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Winterthur, Stadthaus: TOD UND TRAUER (Cherubini, Mahler, Holliger, Honegger), 31.01.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Ravel Mahler Mendelssohn

Applausbilder, 31.1.24: K. Sannemann

Huw Montague Rendall singt Mahlers KINDERTOTENLIEDER, Roberto González-Monjas leitet das Musikkollegium Winterthur

Werke:

Luigi Cherubini: MARCHE FUNÈBRE | Uraufführung 1820 in Paris | Gustav Mahler: KINDERTOTENLIEDEDR | Uraufführung: 29. Januar 1905 in Wien | Heinz Holliger: OSTINATO FUNEBRE | Uraufführung: 6. September 1991 an den Settimane musicali di Ascona | Arthur Honegger: SYMPHONIE NR. 3 "LITURGIQUE" | 17. August 1946 in Zürich | Dieses Konzert in Winterthur: 31.1. | 1.2.2024

Kritik: 

KLUG DURCHDACHTE, ANSPRUCHSVOLLE PROGRAMMGESTALTUNG

Einmal mehr bestechen das Musikkollegium Winterthur und sein Chefdirigent Roberto González-Monjas mit einer Programmgestaltung, die es in sich hat: Rund um Tod und Trauer kreist dieser eindringliche, bewegende Konzertabend, der lange nachhallte. Wie schon so oft in den Konzerten des Musikkollegiums ist da von Beliebigkeit oder Gefälligkeit oder gar Anbiederung an den Massengeschmack (Kriterien, die man oftmals bei anderen Konzertveranstaltern feststellt) keine Spur. Hier werden hohe Ansprüche an die Ausführenden und ans Publikum gestellt - und auch eingelöst. Das mag bei Musik, die etwas abseits der ausgetretenen Pfade des Klassikzirkus liegt, zunächst den Publikumsandrang etwas dämpfen; man darf jedoch hoffen, dass sich die hohe Qualität und Originalität dieser Programme herumspricht und das allgemeine Interesse steigen wird.

STAATLICHES KALKÜL VERSUS LEID DES INDIVIDUUMS

Im ersten Konzertteil wurde der MARCHE FUNÈBRE, den Luigi Cherubini anlässlich der staatlichen Trauerfeier für den ermordeten Bourbonenherzog Berry komponiert hatte, Mahlers KINDERTOTENLIEDERN gegenübergestellt. Die beiden so unterschiedlich die Trauer über einen Verlust von Menschenleben ausdrückenden Stücke wurden attacca gespielt, also ohne Pause. Der Bariton Huw Montague Rendall nahm bereits zu Cherubinis Trauermarsch auf dem Podium Platz. Das war nur schon deshalb eine grossartige Idee, weil man direkt die unterschiedliche musikalische Verarbeitung von Trauer miterleben durfte. Bei Cherubini erklang ein wuchtiger Beckenschlag zu Beginn, auf den eine wie kalkuliert Trauer ausdrückende Kantilene der Streicher folgte. Das verfehlt natürlich die Wirkung auf den Hörer nicht, wirkt jedoch plakativ, wie wenn jemand uns befehlen wollte, nun traurig zu sein. Allerdings bewunderte man den warmen, ja geradezu einschmeichelnden Klang der Streicher des Musikkollegiums Winterthur. Roberto González-Monjas´arbeitete die kontrastreiche Dramatik des Stücks wirkungsvoll heraus, liess die Pauken grollend den tröstlichen Zug der Streicher untermalen. Der so überaus effektvoll verhallende Beckenschlag am Ende wurde leider durch das Klingeln eines Smartphones empfindlich gestört. Zu diesem leidigen Thema werde ich später noch mehr schreiben.

Eine ganz anders empfundene Trauer drückte Gustav Mahler in seinen - hier ohne Unterbruch auf Cherubini folgenden - KINDERTOTENLIEDERN aus: Hier ist es ein Elternteil, der den Tod der Kinder zu verstehen, zu verarbeiten versucht. Gustav Mahlers Umsetzung seiner Auswahl von fünf Liederen aus den über 400 Gedichten, die Rückert über den Verlust seiner beiden Kinder verfasst hatte, ist von bewegender, direkt zu Herzen gehender Schlichtheit geprägt. Und dies obwohl Mahler ein gross besetztes Orchester einsetzte, sich jedoch durch die Instrumentierung und die Vortragsbezeichnung einen schlanken Orchesterklang wünschte. Diesen evozierten Roberto González-Monjas und das wunderbar feinfühlig intonierende Musikkollegium ganz vortrefflich. Der wunderbar warm timbrierte Bariton von Huw Montague Rendall erklang so perfekt eingebettet in den Gesamtklang. Aus der stimmigen Artikulation des Baritons Huw Montague Rendall und seiner gekonnt mit subtiler stimmlicher Dynamik interpretierenden Gestaltungskraft resultierte eine bewegende Wiedergabe dieser Lieder des individuellen Leids. Man spürte förmlich eine Betroffenheit, die eben nicht kalkuliert wirkte, sondern echt. Im ersten Lied Nun will die Sonn' so hell aufgeh'n drang das dem Text inhärente Selbstmitleid gekonnt verhalten durch. Aufhorchen liessen die wunderbar sauber intonierten Einwürfe der Hörner. Bei allen Liedern vermochte der leicht offen gehaltene Schluss, das Verklingen zu überzeugen. Im zweiten Lied Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen liess Rendall ein wunderbares, lang anhlatendes stimmliches Crescendo erklingen, das so wunderbar organisch und natürlich und in keiner Weise affektiert klang. Gelebte, ergreifende Gestaltung prägte auch das dritte Lied Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein. Im vierten Lied Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen, das eine gewisse Verleugnung der Realität ausdrückt, stach neben der Feinfühligkeit des Gesangs Rendells der wunderbar herausgearbeitete Bläsersatz ins Ohr. Ganz plastisch, ja geradezu naturalistisch gelang die Interpretation des letzten Lieds Bei diesem Wetter, in diesem Braus: Ohne Affektiertheit oder Manierismus wurden mit Zurückhaltung Eindringlichkeit und Betroffenheit erreicht. Das Nachspiel mit der wunderbar interpretierten Kantilene der Celli und dem dezent begleitenden Blech war von exquisiter Klangqualität! Roberto González-Monjas achtete mit stupender Aufrechterhaltung der Spannung, dass der Applaus nicht zu früh einsetzte, dass das Werk und dessen Inhalt kurz nachwirken konnte, dass Zeit zur inneren Einkehr blieb. Verdienter Applaus für alle Ausführenden, insbesondere für den am letzten Wochenende als bester Nachwuchssänger bei der Verleihung der Opera! Awards in Amsterdam ausgezeichneten Bariton Huw Montague Rendall . (Er hat übrigens vor ein paar Jahren am Internationalen Opernstudio Zürich studiert und hatte einige Auftritte am Opernhaus Zürich, z.B. als Fürst Yamadori in der BUTTERFLY oder als Masetto in der Gala mit Cecilia Bartoli.)

VERSTÖRENDE STILLE UND AUFLEHNUNG 

Nach der Pause richtete Roberto González-Monjas zuerst einige Worte ans Publikum, um die beiden Werke, die nun noch folgen sollten, zu erläutern: Heinz Holligers OSTINATO FUNEBRE und Arthur Honeggers SYMPHONIE LITURGIQUE. Zu Holligers Werk sagte der Dirigent, dass es sich um die Klänge einer gequälten Seele handle (das Abgleiten des Dichters Friedrich Hölderlin in die geistige Umnachtung). González-Monjas betonte, dass es sich um eine sehr stille Musik handle, eine Musik die höchste Konzentration erfordere und man deshalb bitte das Handy ausschalten sollte. Kaum hatten sich die Musiker*innen und der Dirigent gesammelt, erste Geräusche und Bruchstücke von Phrasen zum Erklingen gebracht, schallte natürlich prompt ein Klingelton durch den Stadthaussaal. González-Monjas brach sofort ab, wandte sich nochmals mit der erwähnten, eindringlichen Bitte ans Publikum. Ich hoffe nur, dass es dem/der Betroffenen peinlich war. Mein Gott, es ist doch nicht so schwierig, den Flugmodus zu aktivieren, sobald man einen Konzertsaal betritt. Wer das nicht schafft, dem sollte man kein Smartphone in die Hände geben, bevor er nicht einen Bedienungstest bestanden hat!

Beim zweiten Anlauf ging dann aber alles gut. Holligers OSTINATO FUNEBRE machte grossen Eindruck, jedenfalls blieb es sieben Minuten lang mucksmäuschenstill im Saal. Das unglaublich leise Stück lebt nur von Geräuschen (Laub, Wasser, Wind) und wie in den Kopf hinein- und wieder herausfliegenden, zertrümmerten Motiven aus Mozarts MAURERISCHEN TRAUERMUSIK. Das Werk spiegelt eine Art Folter des Hirns, welche Menschen, die in den Wahnsinn abgleiten, verspüren müssen. Ganz stark! Die konzentrierte Leistung aller Musiker*innen des Musikkollegiums verdient höchste Anerkennung. Vielleicht wäre es noch erhellend gewesen, auch Mozarts Stück zu spielen. Denn wenn man sich die beiden Werke nacheinander anhört (ich habe das als Vorbereitung auf das Konzert auf YouTube gemacht, erst den Holliger, dann den Mozart), erkennt man, wie genau Holliger den Duktus und die Motive Mozarts aufgenommen und sie dann quasi in ihre Elementarteile zerlegt hat. Grossartig!

Arthur Honeggers dritte Sinfonie, diese Auflehnung gegen den Krieg, aufgeteilt auf drei Sätze eines Requiems, bildete den überwältigenden Schlussteil dieses Programms über Tod und Trauer. Mit grellen Aufschreien, untermalt mit markanten Rhythmen beginnt das Dies irae. Roberto González-Monjas und das Musikkollegium Winterthur verfallen glücklicherweise nie in einen plakativ- stampfenden Duktus, die klangliche Transparenz bleibt stets gewahrt. Im zweiten Teil De profundis clamavi steigt ein dumpfes, anklagendes Gebet aus den tiefen Instrumentengruppen auf, wird von den Violinen mit heller Gesanglichkeit aufgenommen. Mit unerbittlichen dynamischen Steigerungen legen die Motive an Emphase zu, die Musik quält sich erneut ins Grelle, schreitet gnadenlos voran, geht an die Schmerzgrenze, bevor sie in Verlorenheit verhallt. Mit prägnanten Ostinati setzt das Dona nobis pacem ein. auch hier wieder ein sich dynamisch steigernder Rhythmus, der in ein langes Crescendo, ja einen Klangstrudel mündet. Roberto González-Monjas bleibt auch in dieser teils lärmigen Beklemmung klar strukturiert formend; das ist von gewaltiger Eindringlichkeit geprägt, aber nie überzeichnet. In einem gewaltigen Glissando des ganzen Orchesters bricht der Strudel ab und mündet in versöhnlichere Klänge, in verhaltene Freude nach so viel Leid. Doch die Freude ist bei weitem nicht strahlend, keine brucknersche Apotheose, nein, sie wird durch Dissonanzen der Holzbläser und grummelnde Pauken in Frage gestellt. Die Violinen versuchen zwar, einen Hoffnungsschimmer in allerhöchsten Lagen zu verbreiten, doch kommen sie gegen die Dissonanz nicht an. Wiederum schafft es der Dirigent, die Spannung eine halbe Minute zu halten, bevor der Applaus einsetzt. 

Fazit: Solche Konzerte sind zugegebenermassen keine leichte Kost, aber überaus lohnenswerte, nachhaltige und bereichernde Erfahrungen. Das Musikkollegium Winterthur spielt in bestechender Form!!!

Werke:

Luigi Cherubini ((1760-1842) ist heutzutage vor allem noch durch seine Oper MEDEA ein Begriff. Neben der MEDEA schuf er aber noch rund 30 weitere Opern, zahlreiche Messen, zwei Requien und viel Kammermusik. Von Beethoven wurde er wegen seiner dramatischen Ausdruckskraft bewundert. Den MARCHE FUNÈBRE komponierte er für die Trauerfeierlichkeiten von Charles Ferdinand von Bourbon, Herzog von Berry. Dieser war am 13. Februar beim Verlassen der Pariser Oper durch einen Anschlag des Sattlers Louis-Pierre Louvel tödlich verwundet worden und erlag am 14. Februa1820 den Verletzungen. Bei den Trauerfeierlichkeiten für Charles Ferdinand, den jüngeren Sohn des späteren Königs Karl X., erklang neben dem Marche funèbre das Requiem in c sowie ein In paradisum, das Cherubini ebenfalls für diesen Anlass komponiert hatte. Der regelmässige durchdringende Schlag des Tamtams mit anschliessendem Paukenwirbel, dunkle Klangfarben und schmerzhafte Dissonanzen prägen den Trauermarsch.

Gustav Mahlers (1860-1911) grosse Liedzyklen stehen oft in engen Beziehungen zu seinen Sinfonien. In den KINDERTOTENLIEDERN erinnert zum Beispiel das Glockenspiel im ersten und letzten Lied an die vierte Sinfonie, die Kantilene der Celli im Nachspiel zum letzten Lied nimmt das Hauptthema des Finales der dritten Sinfonie auf. Mahler hat die fünf Lieder sehr sparsam instrumentiert, löst aber damit und auch mit dem begrenzten tonalen Bereich, den er verwendete, schmerzvolle Emotionen beim Zuhörer aus. Bei den KINDERTOTENLIEDERN handelt es sich um fünf Gedichte von Friedrich Rückert, welche Mahler zwischen 1901 und 1904 vertonte. Mahler fühlte sich von Rückerts Gedichtsammlung persönlich betroffen, hatte er doch in seiner Kindheit sechs seiner elf Geschwister verloren. Alma Mahler hatte Gustav noch gewarnt, er soll nicht den Teufel an die Wand malen. Vergeblich: Mahlers Tochter Anna-Maria starb im Alter von vier Jahren nur wenige Jahre nach Abschluss der Komposition. Der deutsche Dichter Friedrich Rückert hatte nach dem Tod seiner beiden Kinder, die an Scharlach verstarben, 428 Gedichte unter dem Titel KINDERTOTENLIEDER verfasst, welche Mahler zutiefst berührten.

Der Schweizer Komponist, Oboist und Dirigent Heinz Holliger kam 1939 in Langenthal zur Welt. Sein OSTINATO FUNEBRE "ist ein Reflex auf die "Maurische Trauermusik" von Wolfgang Amadeus Mozart. Die Form von Holligers Werk entspricht exakt der der Vorlage und ihre Motive werden auf eindringliche Werse zitiert, verzerrt, zerschlagen." (Beschreibung des Musikverlags Schott). Interessant ist die Orchesterbesetzung, die neben den traditionellen Instrumenten des Orchesters u.a. Darabukka · Schwirrholz · Windgeheul (Plastik-Schläuche) · Superball ·  Sandpapier · Wellkarton ·  Marimba · Wassergong und  Naturlaute  wie dürres Laub in Schachtel · dürre Zweige · Glasscherben/Steinchen in Metallmörser · Sand/Steinchen auf Tambourin · Wasser in Flaschen zum Giessen auf gut resonierender Unterlage vorsieht.

Auch Arthur Honegger (1892-1955) war ein Schweizer Komponist. Er schloss sich nach seinem Studium bei Vincent DÎndy in Paris der Komponistengruppe GROUPE DES SIX an (der neben ihm u.a. auch Poulenc und Milhaud angehörten). Die Gruppe lehnte die romantische Musik und vor allem den Wagnerismus ab und suchte neue Inspirationen in der Unterhaltungsmusik, im Jazz und anderen zeitgenössischen Stilen der 1920er Jahre. Später verfolgten die Mitglieder ihre eigenen Wege, der Freundeskreis blieb jedoch erhalten. Arthur Honegger war ein äusserst vielseitiger Komponist, versuchte sich erfolgreich in diversen Genres. Er komponierte für den Film, für das Radio, schrieb Bühnenmusiken, Sinfonien, Opern und Oratorien. Das szenische Oratorium LE ROI DAVID wurde zu einem seiner erfolgreichsten Werke. Wichtige Anregungen fand er in der Polyphonie eines Johann Sebastian Bach, aber auch im Jazz und im Neoklassizismus eines Stravinsky. Seine dritte Sinfonie entstand 1945/46 unter dem Eindruck des Völkermordes des zweiten Weltkriegs und ist wie eine Totenmesse aufgebaut. Der erste Satz, DIES IRAE, schildert Gewalt und Verwüstung. Der zweite Satz, DE PROFUNDIS CLAMAVI, ist Ausdruck der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung. Im dritten Satz, DONA NOBIS PACEM, wird der gequälte, aber sich gegen alle Ungerechtigkeit wehrende Mensch ins Zentrum gestellt, der in der inneren Ruhe den Frieden und einen hoffnungsvollen Ansatz für eine bessere Welt findet. Honegger widmete das Werk dem Dirigenten Charles Münch, der dann auch die Uraufführung dieser ergreifenden Sinfonie in Zürich leitete.

Karten

 

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