Luzern, KKL: SCHUMANN | BRAHMS, 23.08.2023
Mahler Chamber Orchestra | Daniel Harding| Daniil Trifonov
Robert Schumann: Ouvertüre zum dramatischen Gedicht MANFRED op. 115 | Uraufführung: 14. März 1852 in Leipzig, unter der Leitung des Komponisten | Klavierkonzert in a - Moll | Uraufführung: 4. Dezember 1845 in Dresden (mit seiner Frau Clara Schumann als Solistin) | Sinfonie Nr.3 in F-Dur, op.90, Uraufführung: 2. Dezember 1883 in Wien unter Hans Richter
Kritik:
ASPEKTE DER ROMANTIK
Das Mahler Chamber Orchestra mit seinem Conductor Laureate Daniel Harding und der Pianist Daniil Trifonov spürten gestern Abend im KKL Luzern der romantischen Seele nach, tauchten tief ein in pastorale Idyllen, Mittelaltersehnsucht, aber auch in Wahn, Sonnambulismus, ergründeteten Fantasie- und Gegenwelten, zeigten den sensiblen Menschen in seinem Streben nach Erkenntnis. Dieser Seelentrip durch die Welt der Romantik erfolgte in drei Werken von zwei Exponenten der romantischen Epoche, nämlich von Robert Schumann und dem von ihm geförderten Johannes Brahms.
Exemplarisch für das Thema des Abends bereits der Auftakt zum Konzert: Schumanns Ouvertüre zur Schauspielmusik zu Lord Byrons dramatischem Gedicht MANFRED. Düster und abgründig erklang das eröffnende Thema, Manfred will sich von der Jungfrau in den Tod stürzen, wird vom Gamsjäger gerettet. Danach folgt eine Achterbahnfahrt der Gefühlswelten dieses labilen byronschen "Helden". Wunderbar subtil intonierte das Mahler Chamber Orchestra die Geisterwelten, welche Manfred anruft. Daniel Harding arbeitete die dynamischen Kontraste feinfühlig heraus, ohne in plakative Expressivität zu verfallen. Er und sein Orchester nahmen die Zuhörer*innen mit in eine expressive Klanglandschaft, in welcher man die Stimmungen wahrnahm, auch wenn man mit dem Inhalt der Literaturvorlage nicht vertraut war. Die MANFRED-Ouvertüre ist ein fesselndes Stück, das zum intensiven Zuhören einlädt - und genau dies gelang Daniel Harding und dem Mahler Chamber Orchestera hervorragend. Gerade das beinahe unhörbare Verklingen am Ende, das Aushauchen des Lebens und das Entschwinden der Seele waren von einer delikaten Tongebung der Extraklasse, wie sie eben nur ein Spitzenorchester vom Rang des Mahler Chamber Orchestras zustande bringt.
Während der MANFRED-Ouvertüre Schumanns zugegebenermassen auch eine gewisse, für Schumanns Spätwerk typische, aber irgenwie geradezu moderne Sperrigkeit innewohnt, ist das zwiwchen 1841 und 1845 entstandene Klavierkonzert leichter zugänglich. Mit den souveränen Akkord-Kaskaden der Eröffnung des Kopsatzes und dem Einstieg ins Hauptthema nahm der Pianist Daniil Trifonov das Publikum auf Anhieb gefangen und man lauschte während der folgenden guten halben Stunde gebannt dem intensiven Dialog zwischen Solist und Orchester, ein Dialog, der mit einer exzeptionellen Selbstverständlichkeit und uneitlen Natürlichkeit daherkam, die bass erstaunte. Die schnellen Passagen in den Ecksätzen wurden nie zu virtuosen Showcases, Dirigent und Solist waren perfekt aufeinander abgestimmt, es war ein Musizieren im gegenseiteigen Aufgehoben sein und geprägt von immensem Vertrauen - das Resultat schlicht von überwältigender Kraft und Eindringlichkeit. Grossen Anteil am intensiven Hörerlebnis hatten die Musiker"innen des Mahler Chamber Orchestras, die an allen Pulten mit aufregenden und stimmungsvoll intonierten Passagen glänzten, besonders erwähnenswert die Oboe, welche oftmals die Themenvorgabe lieferte, welche dann vom Solisten und dem Orchester aufgnommen wurde. Als Trifonov dann zur Kadenz ansetzte, erklang ein Klavierspiel, das nicht von dieser Welt schien, die endlosen, blitzsauber ausgeführten Triller der einen Hand in perfekter Harmonie mit den Akkorden und Phrasen der anderen Hand. Im Mittelsatz, dem Intermezzo (Andantino grazioso), wurde von den Ausführenden gekonnt der lyrischen, introspektiven Stimmung nachgespürt, ein Moment der Ruhe evoziert, bevor sie in den brillant ausgeführten Finalsatz einstiegen. Auch iin diesem Allegro Vivace dosierte Daniel Harding mit fantastischer Feinfühligkeit die Dynamik, liess das Orchester nie überbordend laut werden, setzte die Effekte der Erstrahlung des Hauptmotivs mit subtiler Differenzierungskunst, so dass das Thema auch Schattierungen annahm, die in ihren Vielschichtigkeiten eben der romantischen Seele entsprachen.
Daniil Trifonov liess sich durch den begeisterten Applaus natürlich zu einer Zugabe bewegen: Mit fantastischer Schlichtheit und exquisiter Anschlagstechnik spielte er die für Klavier arrangierte Rondo-Gavotte aus der Partita für Solovioline Nr.3, BWV 1006 - man hätte dem einfühlsamen, unprätentiösen Meisterpianisten noch länger zuhören können.
Nach der Pause dann Brahms dritte Sinfonie, ein Werk, dem oft nachgesagt wird, es sei zu lieblich, zu pastoral gehalten. Daniel Harding und das Mahler Chamber Orchestera arbeiteten selbstredend diese Aspekte der Hochromantik heraus, daneben aber gab es zu Recht auch Passagen der Schauerromantik (wie zu Beginn in Schumanns MANFRED-Ouvertüre) zu erleben. Brahms liess ja alle vier Sätze still und verhalten verklingen, kein "vom Dunkel ins Licht", kein Pathos, keine Verklärung in Apotheosen wie bei seinem "Konkurrenten" Bruckner, dafür brillante, durchdachte Orchestrierung und Formvollendung. Wie oft bei Brahms' Werken ist der romantische Klang der Hörner sehr wichtig - und mit dem stupenden Hornquartett des Mahler Chamber Orchestras gerieten diese wichtigen Passagen zum Ereignis. Nach dem reichhaltig instrumentierten Kopfsatz in Sonatenform folgte das lyrische Andante, dessen von den Holzbläsern meisterhaft hervorgezauberte Idylle immer wieder durch geisterhafte Streicherpassagen aufgebrochen und konterkariert wurde. Das melancholische, wie ein elegischer Walzer daherkommende Poco Allegretto ist eines von den Musikstücken, die, einmal gehört, immer im Ohr haften bleiben - kein Wunder hat es Anatol Litvak in seine Verfilmung von Françoise Sagans Roman AIMEZ-VOUS BRAHMS? integriert. Volle orchestrale Brillanz dann im Finalsatz mit seinen strahlenden Choralpassagen, der reichhaltigen Harmonik, den einladenen Fanfaren-Klängen, den Hornrufen und den rasanten Streichertriolen und der dichten, meisterhaften Coda, in welcher am Ende das Motiv des Kopfsatzes verklärt, beruhigt und doch fragend aufleuchtet. Schlicht und einfach bewegend.
Obwohl dieses Konzert des Lucerne Festivals mit Kartenpreisen bis Fr. 200.00 zu den "billigeren" des diesjährigen Festivals gehörte, war es beileibe nicht ausverkauft. Auch für die anderen Konzerte (mit Kartenpreisen bis Fr.320.00) gibt es noch freie Plätze. Das stimmt nachdenklich und besorgniserregend für die Zukunft des Klassikbetriebes.
Werke:
Robert Schumann (1810-1856) schrieb seine vom gleichnamigen Poem Lord Byrons inspirierte Schauspielmusik MANFRED in den Jahren 1848 bis 1852. Schumann verstand diese Komposition als etwas “Neues und Unerhörtes”, wie er an Franz Liszt schrieb. Keine Oper, kein Melodram, sondern ein “Dramatisches Gedicht mit Musik” sollte sie sein. Nachdem Schumann die Uraufführung der Ouvertüre in Leipzig dirigiert hatte, brachte Franz Liszt im Weimarer Hoftheater das ganze Werk zur Uraufführung. Es ist in eine Ouvertüre und drei Abteilungen gegliedert, mit diversen Solonummern und Chorpassagen. Leider wird es heutzutage kaum mehr als Ganzes aufgeführt, die Ouvertüre hingegen ist fester Bestandteil des Konzertrepertoires.
Byron schildert in seinem hochromantischen Gedicht, das sowohl von Goethes FAUST und der englischen Schauerromantik als auch von Byrons Aufenthalt in der Schweiz und seinen Bergwanderungen inspiriert ist, die Qualen der labilen Figur von Manfred, Der leidet an Weltschmerz und am frühen Tod seiner Geliebten. Er sucht in Geisterbeschwörungen und Feen-Befragungen Erkenntnis. Als er keine Antworten findet, will er sich in den Berner Alpen (Jungfrau) in den Tod stürzen, wird von einem Gamsjäger gerettet und wird schliesslich in seinem gotischen Schloss von einem Abt aufgesucht, der ihn zur Busse (für die Anrufung dunkler Mächte) bewegen will. Manfred lehnt das Angebot ab. Im Todeskampf trotzt Manfred jedoch auch den finsteren Dämonen, die sich seiner Seele bemächtigen wollen. Er stirbt und der Abt fragt sich, wohin Manfreds Seele nun wandern würde.
Robert Schumann hatte zwar viele Kompositionen für Klavier geschrieben, allein ein Klavierkonzert fehlte noch in seinem reichhaltigen Oeuvre. Einsätzige Arbeiten wurden von seinen Verlegern zurückgewiesen, erst als er die Phantasie für Klavier und Orchester in a-Moll zu einem dreisätzigen Werk erweiterte, stellte sich der Erfolg ein. Dabei arbeitete Schumann (wie auch in seinen anderen Solokonzerten) nach dem Verschmelzungsprinzip, d.h. die traditionelle Satzaufteilung wird in einen grösseren sinfonischen Zusammenhang gestellt. Besonders schön herausgearbeitet hat Schumann darin den reizvollen Kontrast von stürmischem Verlangen und versonnener Träumerei. Biografen sehen im Konzert den Niederschlag von Schumanns Werben um seine Frau Clara Wieck. Sie war es auch, welche sowohl die Phantasie (1841) als auch das fertig gearbeitet Klavierkonzert zur Uraufführung (1845) brachte.
Für seine dritte Sinfonie liess sich Johannes Brahms (1833-1897) etwa sechs Jahre Zeit (die zweite hatte er innerhalb eines Jahres geschaffen). In ihr mischt Brahms liebliche Wendungen mit entrücktem Weltschmerz. Diese Sinfonie führt nicht „durch Nacht zum Licht“, sondern verklingt im Leisen. Bei der Uraufführung störten Anhänger Bruckners und Wagners die Aufführung. Die Sinfonie war höchst umstritten, den einen war sie zu konservativ, die anderen schätzten sie gerade deshalb sehr.
Filmregisseur Anatole Litvak verwendete den dritten Satz aus dieser Sinfonie für sein Melodram Aimez-vous Brahms? (1961) mit Ingrid Bergman, Anthony Perkins und Yves Montand. Auch der Song Love is just a word, welchen Diahann Carroll im Film so toll singt, basiert auf dieser Komposition von Johannes Brahms.