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Buchbesprechung: MUSIK UND HOMOSEXUALITÄTEN, 15.02.2022

Erstellt von Kaspar Sannemann |

Franz Schubert (1797-1828)

Relevanz von Homosexualität für das Leben, Denken und Schaffen komponierender, musizierender und rezipierender Menschen | Ergebnisse von zwei Tagungen an der HfK Bremen 2017/2018 | 25 Beiträge, Aufsätze, Essays zur LBTIQ-Musikwissenschaft | Herausgeber: Michael Zywiedtz (HfK Bremen) und Kadja Grönke (Universität Oldenburg) | Textem Verlag

Der schwule Komponist Hans Werner Henze schrieb in seiner Autobiographie Reiselieder mit böhmischen Quinten: "Eines Tages hat dann wohl die Frau Mamma, die meinige, ihrem Gemahl von irgendwelchen sie beunruhigenden Dingen aus meinem mutterseelenallein und schuldlos sich abspielenden, gänzlich verschwiegenen Privatleben Mitteilung gemacht (...), was zur Folge hatte, dass eines Tages der Meisterpädagoge (gemeint ist der Vater) mich herbeipfiff und mir Unvergessliches sagte: dass 'Leute meines Schlages' ins Konzentrationslager gehörten."

Dass eine solch abscheuliche Äusserung eines Vaters gegenüber seinem Sohn nicht ohne Auswirkungen auf sein Leben und sein Schaffen bleiben kann, ist selbstverständlich. In drei Aufsätzen im Buch Musik und Homosexualitäten wird eine ausführliche und hochspannende Spurensuche der Auswirkungen auf das Werk dieses heutzutage leider zu wenig im Bewusstsein der Öffentlichkeit stehenden, bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts betrieben. Der erste Artikel von Michael Kerstan zu Henze schlägt den Bogen von einem in den USA erschienen Buch (Queering the pitch), in welchem durch das (späte) Outing von Komponisten wie Schubert und Händel das Narrativ heterosexueller (Musik-) Geschichtsschreibung korrigiert werden sollte, zur Untersuchung von homosexuell gefärbten Inhalten in Bearbeitungens des Phaedra-Stoffes von Britten, Bussotti und Henze. In einer spannend zu lesenden Analyse legt der Autor dar, wie der Sohn - Vater - Konflikt, die Sehnsucht nach Liebe und die wechselnden Beziehungen zu jungen Männern Henzes musikalisches Schaffen und seine Wahl der Sujets geprägt hatten. So wurden das Violoncello-Konzert (betitelt mit Liebeslieder) inspiriert durch Henzes Beziehung zu einem englischen Geiger, seine Werke für Gitarre wurden angeregt durch sein Schwärmen für einen neapolitanischen Schlagersänger und das Elogium entstand als Nachruf auf seinen Lebenspartner Fausto Moroni, mit dem er 44 Jahre zusammen gelebt hatte. Antje Tumat geht in ihrem Beitrag dem Thema der sexuellen Befreiung in Henzes Oper Bassariden nach, Klaus Oehl analysiert Henzes Klarinettenkonzert Le miracle de la rose (angeregt durch einen Text von Jean Genet) und weist eine von menschlichen, allegorischen, literarischen "involvments befleckte" Musik nach - und machte mich persönlich dadurch sehr neugierig auf diese Musik. Nicht immer gestaltet sich die Spurensuche nach homosexuellen Aspekten im musikalischen Schaffen so einfach wie im Fall von Komponisten aus dem 20. Jahrhundert (neben den Aufsätzen über Henze finden sich auch genauso spannend zu lesende Beiträge über das Künstlerpaar Benjamin Britten/Peter Pears, über Leonard Bernstein und über das ausufernde Schaffen des Selbstinzenators und Exotikers Kaikhosru Sorabji (Kind eines persischen Ingenieurs und einer englischen Mutter).

Schwieriger wird die Chose, wenn man in der Vergangenheit gräbt, einer Zeit, wo homosexuelle Gefühle unter Verschluss gehalten werden mussten, um nicht völlig von der Gesellschaft ausgestossen zu werden - oder im Gefängnis zu landen, wie Oscar Wilde. Ihm ist denn auch ein Abschnitt im Essay über das "Dandytum" von Gregor Schuhen im Kapitel Manierismen des Buchs gewidmet. In diesem Kapitel ist auch eine hochspannende Untersuchung von Kadja Grönke auf Manierismen in Ken Russells Tschaikowsky-Film The music lovers mit Richard Chamberlain und Glenda Jackson erwähnenswert (für mich ein meisterhafter Film und ein persönliches "Erweckungserlebnis" als Pubertierender). Während bei Tschaikowsky die Sache mit der Homosexualität inzwischen klar scheint, wird es bei Schubert und Händel schon erheblich schwieriger. Lassen die vermeintliche "Feminität" von Schuberts Musik, sein männerbündlerischer Umgang im Privaten und sein Dasein als Single bereits auf Homosexualität schliessen? Oder steckt hinter den späten "Outings" der verstorbenen Komponisten, die sich nicht mehr wehren können, der Wunsch der LGBTIQ Community, unbedingt möglichst viele Künstler als homosexuell zu outen, um dadurch den eigenen Minderheitenstatus zu überwinden? Dieser Frage geht Eva Rieger im ersten Beitrag des Buchs Homosexualitäten im Spiegel der Musikwissenschaft nach. Die Mehrzahlform "Homosexualitäten" wird übrigens als Titel des Buchs verwendet, weil eben in der Vergangenheit gar keine Benennungen der Diversität in der sexuellen Orientierung zur Verfügung standen. Auch Hans-Joachim Hinrichsen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Schubert: Er stellt fest, dass weder Verharmlosung (durch heteronormative Sicht auf das Werk eines Musikers) noch Vereinnahmung durch soziale Gruppen der Gesellschaft uns in der Forschung weiterbringen, sondern man solle durch "methologische Umsicht die Spreu vom Weizen trennen".

Kevin Clarke plädiert in seinem ersten Beitrag dafür, den Aspekt der Homosexualität auch in der Operettenforschung voranzutreiben, galt die Operette doch oftmals als "safe space" für LGBTIQ-People, vor allem in Ländern wie Deutschland (wo der unsägliche, noch aus der Kaiserzeit stammende und von den Nazis noch verschärfte §175 erst 1994 abgeschafft wurde). In Clarkes zweitem Beitrag zu diesem Buch beschäftigt er sich kenntnisreich mit dem Aufdecken von Messages in von Cis-Hetero-Männern verfassten Musicals, legt den "Camp" - Subtext der American Soup Werbung von 1970 mit Ann Miller offen, führt aus, wehalb die karikierende Darstellung heterosexuellen Begehrens Homosexuelle so ungemein ansprach und beschreibt, warum es diese Musicals aus den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ausserhalb des angloamerikansichen Raums lange Zeit so schwer hatten, sich durchzusetzen.

Viele Artikel in diesem Buch sind hochspannend zu lesen, so Wolfgang Boders Manifest einer homoerotischen Beziehung (über die erste Sinfonie des Spohr-Schülers Hugo Straehle), der Vergleich der sinfonischen Dichtungen der beiden wohl sehr ineinander verliebten Freunde Clement Harris und Siegfried Wagner durch Katharina Hottmann, die Abhandlung von Jürgen Schaarwächter über den Fall Robert Oboussier, dessen Tilgung aus dem musikalischen Gedächtnis der Schweiz bis heute eine Schande ist. Auch interessant die Ausführungen über Alban Bergs schillernde lesbische Schwester und Musikerin Smaragda Eger-Berg, verfasst von Anna Ricke, und ganz besonders erwähnenswert die beiden Aufsätze über die lesbische Komponistin und Kämpferin für die Frauenrechte Ethel Smyths, deren Opern sich  zu Unrecht noch immer in einem Dornröschenschlaf befinden (Autorinnen: Angelika Silberbauer und Cornelia Bartsch). Schwierig und entbehrlich scheinen mir die langatmigen Beiträge von Dieter Ingenschey Manierismus und (Neo-) Barock in den lateinamerikansischen Schwulenliteraturen und besonders Bernd Feuchtners Fleissarbeit War Adorno homophob? Die Fehde mit Golo Mann und ihr Nachhall zu sein. Diese beiden Arbeiten haben nicht gerade viel mit Musik zu tun und sind zudem nur schwer lesbar.

Insgesamt ist den beiden Herausgeber*innen aber eine sehr interessante und zum Weiterdenken anregende Zusammenstellung von Essays zum Thema Musik und Homosexualitäten gelungen, die auch neugierig macht auf vom heterosexuellen Narrativ (bewusst?) vergessene Werke von Komponisten und Komponistinnen.

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