St.Gallen: NORMA, 12.03.2016
Tragische Oper in zwei Akten | Musik: Vincenzo Bellini | Libretto: Felice Romani | Uraufführung: 26. Dezember 1831 in Mailand | Aufführungen in St.Gallen: 12.3. | 16.3. | 29.3. | 1.4. | 9.4. | 15.4. | 21.4. | 22.5.2016
Kritik:
„Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.“, schrieb Vincenzo Bellini in einem Brief an Conte Carlo Pepoli. Und genau dies hat die Aufführung von Bellinis NORMA in St.Gallen auf geradezu exemplarische Art und Weise erreicht. Es sind nicht Tränen der oberflächlichen, kitschigen Rührung, die man hier vergiesst, sondern Tränen tiefer Ergriffenheit. Einer Ergriffenheit, die sich einstellte, weil die Protagonisten auf der Bühne es verstanden haben, durch ihren ausdrucksstarken Gesang, ihre Gestik und Mimik Saiten der Seele zum Schwingen zu bringen, bewegende Einblicke in psychische Zerrissenheit und Gefühlsstrudel zu vermitteln. Natürlich stehen bei dieser Oper die beiden um die Zuneigung Polliones kämpfenden Frauen im Mittelpunkt des Interesses sowohl des Komponisten als auch des Zuhörers. Mit der Besetzung dieser beiden Partien steht und fällt eine Inszenierung der NORMA. Hier nun kann St.Gallen mit überragenden Rollendebütantinnen aufwarten. Sowohl Yolanda Auyanet als Oberpriesterin Noma als auch Alessandra Volpe als junge Novizin Adalgisa füllen ihre dankbaren Partien mit purem, emotional fantastisch angereicherten Schöngesang. Die langen Melodiebögen Bellinis wirken bei den beiden in keinem Moment wie leere Hüllen, da ist jede Wendung, jede Fioritur, jede Kantilene erfüllt von tief verstandener Empfindsamkeit. So geraten die ausladenden Duette der beiden Frauen im ersten und im zweiten Akt zu berührenden vokalen Höhepunkten eines beglückenden Opernabends. Yolanda Auyanet steht die Gewaltspartie der Norma mit einer unvergleichlichen Kraft und Intensität durch, die man so noch selten erlebt hat. Vom langen Rezitativ vor der Auftrittskavatine, der empfindsam gesungenen Preghiera Casta Diva, über die nachfolgende Kabaletta, den wechselvollen, so wunderschön intonierten Zwiesprachen mit Adalgisa, dem mitreissenden Terzett am Ende des ersten Aktes, dem abgebrochenen Kindesmord, bis zum finalen Duett mit Pollione (In mia man al fin tu sei) und der Bitte, ihre Kinder nicht Opfer der Taten ihrer Mutter werden zu lassen, zeichnet Yolanda Auyanet ein differenziertes Seelengemälde dieser zwischen Liebe und Verrat am eigenen Volk zerrissenen Frau. Doch auch die gnadenlosen Rachegedanken (Lo previen mia vendetta ...), welche diese Frau angesichts des Verrats Polliones heimsuchen, schleudert Yolanda Auyanet mit Gänsehaut erregender Kraft in die Runde. Die Adalgisa von Alessandra Volpe steht ihr in Ausdrucksnuancen in nichts nach: Herrlich dunkel timbriert die Stimme, dem Text durch den Gesang auf grandiose Art die zusätzliche interpretatorische Ebene verleihend, auch sie verzweifelt agierend und leidend zwischen erotischer Anziehung und selbstanklägerischen Gewissensbissen. Alessandra Volpe besitzt eine überaus direkt ansprechende, kraftvolle Stimme, verfügt über eine ungefährdete, klangstarke Höhe und eine fantastische Präsenz in der Tiefe, bruchlos und mit wunderschönem Legato die Lagen verbindend, dabei stets die Agilität der Belcanto Sängerin beibehaltend. Herzerweichend vereinen sich die beiden so sauber und schön geführten Stimmen von Auyanet und Volpe zum Duett Mira, o Norma im zweiten Akt. Das Objekt der Begierde der beiden Frauen, der römische Prokonsul Pollione, ist nicht unbedingt ein Sympathieträger. Und doch macht Martin Muehle auch die gefühlsmässige Zerrissenheit dieses trieb- und testosterongesteuerten Mannes deutlich und nachvollziehbar. Man(n) kann doch auch zwei Menschen gleichzeitig lieben. Martin Muehle hat (neben seiner blendenden Erscheinung) auch stimmlich Verführerisches und Betörendes zu bieten. Sein Pollione klingt viril, stark, höhensicher und markant. Sicher, er ist ein Macho, neigt zu Wutausbrüchen bis zu körperlicher Gewaltbereitschaft gegenüber den Frauen, wenn sie ihm nicht gerade wie gewollt zur Verfügung stehen. Am Ende schimmert aber auch bei ihm die Verletzlichkeit (und die immer noch andauernde Leidenschaft Norma gegenüber) durch – und Martin Muehle versteht es ausgezeichnet, diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Gefühle zu transportieren. Levente Páll ist ein ungewohnt jugendlich aussehender Oroveso, doch seine herrlich raumfüllende, autoritätsgebietende Bassstimme verströmt einen einnehmenden Wohlklang. Aufhorchen lässt einmal mehr das schöne, helle und doch männliche Timbre des Tenors Nik Kevin Koch in der leider von Bellini etwas zu klein gehaltenen Rolle des Flavio. Ganz stark auch die Auftritte von Manuela Iacob Bühlmann als Normas Vertraute Clotilde. Diese Rolle wird zum Glück vom Regisseur stark aufgewertet: Im Schlussbild verstösst sie die beiden Kinder Normas, um die sie sich vorher so einfühlsam gekümmert hatte. Auch sie beugt sich, wie alle Frauen der Gallier, dem gesellschaftlichen Druck, der von den Männern ausgeübt und eingefordert wird. Eindringlich auch die grandiose Bühnenpräsenz der beiden Kinder, welche in dieser Inszenierung nicht nur dekorative Subjekte darstellen (wie so oft), sondern zu wichtigen Trägern der Handlung aufgewertet werden. Leonie Martel und Nando Kuhn stellen diese stummen Rollen mit überaus anrührender Intensität dar.
Giampaolo Bisanti und das wunderschön aufspielende Sinfonieorchester St.Gallen lassen durch zügige, aber nicht überhastete Tempi vergessen, dass Bellini nicht als der inspirierteste Meister der Behandlung des Orchesterapparates gilt. Farbenreich und transparent erklingen die filigranen Begleitfiguren, wunderschön leuchten die Kantilenen der Holzbläser. Bisante versteht es ausgezeichnet, den Fluss aufrecht zu erhalten, die wenigen martialischen Teile organisch in die lyrischeren zu integrieren, und auch der aufschimmernden Mystik Raum zu geben. Prägnant und klangschön meistert der Opernchor St.Gallen seine Auftritte (Einstudierung: Michael Vogel).
Bellinis Oper (entstanden 1831) gilt auch als ein Werk des Risorgimento, des beginnenden Aufstandes der italienischen Bevölkerung im von verschiedenen Mächten besetzten Italien. Während der Norden von den Habsburgern und der Süden von den spanischen Bourbonen fremd beherrscht wurde, spielte auch der Kirchenstaat der Päpste in der Mitte eine unrühmliche Rolle, indem er die restaurativen Tendenzen der Grossmächte und deren Besatzungspolitik unterstützte. Und genau in dieser Entstehungszeit der Oper bringt das Inszenierungsteam (Regie: Nicola Berloffa, Bühne: Andrea Belli, Kostüme: Valeria Donata Bettella, Licht: Marco Giusti) das Werk auf die Bühne des Theaters St.Gallen. Wir befinden uns hier in der Halle eines vom Krieg zerstörten Palazzos (für die intimeren Szenen wird ein relativ unversehrter Raum ins Bühnenbild gestellt). Kostbar und mit eindringlicher Farbdramaturgie (kaltes Blau für Norma im zweiten Bild, warmes Rot für die erwachende Leidenschaft Adalgisas) warten die herrlich gearbeiteten Kostüme aus der Zeit des Vormärz auf, eindringlich gelingt dem Regisseur (und natürlich den Akteuren) die Personenführung, das Herausarbeiten der Gefühlsschwankungen, die Einblicke in seelische Befindlichkeiten. Ganz stark dann das Ende: Norma und Pollione ist hier nicht der gemeinsame Gang auf den Scheiterhaufen vergönnt. Norma wird auf der Grabesplatte von ihren Leidensgenossinnen (den Witwen in Trauerkleidung) erstochen, Pollione von Orovesos Schwertstoss hingerichtet. Die beiden Kinder werden getrennt, die Tochter wird das Schicksal aller Frauen erleiden, der Sohn wird von den kriegsgeilen Männern vereinnahmt. Die musikalische Kulmination des Finales fährt genauso unter die Haut wie die szenische: Das Ende eines fulminanten Opernabends, der nicht nur rührte, sondern eben am Ende eben, wie von Bellini gewünscht, auch schaudern machte und in stürmischen Applaus des Premierenpublikums für alle Ausführenden mündete.
Inhalt:
Die gallische Druidenpriesterin Norma hat heimlich ein Verhältnis mit dem Anführer der römischen Besatzer, Pollione, mit dem sie auch bereits zwei gemeinsame Kinder hat. Pollione ist ihrer aber längst überdrüssig geworden und hat mit der Novizin und Vertrauten Normas, Adalgisa, angebandelt. Die Gallier erwarten von der Priesterin, dass sie zum Kampf gegen die Römer aufruft. Doch Norma interpretiert die Göttin Irminsul so, dass die Zeit dafür noch nicht reif sei. Am ende des ersten Aktes kommt es auf privater Ebene zum Showdown: Norma erfährt vom Verhältinis ihres Geliebten mit Adalgisa und schwört Rache. Dazu will sie ihre Kinder töten (gleich einer Medea). Doch die Mutterliebe siegt hier, im Gegensatz zur griechischen Tragödie. Stattdessen will sie, dass Adalgisa zusammen mit Pollione und den Kindern nach Rom flüchtet. Doch Adalgisa ihrerseits will Norma und Pollione wieder vereinen. Pollione lehnt dies ab. Norma gibt das Zeichen zum Kampf gegen die Römer, Pollione wird gefangengenommen. Noch immer weigert sich Pollione, Adalgisa zu entsagen. Norma lässt einen Scheiterhaufen errichten, auf dem eine Priesterin verbrannt werden soll, die das Keuschheitsgelübde gebrochen habe. Als sie nach dem Namen der Sünderin gefragt wird, nennt sie ihren eigenen Namen, vertraut ihre Kinder dem Schutz des Oberpriesters (und ihres Vaters) Oroveso an und schreitet in den Verbrennungstod. Überwältigt von soviel Grossmut und Entsagung folgt ihr Pollione.
Werk:
Vincenzo Bellini wurde nur 34 Jahre alt. Von seinen zehn Bühnenwerken werden sechs mehr oder weniger regelmässig gespielt. Die bekanntesten neben der NORMA sind I PURITANI, LA SONNAMBULA, I CAPULETI E I MONTECCHI, BEATRICE DI TENDA und IL PIRATA. Bellini gilt als Schöpfer der „Melodie lungh, lunghe, lunghe“ wie Verdi sie nannte. Die Orchesterbesetzung ist z.B. gegenüber Rossini zurückgenommen, um den Gesangslinien und den Texten mehr Gewicht zu geben. NORMA, sein berühmtestes Werk, enthält Elemente der Schauerromatik und des griechischen Dramas. Die Hauptpartie gehört zu den schwierigsten des gesamten Belcanto Repertoires, erfordert sie doch sowohl dramatische Durchschlagskraft als auch die Kunstfertigkeit der geläufigen Verzierungen und ausgesprochen empfindsam zu singenden, langen Kantilenen. Die Partie gilt seit Giuditta Pasta (Sängerin der Uraufführung) und Maria Malibran als DIE Primadonnen-Oper schlechthin. Maria Callas setzte im 20. Jahrhundert diese Tradition fort, gefolgt von Joan Sutherland, Renata Scotto, Montserrat Caballé, Margaret Price, Mariella Devia und Edita Gruberova. Aber auch die Partie der Gegenspielerin Adalgisa ist äusserst dankbar – und wenn die beiden Frauen mit hervorragenden Stimmen besetzt sind, ist Gänsehaut garantiert.
Von NORMA existiert auch eine quellenkritische Neuausgabe (Maurizio Biondi und Riccardo Minasi), welche von Cecilia Bartoli in Salzburg (mit ihr in der Titelpartie) vorgestellt wurde. Diese hochgelobte Produktion war auch in Zürich zu sehen und wird in Monte Carlo gastieren. Es scheint also auch möglich, die Norma mit einem Mezzosopran und die Adalgisa mit einem leichten sopran zu besetzen. Durchgesetzt hat sich diese "Urfassung" noch nicht.
Musikalische Höhepunkte:
Casta diva, Cavatine der Norma, Akt I
Oh, rimembranza, Norma-Adalgisa, Akt I
No, non tremare, o perfido, Terzett Norma-Adalgisa-Pollione, Akt I
Mira o Norma, Duett Norma-Adalgisa, Akt II
In mia man alfin tu sei, Duett Norma-Pollione, Akt II
Deh, non volerli vittime, Finale Akt II