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Winterthur, Stadtkirche: MATTHÄUS-PASSION, 21.03.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Matthäus-Passion

Bilder: K.Sannemann, 21.3.2024

Prominent besetzt mit Ian Bostridge, Ann Hallenberg, Benjamin Bruns, Simon Keenlyside u.a. unter der Leitung von Roberto González-Monjas und dem Musikkollegium Winterthur

Musik: Johann Sebastian Bach | Text nach dem Matthäus Evangelium und ergänzt mit Passionschorälen und Texten von Christian Friedrich Henrici (Picander) | Uraufführung: 11. April 1927 in der Thomaskirche zu Leipzig | Aufführungen in Winterthur: 2.3. | 22.3. 2024

Kritik:

PASSION - CON PASSIONE

Ich muss gestehen: Für mich hatte Bachs monumentale MATTHÄUS - PASSION immer etwas Erhabenes, berührend Tröstliches, Sakrales. Was ich nun gestern Abend in der Stadtkirche Winterthur erleben durfte, entsprach diesen Hörerwartungen keinster Weise. Da wurde - vor allem bei den Solist*innen - eine Leidenschaft offenbar, die wahrlich intensives Mitleiden schaffte. So wurde die Passion zum Oratorium und führte von da aus oftmals in die Nähe der Oper. Ganz besonders herausgestrichen hat diesen dramatischen Zugang zum Werk Ian Bostridge als Evangelist. Das war bei weitem nicht der neutral erzählende Chronist der Ereignisse, nein, Bostridge interpretierte die Partie als stark Partei ergreifender, leidenschaftlicher Berichterstatter der Ereignisse rund um den Leidensweg Jesu. Er geriet durch diesen Interpretationsansatz ganz nahe zur Oper, stellte oftmals Ausdrucksstärke vor Stimmschönheit. Neben innigen Phrasen in reinster Pianokultur waren da exaltierte Ausbrüche des Entsetzens und der Verurteilung von obrigkeitlichem Handeln zu vernehmen, die oftmals an die Schmerzgrenze des Ohres und zu Lasten der Intonationsgenauigkeit gingen. Aber nichtsdestotrotz eine beeindruckende, und in ihrer dramatischen Art packende Leistung des britischen Sängers und ein wirkungsvoller Kontrast zu Jesus. Den interpretierte Jonas Müller mit wunderbar rundem, ja geradezu balsamischem Bariton aus der Mitte des Orchesters heraus - er war der einzige Solist, der ohne Klavierauszug sang, eine Ruhe, eine Wärme und eine Zuversicht verbreitete, die echt zu berühren vermochte. Die Arien für Altstimme gestaltete Ann Hallenberg mit zu Herzen gehender Innigkeit, vor allem  Können Tränen meiner Wangen, das Rezitativ Ach Golgatha, unselges Golgatha und die nachfolgende Arie mit Chor machten Eindruck. Joanne Lunn sang die Sopranarien mit großer, zwar stilistisch gekonnt vibratoarmer Stimme, und doch war sie an gewissen Stellen zu laut - was wiederum ins opernhafte Gesamtkonzept passte. Groß trumpfte auch Benjamin Bruns in den Tenorarien auf: Eine wunderbar sicher und bruchlos geführte Stimme mit müheloser Höhe und einnehmendem Schmelz, von der Lautstärkendynamik her sehr gut zur Sopranistin passend. Gerade  in der Arie Oh Schmerz machte er mit heldentenoralem Aplomb großen Eindruck. In den Bassarien vermochte Simon Keenleyside mit sicherer Stimmführung, perfekter Diktion und ausdrucksstarker Wärme des Klangs zu beeindrucken. Gerne will ich mich bequemenGebt mir meinen Jesu wieder und Komm süßes Kreuz gerieten zu stimmlichen Höhepunkten des Abends. Mit wunderschön intonierten und perfekt phrasierten solistischen Arienbegleitungen, sowie innig gespielten Vor und Nachspielen setzten die Musiker*innen des Musikkollegiums Winterthur feinfühlige und subtile Akzente und rückten den zeitweilig sehr vordergründigen Gesang der Solist*innen in ein anders Licht, verliehen der Musik Bachs die unerlässliche Tiefe des Ausdrucks. Den Chorälen wurden die Sänger*innen der Zürcher Sing-Akademie mit stupender, vielschichtiger Dynamik und feinstem Wohlklang mehr als gerecht. Nicht vergessen werden zu erwähnen sind die exzellenten und sehr präsenten Chorsolist*innen der Zürcher Sing-Akademie, welche von Markus Utz einstudiert worden war. Der auf zwei Chöre aufgeteilte Chor entsprach auch der Aufteilung auf zwei Orchester auf dem Podium, in dessen Zentrum eben der großartige Jesus von Jonas Müller eine imponerende Figur abgab. Einen wirkungsvollen Akzent setzte die Aufführung mit dem Einsatz des Ripieno-Chors (Junge Stimmen des Konservatoriums Winterthur, einstudiert von Philipp Klahm) im Teil vor der Pause.

Die Gesamtleitung wurde von der sublimen Art des Dirigierens durch Roberto González Monjas geprägt, der es verstand, der Partitur Größe, Trost UND Dramatik zu verleihen. Es war ein rundum packendes Konzert, zum Teil vielleicht an gewissen Stellen für einige Zuhörer*innen und durch einige Solisten zu opernhafte realistisch geprägt, aber nie fade oder behäbig. Am Ende, zum Schlusschoral Wir setzen uns mit Tränen nieder, bewegten sich nacheinander alle Solist*innen nach vorne und ließen sich zum Fuss der Stufen des Podiums nieder. Jesus erhob sich im stimmungsvollen, violetten Licht, mit dem die Stadtkirche ausgeleuchtet war, erneut aus der Mitte des Orchesters. Er ist auferstanden -  Bach goes Opera!

Werk:

Johann Sebastian Bachs (1685-1750) MATTHÄUS-PASSION ist in ihren Ausmassen und ihrer Bedeutung im abendländischen sakralen Musikschaffen ein beispielloser Höhepunkt der Kompositionskunst und vermag nicht nur gläubige Protestanten in ihren Bann zu ziehen, sondern spricht in ihrem tief empfundenen Ausdruck des Leidens, der Trauer und der Hoffnung viele Menschen ganz direkt an, egal ob sie sich einer Religionsrichtung zugehörig fühlen oder nicht. Nur schon die Besetzung, welche Bach vorsah, ist beeindruckend: Zwei Chöre, zwei Orchester und Solisten. Die doppelchörige Konzeption kommt in über der Hälfte aller Nummern zum Ausdruck, sie stellt quasi einen Dialog zwischen der „Tochter Zion“ und den Gläubigen dar. Die polyphone Vielschichtigkeit der musikalischen Sprache stellt selbst die damalige Barockoper in den Schatten. Der eindringiche Eingangschor öffnet das Tor zu einem Werk von geradezu monumentalem Charakter, das darob aber nie den Kern der Aussage aus den Augen verliert. Nach Bachs Tod geriet das Werk vorübergehend in Vergessenheit. Erst eine Aufführung durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 leitete eine Bach-Renaissance ein.

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