ihre Interpreten ließen den Abend erst recht zum Ereignis werden. Michael Nagy zeigte die Zerrissenheit des Königs, seinen Willen, für seine Gefühle, sein Glück zu kämpfen mit tief bewegender Intensität. Dabei ist er nicht nur Sympathieträger, wahrlich kein Gutmensch – aber eben doch einfach MENSCH, in all seiner Widersprüchlichkeit. Sein sonorer, weich geführter und doch bestimmt und markant artikulierender Bariton vermochte zu fesseln – genau so wie der schön timbrierte, eindringliche Tenor von Ladislav Elgr als Geliebter und Günstling Gaveston. Dass beide auch noch überaus attraktiv aussahen (Gaveston meist in sexy Unterwäsche) soll auch nicht verschwiegen werden und stellte quasi das Sahnehäubchen der Aufführung dar. Jarret Ott gestaltete mit seinem wohlklingenden, sanften Bariton die androgyne Figur des Engels, welcher sich den Fragen Edwards nach dem Sinn des Lebens und des Todes stellt, als Tröster und unheilvoller Prophet zugleich agiert. Die letzte der zehn Szenen geht dann wahrlich unter die Haut: Im Kamin glüht die Kohle (zur Erhitzung der Lanze), der Engel stimmt für den dem Tod geweihten Edward ein Wiegenlied an, in welches dann die Erscheinungen von Gaveston, Isabella und Prinz Edward einstimmen. Später verklingt das Orchester zu einem Wispern, die brutale Szene der Ermordung des Königs friert ein und die Touristen auf der Bühne blicken starr und stumm und anklagend ins Publikum. Gänsehaut!
In den letzten vierzig Jahren haben es nur ganz wenige neue Opern geschafft, dauerhaft Einzug ins Repertoire zu halten (z.B. Reimanns LEAR). Scartazzinis/Jonigks EDWARD II. wäre dies ebenfalls zu gönnen. Mit der effektvollen Mischung aus Sex and Crime sollte es doch möglich sein ... .
P.S.: Als Eidgenosse darf man mit Anerkennung und Freude vermelden, dass sich die Schweiz an diesem Abend für einmal alles andere als hinterwäldlerisch, nämlich von ihrer weltoffenen, aufgeschlossenen Seite präsentieren konnte. Diese Uraufführung stand unter der Schirmherrschaft ihrer Exzellenz Christine Schraner Burgener, Schweizerische Botschafterin in der Bundesrepublik Deutschland und wurde unterstützt von der Kulturstiftung PRO HELVETIA.
Historischer Hintergrund:
Edward II. lebte von 1284 bis 1327. Vielleicht wäre er eine unbedeutende Fussnote der Geschichte geblieben, hätte er nicht durch die besondere Art seiner Günstlingswirtschaft je nach Standpunkt Interesse, Anteilnahme oder Abscheu erregt. Erziehung durch seine Eltern hat er wenig genossen, seine Mutter starb, als Edward sechs Jahre alt war, sein Vater, König Edward I., weilte oft auf Kriegszügen im Ausland und kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Schon früh wurde Edward allerdings zum ersten Prinzen von Wales ernannt, sein Vater übertrug ihm die Regentschaft während seiner Abwesenheiten. Als Edward I. 1307 starb, stieg der Prinz of Wales als Edward II. auf den englischen Thron. Aus politischen Gründen war bereits 1299 eine Heirat mit Isabelle de France, der Tochter Philipps IV. vereinbart worden, welche dann 1308 vollzogen wurde. Eine der ersten Amtshandlungen Edwards II. war, seinen Vertrauten Piers de Gaveston aus dem Exil zurückzuholen, in welches ihn Edward I. (dem die enge Verbindung Gavestons und seines Sohnes nicht behagt hatte) geschickt hatte. Edward II. überhäufte seinen Schützling Gaveston mit Ämtern und Einfluss. Das war den Magnaten im Reich ein Dorn im Auge, zumal Gaveston sehr selbstherrlich, überheblich und machtgierig agierte. Der Zwist zwischen Adel (welcher dem König eigentlich zu Gehorsam verpflichtet war) und den Kreisen um Edward II. und Gaveston brach offen aus. Schliesslich geriet Edward dermassen unter Druck, dass er der erneuten Verbannung Gavestons zustimmen musste. Doch Edward hielt sich nicht an die Vereinbarung, holte Gaveston zurück. Dies brachte den Bischof von Coventry auf die Palme, welcher nun den Adel dazu überredete, Gaveston gefangen zu nehmen. (Gerüchte um eine sexuelle Beziehung zwischen dem König und Gaveston machten nun offen die Runde.) Gaveston wurde schliesslich gestellt und auf Betreiben des Erzbischofs und des Earls of Lancaster hingerichtet. Zudem wurde der Earl of Lancaster Vorsitzender des königlichen Rats. In der Folge arrangierte sich Edward mit dem Adel, vergab ihnen gar die Ermordung seines Geliebten Gaveston– scheinbar. Denn Edward holte sich schon bald weitere Günstlinge und Einflüsterer an seinen Hof, vor allem die Despensers, Vater und Sohn. Hugh le Despenser (Spencer) der Jüngere, übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf den König aus und schaffte sich durch Anhäufung von Ländereien Einfluss und Macht. Es kam zu den „Despenser Wars“, einem Angriff des alten Adels auf die Despensers. Schliesslich musste der König erneut der Abschiebung ins Exil eines Günstlings und vermutlichen Liebhabers zustimmen. Doch auch diesmal hielt er sich nicht an die Vereinbarung und holte Hugh le Despenser schon bald wieder zurück. Dies führte zum Bürgerkrieg, den Edwards Truppen gewannen, Lancaster gefangen nahmen und hinrichteten. Edward und die Despensers herrschten nun beinahe absolutistisch und tyrannisch, die Adelsopposition fiel in sich zusammen. Doch nach einem Konflikt mit Frankreich schickte Edward seine Gattin Isabelle dahin, um einen Frieden auszuhandeln. Gleichzeitig entkam Roger Mortimer (einer der aufständischen Adligen) aus dem Tower und gesellte sich zu Isabelle (mit der er ein Verhältnis hatte). Der Sohn Edwards, der spätere König Edward III., befand sich ebenfalls in Frankreich und weigerte sich, zu seinem Vater zurückzukehren. Mortimer und Isabelle scharten Truppen um sich und beauftragten Henry von Lancaster, den Bruder des hingerichteten Thomas von Lancaster, Edward II. und seinen Günstling Hugh le Despenser zu verhaften. Despenser wurde hingerichtet, Edward auf Berkeley Castle inhaftiert und zur Abdankung gezwungen, u.a. wegen Unfähigkeit, Habgier, Grausamkeit und „unwürdigen Tätigkeiten“, was eine klare Anspielung auf seine Sexualität darstellte. Am 21. September 1327 wurde berichtet, Edward II. sei gestorben. Es wird kolportiert, man habe ihm eine glühende Eisenstange durch ein abgesägtes Kuhhorn in den After gestossen, um so erstens auf grausame Weise seine Homosexualität zu verspotten und um zweitens äusserliche Gewaltanwendung zu vertuschen.
Der Sohn Edwards II., Edward III., regierte übrigens 50 Jahre lang (beinahe so lange wie Victoria oder Elisabeth II.) und machte aus England eine bestens organisierte militärische und politische Macht. Nach Edward III. kam dessen Enkel Richard II. auf den Thron, doch nach der Ermordung Richards II. brachen die Rosenkriege aus, welche erst 100 Jahre später mit dem ersten Tudor auf dem Thron zu Ende gingen. Der Dominikanerorden und Richard II. hatten beim Papst gar noch eine Heiligsprechung von Edward II. angeregt, die jedoch nie vollzogen wurde.
1592 schrieb der Dichter Christopher Marlowe das Drama EDWARD II., in welchem er für die damalige Zeit ungewöhnlich deutlich die homosexuelle Komponente des Verhältnisses Edwards zu Gaveston und Despenser herausstrich. Bertolt Brecht bearbeitete das Stück 1923 und der Filmemacher Derek Jarman verfilmte es in einer eigenwilligen, schwül-morbiden Adaption 1991 und förderte damit den Status Edwards II. als Ikone der Schwulenbewegung.