Berlin, Komische Oper: DER FEURIGE ENGEL, 10.01.2016
Oper in fünf Akten | Musik: Sergej Prokofjew | Libretto: vom Komponisten, nach Valeri Brjussow | Uraufführung: 5. November 1954 in Paris (konzertant), 29. September 1955 in Venedig (szenisch) | Aufführungen dieser Wiederaufnahme in Berlin: 10.12. | 16.12. | 22.12. 2015 | 2.1. | 10.1.2016
Kritik:
Prokofiews noch immer viel zu selten gespielte Oper DER FEURIGE ENGEL in der Komischen Oper Berlin - das bedeutet zwei pausenlose Stunden intensivster Spannung, packende Musik aus dem Graben, eine geradlinige, schnörkellose und stringente szenische Realisierung und eine überragende Besetzung mit exzellenten InterpretInnen.
Svetlana Sozdateleva als vom Dämon Madiel besessene Renata verfügt über eine grandiose Stimme: Zwar durchschlagskräftig und über schier unendlichen Kraftreserven verfügend, und doch mit der notwendigen Sensibilität eingesetzt, nie ins gellend Hysterische abgleitend, kontrolliert und doch mit bezwingender Intensität in ihren Monologen. Dazu gesellt sich eine darstellerische Präsenz, welche die unheimliche, beängstigende Obsession glaubhaft über die Rampe bringt. Eine Obsession, welche ihren Ursprung wohl im dezent (durch Vervielfachung der Figur) angedeuteten Missbrauch als kleines Mädchen hatte. Damit wurde sie der Möglichkeit beraubt erwachsen zu werden, sucht immer noch Zuflucht im pinkfarbenen Lolita-Kleidchen, ihr damaliger „Erzieher“ Heinrich beherrscht ihren Geist nach wie vor, sie kann sich von ihm nicht lösen, auch ihre sexuelles Begehren ist auf ihn, den feurigen Engel, fixiert. So ist es nur schlüssig, dass er es dann am Ende auch ist, der in der Gestalt des Inquisitors wieder auftaucht (Jens Larsen singt und spielt das mit seinem voluminösen Bass großartig). Doch Renata entreißt ihm den Benzinkanister, übergießt sich selbst mit dem Inhalt und erlöst und emanzipiert sich durch diesen Suizid von der teuflischen Besessenheit – ein starkes Ende eines nicht minder starken Abends. Fantastisch auch die Interpretation des Ruprecht durch den Bariton Evez Abdulla, dieses Getreuen, der in einem Hotel zufällig als Zimmernachbar in den Bann der Renata gerät und sie auf diesem Höllentrip begleitet. Auf diesem Passionsweg begegnen sie auch einem desillusionierten, passiven Faust (Alexey Antonov), einem hämisch grotesk agierenden Mephistopheles (Sergej Khomov mit grandios schneidendem Tenor), dem zwielichtigen Buchhändler Glock und dem Magier Agrippa von Nettesheim (beide prägnant dargestellt und gesungen von Christoph Späth) und einer Wahrsagerin (Xenia Vyaznikova, welche ihre hochinteressant timbrierte Altstimme auch der Äbtissin leiht). Als Wirtin und Wirt/Knecht haben Christiane Oertel und Hans-Peter Scheidegger einen starken Auftritt.
Henrik Nánási am Pult des mit begeisternden Klangfarben spielenden Orchesters der Komischen Oper Berlin schält die lautmalerischen Aspekte der Partitur, das Gleissende und das Groteske, aber auch das schon beinahe Filmische und Übersinnliche gekonnt heraus, lässt das Orchester insbesondere natürlich bei den mitreißenden orchestralen Zwischenspielen herrlich aufpeitschend aufblühen.
Johannes Schütz hat die sich unermüdlich drehende Bühne mit flexibel versetzbaren grauen Wandelementen ausgestattet. So schafft er es gekonnt, die Illusion des Unentrinnbaren, des Schwindels zu evozieren und schnelle Veränderungen der Schauplätze und Handlungsorte zu realisieren, vom Hotel über Straßenszenen zum Wirtshaus, zu Heinrichs Schloss, zu den Klosterzellen. Victoria Behr hat die Menschen auf der Bühne in heutige Kostüme gesteckt, viel Rosa und Flieder für Renata, Gelb für die Ordenstracht der Nonnen, Grau für die Anzüge von Faust und Mephisto, warmes Orange-Braun für Ruprecht. Wenn Renatas sexuelles Begehren nach dem feurigen Engel überhandnimmt, entledigt sie sich jeweils ihres Lolita-Kleides, windet sich im Spagetti-Träger Unterrock, genau wie die von ihr „infizierten“ Nonnen im Kloster. Ohne dieses seidene Dessous scheint in heutigen Inszenierungen kaum eine weibliche Frauengestalt auf der Opernbühne - von Violetta über Carmen zu Salome und Katerina Ismailowa - mehr auszukommen ... .
Dem Regisseur Benedict Andrews gelingt eine starke Personenführung und eindringliche Charakterisierung der Protagonisten. Gekonnt, aber unaufdringlich, spielt er mit Assoziationen an Filme (Friedkins THE EXORCIST, Donners THE OMEN) und mysteriöse TV – Serien (TWIN PEAKS). Besonders hervorzuheben ist auch die faszinierende und die Intentionen der Regie beeindruckend unterstützende Lichtdramaturgie von Diego Leetz.
Inhalt:
Renata übernachtet in einem Gasthaus. Der Zimmernachbar Ruprecht kriegt ihre Wahnvorstellungen mit, bricht die Tür zu Renatas Zimmer auf und versucht, die Dämonen zu vertreiben. Renata berichtet ihm, dass sie schon seit frühester Jugend von Erscheinungen heimgesucht werde, welche sich in Form eines feurigen Engels manifestierten, der sich Madiel nenne. Sie soll eine Art „Erwählte“ sein. Als sie sich in der Adoleszenz auch körperlich mit dem Engel vereinen wollte, verschwand er, tauchte aber in der Gestalt des Grafen Heinrich wieder auf. Diesen will will Renata nun wieder finden, nachdem Heinrich sie einst ebenfalls verlassen hatte. Ruprecht will ihr bei der Suche helfen und hofft damit, Renatas Gunst früher oder später zu erringen. Sie suchen in Büchern und mit dem Studium dubioser Schriften nach Möglichkeiten, den dämonischen Liebhaber zu finden. Auch vor dem Wahrsager und Magier Agrippa von Nettesheim schrecken sie nicht zurück. Renata glaubt Heinrich auf der Strasse erkannt zu haben, dieser beachtet sie jedoch nicht. Renata überredet Ruprecht dazu, sich mit Heinrich zu duellieren. Dabei wird Ruprecht schwer verwundet. Sein Geist verwirrt sich danach vorübergehend, er hält Renata für den Teufel. Nach seiner Genesung will er Renata dazu überreden, mit ihm nach Amerika zu ziehen. In einer Taverne setzen sich Faust und Mephisto zu Ruprecht und philosophieren über das Menschenbild. Renata hat sich unterdessen in ein Kloster zurückgezogen. Doch die bösen Geister hat sie nicht vor den Pforten zurückgelassen, im Gegenteil, sie verursacht unter den Nonnen Aufruhr und Teufelsanbetung. Der herbeigerufene Inquisitor verurteilt Renata zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Ruprecht kann nur hilflos zuschauen, da er von Mephisto am Eingreifen gehindert wird.
Werk:
Bereits im Jahr 1919 befasste sich Prokofiew mit der Vertonung von Brjussows symbolistischem Roman. Zusätzliche Inspirationen erhielt er durch den Besuch des Klosters Ettal und der Oberammergauer Passionsspiele. Der Klavierauszug war vier Jahre später vollendet, doch eine Aufführung des Werks zeichnete sich nicht ab. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion zerschlugen sich die Pläne, die Oper zur Uraufführung zu bringen, vollends, da der Inhalt von den stalinistischen Kulturzensoren als dekadent bezeichnet wurde und die Oper auf den Index der verbotenen Werke gesetzt wurde. Musikalische Motive aus der Oper verarbeitete Prokofiew deshalb in seiner dritten Sinfonie. Erst nach Prokofiews Tod erlebte die Oper erst ihre konzertante und ein Jahr später die szenische Uraufführung. Sie wurde von einigen Bühnen nachgespielt, geriet dann eher wieder in Vergessenheit, um nun erneut eine kleine (und wohlverdiente) Renaissance zu erleben. Prokofiew komponierte die vokale Linie eng an die Deklamation der russischen Sprache angelehnt, findet aber immer wieder zu weit ausschweifender Melodieführung und weist dem Orchester eine grosse Bedeutung zu.