Basel: LULU, 15.02.2009
Unvollendete Oper in drei Akten
Musik: Alban Berg
Text: vom Komponisten, nach Wedekinds ERDGEIST und DIE BÜCHSE DER PANDORA
Uraufführung: Fragment: 2. Juni 1937 in Zürich,
vollständige Fassung (Cerha): 24. Februar 1979 in Paris (Boulez/Chéreau)
Aufführungen in Basel: 21. 2. | 26.2. | 9.3. | 15. 3. | 4.4. | 7.4. | 4.5. | 7.5. | 10.5. | 16.5. | 23.5.
Kritik:
Gleich zu Beginn dieser Aufführung wird klar, worum es im Stück von Alban Berg und worum es dem Regisseur Calixto Bieito geht: Um das animalisch-triebhafte der menschlichen Sexualität. Nicht mehr und nicht weniger. Es fallen die Hüllen, die Seelen entblössen sich. Alfons Flores hat ein raffiniertes Bühnenblid geschaffen, einen Plexiglasboden umrahmt von einer Metallkonstruktion, gleichsam ein von allem Überflüssigen befreites Skelett. Genauso brutal werden die Psychen der Handelnden seziert. Mit Leuchtröhren von unten und von oben werden spannende Stimmungen erzeugt, einige mit raffiniert eingebetteten pornographischen Darstellungen versehene Videoprojektionen bebildern die sinfonischen Zwischenspiele, wenige Möbelstücke und Müllsäcke reichen aus, um die verschiedenen Schauplätze anzudeuten, den Aufstieg und Fall einer sexuell entfesselten Frau.
LULU kann nur aufgeführt werden, wenn eine Vollblut Darstellerin zur Verfügung steht – und Marisol Montalvo IST eine solche, ein Glücksfall erster Güte. Sie hat diese Frauengestalt vollkommen verinnerlicht, ist Schmeichlerin, devote Geliebte, verletzte Frau und Mörderin, besitzt die sexuelle Anziehungskraft, vermag damit zu spielen und geht damit auch auf ergreifende Art zu Grunde. Manchmal erinnert sie an Josephine Baker, vor allem in der Szene im Varieté, wo sie, im goldenen Käfig sitzend, Dr. Schön und seine Verlobte im Publikum erblickt, ihn von neuem für sich gewinnt und nötigt, seine Verlobung per SMS aufzulösen. Stimmlich ist Mariso Montalvo dieser immens schwierigen Partie bis hin zu den blitzsauberen Koloraturen gewachsen, singt und spielt mit atemberaubender Leichtigkeit, vermag zu ekeln und zu berühren. Das ist ihr grosses Verdienst, aber auch dasjenige des Regisseurs, welcher die archaische Handlung geradlinig grausam auf die Bühne des Basler Theaters stellt.
Der Protagonistin steht ein ebenso hochkarätiges Ensemble zu Seite. Claudio Otelli ist hervorragend als Dr. Schön, spielt und singt diesen dubiosen Charakter glaubwürdig; im letzten Akt tritt er dann auch als Lulus Mörder Jack the Ripper auf. Sein Sohn Alwa wird von Erin Caves – trotz einer grippalen Indisposition – intensiv dargestellt. Rolf Romei brilliert mit tenoralem Glanz als Maler/Neger. Die zwielichtige Entourage der Lulu wird von Allan Evans als Schigolch angeführt, dem zu Recht vom Publikum besonders herzlich applaudiert wurde. Dazu gesellen sich Andrew Murphy als Rodrigo/Tierbändiger, Aurea Manson als Gymansiastin und vor allem Tanja Ariane Baumgartner, welche der Gräfin Geschwitz durch Spiel und Stimme ein echt berührendes Profil verleiht.
Einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Gelingen des Abends hat natürlich auch das Sinfonieorchester Basel unter Gabriel Feltz. Orchester und Dirigent liessen die anspruchsvolle Partitur so leicht und selbstverständlich klingen, als gehöre sie zu ihrem Standardrepertoire. Einmal mehr wurde deutlich, wie intensiv alle Beteiligten, von Technik, Maske, Requisite, Kostüm bis zu hin zu Musikern und Sängern bei einer Opernaufführung Hand in Hand arbeiten müssen, um eine solch herausragende Aufführung zustande zu bringen.
Das Premierenpublikum verdankte den aufwühlenden, herausfordernden Abend mit lang anhaltendem, enthusiastischem Applaus.
Eine kleine Anmerkung sei erlaubt:
Zürich und Basel brachten am selben Wochenende verdientermassen zwei bedeutende Werke des 20. Jahrhunderts zur Aufführung, Zürich Strawinskys rückwärtsgewandten, neoklassizistischen RAKE’S PROGRESS vor deutlich gelichteten Zuschauerreihen, Basel Bergs anspruchsvolle, zukunftsgerichtete LULU vor voll besetzten Rängen. Basel hatte in jeder Beziehung die Nase vorn – das spricht für dieses Haus, aber auch für das viel aufgeschlossenere Publikum!
Fazit:
Eine Oper, die nicht kalt lässt – packendes Musiktheater. Das Theater Basel hat viel gewagt – und gewonnen!
Inhalt:
Lulu, diese Urgestalt des Weibes, ist Schlange, Verführerin, geschaffen Unheil anzurichten, zu vergiften, zu morden, oder die ihr Verfallenen in den Selbstmord zu treiben. Keiner ist ihr gewachsen: Ihren ersten Mann trifft der Schlag, der zweite bringt sich um, der dritte wird von ihr ermordet. Sie birgt als Büchse der Pandora alle Übel dieser Welt, funktioniert aber auch als Wunschmaschine und Projektionsfläche der sie umgebenden, männlich beherrschten Welt. Dem gesellschaftlichen Aufstieg folgt die Gosse: In London wird sie zusammen mit der ihr hündisch ergebenen Lesbierin Gräfin Geschwitz vom Lustmörder Jack the Ripper ermordet.
Werk:
Berg legt seiner Komposition eine einzige Zwölftonreihe zu Grunde, durch Mutationen erfährt sie manche Veränderungen, er entwickelt leitmotivartige Klänge und Akkorde, die er den Protagonisten zuordnet. Die musikalische Gestaltung ist neben polyphon atonalen Klängen auch durchsetzt mit in Dur-Moll Tonalität angenäherten Ariosi, Duetten, Kanzonen und choralartigen Elementen. Zudem erfand er mit dem Monoritmica, einem vom Fünfvierteltakt beherrschten Melodram, ein zusätzliches Gestaltungselement. Zusammengehalten werden diese Elemente von ausgedehnten sinfonischen Zwischenspielen, so dass die musikalische Struktur einem grossen Spiegel gleicht.
Berg hinterliess den dritten Akt nur als Fragment, seine Witwe Helene Berg setzte ein testamentarisches Komplettierungsverbot durch. Erst nach ihrem Tod 1976 kam eine aussergerichtliche Einigung mit der Alban Berg Stiftung zustande und die von Friedrich Cerha vollendete LULU konnte in 1979 Paris uraufgeführt werden.